9punkt - Die Debattenrundschau

Eine zweite Kopernikanische Wende

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2023. In der SZ setzt Bernard-Henri Lévy seine ganze Hoffnung auf die israelische Zivilgesellschaft, die autokratischen Pläne Netanjahus im Zaum zu halten. Aber die Deutschen müssen sie dabei unterstützen, fordert die taz. Während dessen sitzen die Autokraten im übrigen Nahen Osten fester im Sattel denn je, beobachtet die FAZ. "Wandel durch Handel funktioniert auch in China nicht", warnt in der NZZ der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu den Westen. Im Tagesspiegel fordert die amerikanische Journalistin Nikole Hannah-Jones Reparationszahlungen für die Nachfahren der amerikanischen Sklaverei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2023 finden Sie hier

Politik

Im Konflikt mit der Regierung Netanjahu setzt in der SZ der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy seine ganze Hoffnung auf die israelische Zivilgesellschaft: Da sind "diese Hunderttausende Israelis, die auf die Straße gehen, um daran zu erinnern, dass ihre Väter und Großväter ein Volk befreit haben, das bis dahin schutzlos den Winden des Himmels und den Pfeilen der Menschen ausgeliefert war - und dass sie sich nicht geopfert haben, damit das Abenteuer mit diesen Karikaturen des jüdischen Genies endet, die die heutigen 'religiösen Parteien' sind. In diesem Widerstand wohnt der Geist des Zionismus. Diese großartige Zivilgesellschaft bildet das schlagende Herz Israels. Und es sind diese lebendigen Kräfte, die Juden und ihre Freunde um jeden Preis fördern müssen, überall."

Aber ohne die Deutschen wird das nichts. "Die prodemokratische Bewegung in Israel erwartet von Deutschland ein Signal des Beistands", glaubt Charlotte Wiedemann in der taz. "Darüber sollte der Bundestag debattieren, ohne Fraktionszwang und jenseits üblicher Floskelstarre. Oder ist die moralische Trägheit zu groß, um zum Thema deutsche Verantwortung einmal eigene, frische Gedanken zu formulieren? In der Zivilgesellschaft gibt es genug antifaschistisch motivierte Kräfte, um eine solche Debatte einzufordern. Das deutsche Schweigen als Antwort auf die Rufe aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem ist beschämend."

Im übrigen Nahen Osten sitzen derweil die Autokraten fester im Sattel denn je. Saudi Arabien arbeitet mit viel Elan daran, Syriens Schlächter Assad zu rehabilitieren, berichtet Christoph Ehrhardt in der FAZ. Der wurde kürzlich auch in Moskau feierlicher empfangen als sonst. Und auch mit dem Iran hat Saudi Arabien unter dem Einfluss Chinas wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. "Nicht nur gerät die arabische 'Achse des Autoritären' durch die saudisch-iranische Annäherung stärker unter den Einfluss Chinas. Überhaupt dient die Tauwetterstimmung am Golf vor allem dem Erhalt autokratischer Regime. Sowohl Saudi-Arabien als auch seinem Rivalen Iran geht es nicht zuletzt darum, das eigene Herrschaftssystem zu stützen. ... Nicht von ungefähr wird gerade am Golf immer wieder die 'Stabilität' beschworen, damit die arabischen Monarchen den Beweis antreten können, dass ihre Staatsmodelle mit einer effektiven Verwaltung, aber ohne Freiheitsrechte Modelle für die Zukunft sind."

Im Irak soll der Alkoholverkauf verboten werden, berichtet Lisa Schneider in der taz. "Die Winzer und Arrakproduzenten, fast alle sitzen in der Autonomen Republik Kurdistan, müssten die Produktion herunterfahren. 'Der Irak ist kein muslimisches Land', sagt [der Alkoholshop-Besitzer] Elias, der selbst Christ ist. Doch die Regierung, meinen viele, versuche es langsam in ein solches zu verwandeln. Muslime, egal ob Sunniten oder Schiiten, dürfen im Irak grundsätzlich keinen Alkohol verkaufen. Die Alkoholshops sowie Restaurants und Bars, die ausschenken, sind im Besitz von Christen und Jesiden. Auch der Inhaber des Shops, in dem Elias arbeitet, ist Christ." Elias glaubt nicht, dass das Verbot Bestand haben wird, aber sicher ist das nicht, fürchtet der Restaurantbesitzer Adam: "Dass das Gesetz, das Alkohol verbietet, der islamischen Pietät des Landes dienen soll, glauben weder Adam noch Elias. Im Gegenteil: Alkohol werde verboten, um den Drogenkonsum der Menschen zu fördern, sagen beide. Die schiitischen Milizen, sagen sie, verdienten mit der Herstellung sowie dem Import billiger, vor allem chemischer Drogen aus dem Iran gut Geld. Auch andere Iraker, auf das Alkoholverbot angesprochen, teilen ihre Theorie."

"Wandel durch Handel funktioniert auch in China nicht", warnt der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu den Westen, dem er im NZZ-Gespräch mit Roman Bucheli vorwirft, aus Gier politische Gefahren zu ignorieren: "Die kommunistisch regierten Länder rücken nicht von ihrer Überzeugung ab, dass der Kommunismus auf der ganzen Welt siegen soll." Dass China als Friedensvermittler im Krieg gegen die Ukraine auftritt, findet er lächerlich: "Ich denke, Xi unterstützt Putin nicht aus Überzeugung, sondern lediglich aus einem eigennützigen Kalkül. Ob China Taiwan überfällt, hängt sehr vom Ergebnis des Ukraine-Krieges ab. Sollte Putin den Krieg verlieren, würde Xi vermutlich genau überlegen, ob es klug ist, Taiwan anzugreifen. Gefährlich wird es, wenn sich der Krieg in die Länge zieht und das die westlichen Gesellschaften in einem Maß zermürbt, dass man mit einer Verhandlungslösung das Problem aus der Welt schaffen will. Dann könnte Xi zu dem Schluss kommen, dass sich die westliche Welt nicht getraut, richtig mitzukämpfen. Das könnte ihn ermutigen, Taiwan anzugreifen."

Auch der Politologe Jan-Werner Müller bekräftigt im Welt-Gespräch, dass auch "Wandel durch Handel" die Menschenrechte beachten muss: "Ein Ignorieren von politischen Prinzipien im Namen von Realismus kann auch machtpolitisch ein Fehler sein. Das immer bemühtere Ignorieren des wahren Charakters von Putins Regime - so ist nicht erst im Nachhinein klar geworden - war ja wohl auch aus machtpolitischer Perspektive keineswegs klug. Man sollte also versuchen, Spielräume auszuloten, auch kritische Worte anbringen, anstatt von vornherein zu sagen, die Zwänge seien jetzt so groß, dass wir Minderheitenrechte, Pressefreiheit etc. gar nicht erst ansprechen. Diese vermeintliche Neutralität ist zudem nicht wirklich neutral, sondern de facto ein Im-Stich-Lassen derjenigen, die in manchen Ländern enorm unter Druck stehen. Wer 2011 nichts zu Rechtsstaat und Demokratie in Ungarn gesagt hat, hat sich auch schon nicht neutral verhalten, sondern zugegeben, dass all unsere Sonntagsreden über die EU, die auch Werte schützt, eigentlich hohl waren."
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Geschichte

Die Menschen haben bis heute nicht verstanden, wie sehr die Sklaverei grundlegende Institutionen geprägt hat und unsere Gesellschaft bis heute formt, meint die amerikanische Journalistin Nikole Hannah-Jones im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Deshalb fordert sie in in ihrem Buchprojekt "1619", das Jahr der ersten Ankunft des ersten Sklavenschiffes in Nordamerika solle als ebenso wichtig für Amerika erkannt werden wie 1776, das Jahr der Unabhängigkeitserklärung: "Das rassistische Element ist viel älter als die Gründung der Vereinigten Staaten und steckt wirklich tief drin in unserer Gesellschaft." Außerdem versucht sie Reparationszahlungen für die Nachfahren der amerikanischen Sklaverei zu erwirken: "Genealogisch dürfte das kein Problem sein und auch finanziell nicht. Wir sind ein sehr wohlhabendes Land, das allein 850 Milliarden Dollar für Rüstung ausgibt. Das größte Hindernis ist politisch! Die Leute glauben nicht, dass die Nachfahren der Sklaven Reparationen verdient haben."

Außerdem: Im FR-Gespräch mit Michael Hesse legt der Historiker Stephan Malinowski wie kürzlich in der FAZ (Unser Resümee) noch einmal dar, weshalb er glaubt, dass die Hohenzollern mit ihrer Klage ohnehin gescheitert wären.
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Ideen

Auf ZeitOnline fordert Georg Diez nicht weniger als eine zweite Kopernikanische Wende: Das Konzept der Welt, das auf Menschensicht beruht, müsse ersetzt werden durch jenes des Planetaren, dazu zitiert er aus dem 2020 erschienenen Buch "Planetary Politics" des italienischen Philosophen Lorenzo Marsili: "Die Nation, verstanden als Organisationsform für Politik und Rahmen für Rechtsstaatlichkeit, ist im Zeitalter von Pandemie, Klimakrise und global vernetzten Technologien ein Hindernis geworden, um die Probleme anzugehen, die Mensch und Planeten bedrohen. Eine planetare Politik brauche deshalb transnationale, 'rhizomatische Parteien', die die Logik der Nationalstaaten überwinden. Parteien etwa, die zwischen Europa und Afrika eine Einigung darüber herstellen, wie die Flüchtlingsströme und die Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten überhaupt geregelt werden sollten. Es würden hier keine nationalen Interessen mehr verhandelt, vertreten durch Regierungen der einen oder anderen politischen Richtung. Es würden vielmehr grenzüberschreitende Interessenskoalitionen gebildet, die gemeinsam Forderungen formulieren. Es wäre die Organisation einer 'planetaren Bevölkerung', wie Marsili es nennt."
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Internet

Michael Hanfeld hat sich für die FAZ eine Studie des Institute for Strategic Dialogue (ISD) und der Organisation CASM Technology über Twitter angesehen, die einen starken Anstieg antisemitischer Inhalte seit Elon Musks übernahme feststellt: Sie "zeigt in Einzelheiten, was geschieht, wenn eine digitale Plattform die Beobachtung hetzerischer Inhalte schleifen lässt: So habe sich die Zahl neuer antisemitischer Konten nach Musks Machtübernahme mehr als verdreifacht. Zwar scheine der Anteil antisemitischer Inhalte, die Twitter entfernte, seit Musks Antritt gestiegen zu sein. Doch habe dies 'nicht mit dem Anstieg der antisemitischen Inhalte insgesamt Schritt gehalten'." Eine Anfrage der Antisemitismusbeauftragten von Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, beantwortete die Presseabteilung von Twitter mit einem "Kackhäufchen-Emoji".
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Europa

"Frankreich gleicht dem Vereinigten Königreich vor dem Brexit und den USA vor der Wahl von Trump", schreibt Nils Minkmar in seinem SZ-Bericht zur desolaten Lage der französischen Nation. Paris versinkt in Müllbergen und immer mehr Städter setzen auf "regressive Revolution" - sie ziehen aufs Land: "Weg aus Paris, aus der digitalen Hölle und hin zu einem naturnahen und autonomen Leben in Handwerk und Landwirtschaft. Sie machen Käse, beleben alte Traditionen neu oder renovieren eine verlassene Dorfwirtschaft - so sehen die Heldinnen und Helden der französischen Gegenwart aus. (…) Allerdings begünstigen all diese kulturellen Trends - die Sehnsucht nach Ruhe und Stabilität, die Nostalgie nach einem undefinierten Früher und der Wunsch, sich vom Stress der internationalen Vergleiche in puncto Wachstum und Staatsschulden zu lösen - die extreme Rechte und deren Spitzenkandidatin Marine Le Pen. Sie muss nicht mehr agitieren, nicht mehr stören oder brüllen, sondern äußert sich nur noch in Zimmerlautstärke."

Der türkische Staatspräsident Erdogan tut alles, um die kommenden Wahlen zu gewinnen, fürchtet Bülent Mumay in der FAZ. Jetzt verbündet er sich sogar mit der HÜDA-PAR, dem politischen Arm der Terrororganisation Hizbullah, die für besonders brutale Morde in der Türkei verantwortlich ist. Freundschaftliche Beziehungen zu ihr pflegt Erdogan schon länger: "Mehr als hundert für brutale Morde verantwortliche Hizbullah-Mitglieder wurden 2011 freigelassen, weil die Verfahren angeblich zu lange dauerten. Dann wurde bekannt, dass vor den Kommunalwahlen 2019 auch die Terroristen, die mit 469 Patronen aus 16 Kalaschnikows den Polizeichef von Diyarbakır und seine fünf Bodyguards ermordet hatten, auf freien Fuß gesetzt worden waren. Erdoğan konnte nicht einmal stoppen, dass sogar die staatliche Religionsbehörde Diyanet zu bedenken gab: 'Die Hizbullah hat die Partei HÜDA-PAR gegründet, weil sie damit bessere Propagandamöglichkeiten hat. Die Partei verfügt über Gewaltpotential.' Um ein paar Tausend Stimmen mehr zu bekommen, hat Erdoğan die Partei der gewalttätigsten Organisation der türkischen Geschichte zu 'Freunden' erklärt."
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Wissenschaft

Thomas Thiel vertieft sich für die FAZ in Band 69 der "Jahrbücher für Geschichte Osteuropas", der sich der Frage widmet, warum die Ukraine als eigene Nation so lange von hiesigen Historikern ignoriert wurde. "Erhellend ist hier der Beitrag von Martin Schulze Wessel. Er führt die Berührungsängste im Umgang mit der analytischen (nicht normativen) Kategorie der Nation auf einen Doppelstandard unter Historikern zurück. Es werde mit zweierlei Maß gemessen: Die Nation werde in erster Linie als von Mythen zusammengehaltener Zwangsapparat wahrgenommen, das Imperium dagegen für seine erstaunliche Langlebigkeit und multikulturelle Integrationskraft gelobt. Das mag mit den historischen Bedingungen dieser Geschichtsschreibung selbst zusammenhängen, dem Aufschwung der Europäischen Union und der Aufgabe, eine Vielzahl von Ethnien im Osten politisch zu integrieren. Es unterschlägt aber, wie Frithjof Benjamin Schenk anmerkt, die Gewaltseite des (Sowjet-)Imperiums. Und führt dazu, wie Schulze Wessel anmerkt, dass die nationale Einheit der Ukraine bis heute besonders kritisch beäugt werde."
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