9punkt - Die Debattenrundschau

Die Beseitigung der bestehenden globalen Ordnung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2023. Der afghanische Autor Taqi Akhlaqi  umreißt in einem bewegenden Text für die NZZ das "Ausmaß des Vergessens", das sich über sein Land breitet. Zwei Texte setzen sich mit der konstitutionellen Krise in Israel auseinander: Joseph Croitoru erzählt in der taz die Geschichte der Auseinandersetzung um den Obersten Gerichtshof. Alan Posener benennt in der Welt die gelähmte politische Mitte in Israel als eigentliches Problem. In der SZ fürchtet Stefan Kornelius, dass der Ideologe Xi noch gefährlicher ist als als der Revisionist Putin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.03.2023 finden Sie hier

Politik

Der afghanische Schriftsteller und Journalist Taqi Akhlaqi hat es geschafft, mit seiner Frau und seinen Kindern nach Deutschland zu emigrieren. In einem sehr beeindruckenden Essay für die NZZ beschreibt er seinen Fantomschmerz eines Exilierten. Er beklagt "das Ausmaß des Vergessens, das sich über Afghanistan legt... Viele dieser Menschen werden unbemerkt sterben, und, was noch schmerzhafter ist, sie werden bald vergessen sein. Eine meiner täglichen Aufgaben besteht darin, die Namen dieser Opfer, wenn sie in den Nachrichten erwähnt werden, in meinem Notizbuch aufzuschreiben. Vor ein paar Tagen hat sich in einem abgelegenen Dorf ein Mädchen während seiner Hochzeitsfeier erschossen. Nach einigem Suchen finde ich ihren Namen: Zofinon. Ich schreibe ihn neben die anderen Namen, die ich gesammelt habe."

Stefan Kornelius skizziert in seinem SZ-Leitartikel zum Treffen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping die ganze Unheimlichkeit der Konstellation, die sich da andeutete. Die Ukraine ist nur noch ein Nebenproblem, und auch Putin erscheint wie ein blässlicher Juniorpartner mit revisionistischen Obsessionen: "Willkommen im sinozentrischen Jahrhundert". Auch Xi sei zwar ein Ideologie, allerdings mit weitaus größeren Ambitionen: "Ausgestattet mit allen Insignien eines Alleinherrschers, gründet sich seine Ambition auf ein über die Person hinausreichendes Ziel: im Inneren die dauerhafte Machtsicherung der KP Chinas einerseits und andererseits im Äußeren die Beseitigung der bestehenden globalen Ordnung mit ihrem westlich geprägten Verständnis von Staat, Recht und Humanismus."

Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa erinnert in der NZZ an Abimael Guzmán, den Erfinder der linksextremen Sekte "Sendero Luminoso", die das Hochland von Peru mit Terror überzog. Die Zahl der Toten ist nicht ermittelt, so Vargas Llosa: "Inmitten der Bomben und Mordanschläge des Sendero Luminoso hatte ich mich immer gefragt, wer die Menschen waren, die Abimael Guzmáns Ideen verfallen waren. Zumindest das ist heute klar. Es waren vor allem Frauen aus der Mittelschicht und frustrierte junge Leute, die die Rhetorik der Kommunisten satthatten und sich ungeduldig nach Taten sehnten. Sie schlossen sich Guzmán an, ohne jedoch eine uniforme Masse zu bilden wie die Anhänger anderer revolutionärer Gruppierungen, die Moskau oder China nahestanden und den Sendero Luminoso daher ablehnten."

Joseph Croitoru schildert in der taz die seit Jahrzehnten andauernden Auseinandersetzungen um den Obersten Gerichtshof (OGH) in Israel, der in Ermangelung einer Verfassung ein immer höheres Gewicht bekam und nun im Zentrum einer "tiefen konstitutionellen Krise" steht. "Der OGH war schon unter seinem Präsidenten Barak, dessen Amtszeit bis 2006 dauerte, von unterschiedlichsten Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. So warfen Menschenrechtler und Besatzungsgegner dem Gericht Verrat an den eigenen Prinzipien vor, weil es willkürliche Internierungen und auch Folter von Palästinensern wiederholt abgesegnet hatte. Für die ultranationalistischen Siedler und auch die Ultraorthodoxen verkörpert der OGH bis heute eine 'Rechtsdiktatur' - und nicht nur für sie."

Alan Posener setzt in der Welt einen Gegenakzent zur Kritik an Netanjahus Justizreform und macht auf die klaffende Leerstelle der unfähigen politischen Mitte in Israel aufmerksam: "Netanjahus Koalition trägt dem bunten Charakter der israelischen Gesellschaft durch die Inklusion von Parteien der religiösen Rechten Rechnung. Dass die nach wie vor moderate Mitte der israelischen Gesellschaft einschließlich der arabischen Parteien es nicht schafft, eine parlamentarische Mehrheit zustande zu bringen, ist das eigentliche Problem. Was sich aber alle Deutschen klarmachen müssen, ist dies: Der Zionismus ist die Lehre, dass die Juden einen eigenen Staat brauchen. Nicht nur die Juden, deren Fehlen in Deutschland bei jeder Gedenkveranstaltung so lautstark wie heuchlerisch beklagt wird; nicht nur die assimilierten und kultivierten 'Jecken', sondern die Juden, Punkt."
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Europa

Ähnlich wie neulich Marcel Gauchet (unser Resümee) schildert Daniel Cohn-Bendit im Gespräch mit Jan Feddersen in der taz die Rente als französische Ersatz-Utopie. Es gehe "um eine inzwischen kollektive Wunschvorstellung: Wir wollen so schnell wie möglich frei sein, und frei sein ist die Rente. Der Sozialismus ist kein Projekt mehr, und der christliche Glaube, nach dem das eigentliche Leben nach dem Tode anfängt, ist auch perdu. So ist die Rente ein Freiheitsversprechen."

Der große Fehler Emmanuel Macrons war es, nicht mit den Sozialpartnern zu verhandeln, sagt Ex-Präsident François Hollande im Gespräch Michaela Wiegel und Niklas Záboji in der FAZ. "Das ist das, was Sie in Deutschland tun: eine Vereinbarung aushandeln, bevor Sie vor das Parlament treten. Genau das wurde hier nicht erreicht, obwohl sich die französische Gewerkschaftslandschaft in den vergangenen Jahren verändert hat. Die wichtigste Gewerkschaft, die heute die Bewegung anführt, ist die CFDT mit Laurent Berger. Das ist ein Partner, der diesen Willen hat, Kompromisse suchen zu wollen, auch wenn er seine roten Linien hat."

Russland agiert aus einer Art wahnhaften Liebe zur Ukraine, sagt der Russland-Kenner Olaf Kühl, der gerade das Buch "Z - Kurze Geschichte Russlands von seinem Ende her gesehen" vorlegt, im Gespräch mit Jens Uthoff  von der taz: "Mich erinnert das an sogenannte Femizide, Morde an Frauen, die ihren Mann verlassen haben. Russland hat die Ukraine und die Krim geliebt. Die Aufsässigkeit seit der Orangen Revolution 2004 in der Ukraine hat eine Wut ausgelöst, die vergleichbar ist mit der des verlassenen Liebhabers. Die enttäuschte Liebe kann man auch vorher schon an den späten Gedichten Joseph Brodskys ablesen."

In Moskau streiten sich Fraktionen der Opposition, namentlich die Gruppe um Alexej Nawalny und seinen Statthalter Leonid Wolkow und die Gruppe um Alexei Wenediktow, ehemals Chef des Senders Echo Moskwy, schreibt Nikolai Klimeniouk in der FAS. Die Fraktionen werfen sich gegenseitig nicht ohne Belege Korruption und Heuchelei vor: "Der Streit zwischen dem Nawalny-Lager und Wenediktow stellt die russische Opposition, besonders ihre alte Garde, vor eine schwere Zerreißprobe. Bisher waren es immer wieder dieselben Leute, die Wenediktow gegen den Vorwurf der Kollaboration verteidigten und Nawalny gegen Kritik an seinem Nationalismus. Das jeweilige Vorgehen, hieß es aus dem Mund der Apologeten, sei taktisch klug und aus übergeordneten Gründen notwendig gewesen. Wer das beanstande, spiele nur dem Kreml in die Hände. Doch jetzt appellieren dieselben Leute mit denselben Argumenten flehentlich an die Streitparteien, sich rasch zu versöhnen."
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