9punkt - Die Debattenrundschau

Grundrecht auf Verständlichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2023. Mit dem Krieg will Putin Europa in die vierziger Jahre zurückbomben, warnt in der FAZ der bulgarische Autor Georgi Gospodinov. Die SZ reist durch die Republik Moldau zu Putin-Anhängern. In der Welt warnt KI-Forscher Christian Bauckhage vor Künstlicher Intelligenz, die Menschen ersetzen könnte. Genau das ist doch der Punkt, meint Sascha Lobo in Spon mit Blick auf menschliche Fehler. Uganda hat ein verschärftes Anti-Homosexualitäts-Gesetz beschlossen und steht damit in Afrika nicht allein, berichten FAZ und taz. In der Berliner Zeitung rät der Historiker Rainer Eckert zu einem offensiveren Umgang mit der Herkunft als Ostdeutscher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.03.2023 finden Sie hier

Europa

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist "eine Schlacht um die Vergangenheit und ihre Umverteilung: Die Vergangenheit als Alibi und als Ressource", schreibt in der FAZ der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov. "Mit diesem Krieg sagt Putin: 'Lasst uns auf meinem Territorium, Verzeihung, in meiner Zeit kämpfen, in den Vierzigern'." Viele Bulgaren sind dazu tatsächlich bereit, so Gospodinov. "Dem Eurobarometer vom Mai 2022 zufolge stehen die Bulgaren unter allen EU-Staaten dem russischen Standpunkt zum Krieg am nächsten. ... Die bulgarische Gesellschaft scheint heute gespalten zu sein wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Manchmal hat man das Gefühl, sich am Rande eines stillen Bürgerkriegs zu bewegen. Nach 1989 stand dieser Teil Europas nie mehr vorn auf der Bühne der Geschichte. Doch hörte er nie auf, auch in seiner Literatur davor zu warnen: Was passiert ist, kann sich jederzeit wiederholen. Hier konnte man erfahren, dass die Geschichte noch nicht vorbei ist, dass niemand, wie viele Kilometer westlich er sich auch befinden mag, beruhigt sein kann. Das Zentrum Europas ist nichts Statisches, fest verankert in Berlin oder Paris, sondern ein beweglicher Ort des Schmerzes. Es ist da, wo es wehtut und blutet, und heute befindet es sich im Osten, in der stolzen Ukraine."

Für die Seite 3 der SZ ist Cathrin Kahlweit quer durch die Republik Moldau gereist, hin zu Putin-Anhängern in Gaugasien, nach Transnistrien, wo fast alles noch aussieht wie zu Glanzzeiten der UdSSR und nach Orhei, wo eine Rentnerarmee, finanziert von dem Oligarchen Ilan Shor für dessen Pläne demonstriert, die moldauische Regierung durch eine pro-russische Führung zu ersetzen. Geheimdienste berichten außerdem, dass die russische Propaganda nochmal stark zugenommen habe: "Das Netz ist voller Warnungen vor Geheimdienstoperationen unter falscher Flagge, mit denen ein militärischer Konflikt vom Zaun gebrochen werden könnte. Regelmäßig überfliegen russische Raketen, abgeschossen im Schwarzen Meer, moldauisches Territorium. Gut trainierte Provokateure werden eingeschleust: Hunderte Rowdys und mutmaßliche Saboteure, sogar Mitglieder der Wagner-Gruppe, seien in den vergangenen Wochen an den Grenzen abgewiesen oder festgenommen worden, sagt Lilian Carp, Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Sicherheit, bei einem Treffen in der Hauptstadt."

In der taz kritisiert der Linken-Abgeordnete Moheb Shafaqyar den Berliner Klimavolksentscheid: Er werde mit Nein stimmen, denn "im Gesetzesvorschlag selbst findet sich keine Vorstellung davon, wie das Ziel zu erreichen ist". Zudem "wird nicht der Gesetzgeber, also das Parlament, sondern der Senat, die Regierung, gesetzlich verpflichtet, Maßnahmen und Konzepte vorzulegen, wie Berlin innerhalb von 7 Jahren klimaneutral werden soll. Das ist eine gravierende und undemokratische Machtverschiebung."
Archiv: Europa

Internet

"Was in den kommenden fünf Jahren durch künstliche Intelligenz mit der Welt passieren wird, wird alles in den Schatten stellen, was wir vorher gesehen haben", sagt der KI-Forscher Christian Bauckhage im Welt-Gespräch, in dem er auch die Entwicklung eines Bewusstseins von Künstlichen Intelligenzen nicht ausschließt und erklärt, dass die KI dem Menschen bereits überlegen ist: "Wir wissen im Prinzip, wie diese Systeme funktionieren, aber ihre schiere Größe macht sie intransparent. Wir reden hier von 100 Milliarden Parametern. Kein Mensch kann sagen, welcher Parameter an welcher Stelle für welches Verhalten des Systems verantwortlich ist. Die Algorithmen, die in diesen Systemen ablaufen, verstehen wir sehr gut, sonst könnten wir sie nicht bauen. Aber das, was diese Algorithmen erzeugen, ist von einer Komplexität, die für Individuen, für ganze Teams von Leuten überhaupt nicht nachvollziehbar ist."

"KI darf den Menschen nicht ersetzen", warnte auch der deutsche Ethikrat in seinen Empfehlungen zum Einsatz Künstlicher Intelligenz. "Es wäre falsch, das als Binsenweisheit abzutun und den dazu betriebenen Aufwand infrage zu stellen", meint Harry Nutt in der Berliner Zeitung. "So wird beispielsweise konstatiert, dass KI-Systeme auf der Basis vorhandener Daten lernen und dadurch womöglich auch vorhandene Festschreibungen und soziales Gefälle transportiert werden. Es sei sogar denkbar, 'dass explizite Diskriminierungsabsichten in komplexen Systemen versteckt werden könnten'."

Bei Spon rollt Sascha Lobo die Augen: Der ganze Sinn von KI ist es doch, den - höchst fehlerhaften - Menschen zu ersetzen! "Das Menschenbild, das der Diskussion zugrunde liegt, romantisiert an vielen Stellen den Menschen und seine menschliche Entscheidungsgewalt, etwa mit einem Satz wie: 'Wollte man versuchen, den Menschen als Handlungssouverän zu ersetzen, käme es zu einer Diffusion oder vollständigen Eliminierung von Verantwortung.' Ethik könnte prinzipiell auch 'Mahnwesen' heißen, das liegt in der Natur dieser Disziplin. Aber diese große Mahnung verkennt aus meiner Sicht, dass der Mensch als Handlungssouverän oft genug komplett in den Quark greift und anschließend nicht einmal genau sagen kann, warum. 'Eliminierung von Verantwortung' ist sogar ein klassisches Muster der menschengemachten Bürokratie - der man maschinell entgegenwirken kann, weil die Maschine transparent sein kann und dadurch messbar wird, wenn man will."
Archiv: Internet

Politik

Der Westen soll China nicht allzu sehr provozieren, dann wird es auch Taiwan nicht angreifen, rät Politikberaterin Jessica Chen Weiss im Zeit-Interview mit Jörg Lau und Xifan Yang. Im übrigen verheddere sich China in seinen Widersprüchen: "China behauptet, es verteidige das Prinzip der staatlichen Souveränität. Warum verurteilt Peking dann nicht die russische Invasion eines souveränen Staates? China leistet der russischen Aggression eindeutig diplomatische Schützenhilfe. Russland darf aus Sicht von Xi keine vollständige Niederlage in der Ukraine erleiden, und Putin muss an der Macht bleiben. Zugleich braucht China den Zugang zu Kapital und Technologie aus den USA und aus Europa für seine weitere Modernisierung."

Ugandas Parlament hat fast einstimmig und mit Billigung von Präsident Yoweri Museveni ein verschärftes Anti-Homosexualitäts-Gesetz beschlossen, berichtet Simone Schlindwein in der taz. "Es ist eines der härtesten Gesetze gegen die LGTBQ+-Gemeinde weltweit, nachdem es gegenüber dem ersten Entwurf des muslimischen Abgeordneten Asuman Basalirwa weiter verschärft wurde. 'Eine Person, die die Straftat der schweren Homosexualität begeht, muss im Fall einer Verurteilung den Tod erleiden', steht darin nun. 'Schwer' sei Homosexualität dann, wenn sie an Personen unter 14 oder über 75, an Kranken oder Schutzbefohlenen begangen wird. Die Todesstrafe wird in Uganda schon lange nicht mehr vollstreckt, insofern bedeutet dies in der Praxis lebenslange Haft. Das neue Gesetz stellt auch das 'Anwerben' für gleichgeschlechtlichen Sex unter Strafe, ebenso die Verbreitung von Materialien, die gleichgeschlechtlichen Sex 'fördern'. Gemeint sind damit vor allem Lehrbücher zur Sexualaufklärung in den Schulen, die auch Homosexualität thematisieren. Denn Homosexualität wird als eine Form des sexuellen Missbrauchs definiert."

Und Uganda steht mit der Diskriminierung von Homosexuellen in Afrika nicht allein, berichtet Claudia Bröll in der FAZ: "In mehr als 30 afrikanischen Ländern sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften verboten."
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Ideen

Wir leben in komplexen Gesellschaft, und manchmal reicht eine kleine Ursache - der Klimawandel, der Ukrainekrieg, die Coronakrise - um es ins Wanken zu bringen. Das nennt man dann "Nichtlinearität", schreibt Andreas Reckwitz in der Zeit. Und dann ist Land unter, und allenfalls die Metaphernproduktion der Soziologie bleibt intakt: "Die Theorien der Nichtlinearität bieten eine Batterie von Begriffen, um die Umschlagpunkte zu bezeichnen, an denen die Normalität des Bestehenden in eine ungewisse Zukunft 'umkippt': Der kanadische Publizist Malcolm Gladwell spricht vom 'tipping point', der ungarische Philosoph Ervin László vom 'chaos point', die amerikanischen Politologen Robert Axelrod und Michael D. Cohen reden von der 'Schwelle', und der Meteorologe Edward Lorenz brachte in den 1970er-Jahren den berühmten Schmetterlingseffekt ins Spiel."

Außerdem: Für die SZ berichtet Boris Herrmann mit wenig Sympathie von einer Konferenz der von dem Historiker Andreas Rödder gegründeten Denkfabrik "Republik 21".
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Gesellschaft

In einem Punkt hat Dirk Oschmann mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" auf jeden Fall recht, meint der Historiker Rainer Eckert in der Berliner Zeitung: "unser Land braucht eine gleichmäßige Verteilung der Herkunft seiner Eliten, Ostdeutsche sind nicht zweitklassig". Aber Klagen hilft nicht weiter, Eckert ermuntert statt dessen zu einem offensiveren Umgang mit der Ostherkunft: "Nie habe ich verschwiegen, Ostdeutscher zu sein, und nie hatte ich dadurch Nachteile. Ganz im Gegenteil erwies es sich für einen Historiker und Politikwissenschaftler als Vorteil, in zwei Gesellschaftssystemen gelebt zu haben - man musste daraus aber die richtigen Schlüsse ziehen. Selbstmitleid und Klagen über das Verlorene waren nicht hilfreich, sondern es ging darum, den westlichen wissenschaftlichen Diskurs zu verstehen, mitzugestalten und eigene Ideen einzubringen. Wichtig war es für mich, auf andere Menschen offen zuzugehen und auch Konflikte zu bestehen."

Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach bereitet für die FAZ die jüngste Umfrage zur Einwanderung in Deutschland auf. Was sie gelernt hat, ist, dass "sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgeschöpft sind". Das verändert auch die Einstellung zum Asylrecht: "Die Bevölkerung stand mehrheitlich hinter dem Asylrecht, auch nach 2015. Noch 2017 hielten es 52 Prozent für richtig, dass Deutschland Flüchtlingen, die in ihrer Heimat verfolgt werden, Asyl gewährt, 39 Prozent forderten eine Einschränkung. Seither ist die Unterstützung jedoch erodiert: Aktuell unterstützen nur noch 39 Prozent das geltende Asylrecht, 49 Prozent fordern Einschränkungen. ... Qualifikation, Integrationsfähigkeit und eine an diesen Kriterien orientierte Zuwanderungspolitik sind die Schlüssel zur Akzeptanz von Zuwanderung. Die Mehrheit zieht zwar eine negative Bilanz der bisherigen Zuwanderung, unterstützt aber Regelungen, die qualifizierte Zuwanderung fördern."

Erst die Rechtschreibreform und nun noch Gendern, kein Wunder, dass die Schreibkultur in diesem Land vor die Hunde geht, stöhnt Dankwart Guratzsch in der Welt und zitiert zustimmend den Vorsitzenden des Rats für deutsche Rechtschreibung, Josef Lange: "Für ein Land, in dem 12 Prozent der über 18-jährigen Deutschsprechenden nicht in der Lage sind, auch nur einfache Texte zu lesen und zu schreiben, ein Drittel der zehnjährigen Schüler nicht den orthographischen Mindeststandard erreicht (in Berlin 45 Prozent), und 20 Prozent der Migranten keinen Schulabschluss haben - für ein solches Land müsse das Erlernen der Sprache Priorität haben, nicht dessen Erschwerung. Das 'Grundrecht auf Verständlichkeit' dürfe nicht verletzt werden."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Auch die Deutsche Welle hat am Freitag bekannt gegeben, bis 2025 beim Programm einzusparen und Stellen abzubauen. Gestern versuchte die Geschäftsleitung erfolglos die Mitarbeiter von der Notwendigkeit der Maßnahmen zu überzeugen, berichtet Joachim Huber im Tagesspiegel: "Ein Mitarbeiter berichtete, dass schon am 17. Mai 2021 in einem virtuellen Management-Meeting die Projektion der Finanzsituation in den kommenden Jahren vorgestellt worden sei. Danach sei für das Jahr 2024 ein Defizit zwischen 17 und 27 Millionen Euro vorausgesagt. Die drohende Unterfinanzierung sei demnach lange bekannt. Statt frühzeitig unter Einbeziehung der Belegschaft und Belegschaften zu reagieren und Investitionen zurückzustellen, habe die Geschäftsführung weiter Geld ausgegeben. In der Mitarbeiterversammlung wurde der Vergleich mit der Privatwirtschaft gezogen, wo ein solches Verhalten einer Insolvenzverschleppung gleichkäme."
Archiv: Medien
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