9punkt - Die Debattenrundschau

Maschine für den Musterabgleich

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2023. In der FAZ entwirft Viktor Jerofejew ein Friedensszenario, in dem die Krim und der Donbass leider bei Russland verbleiben. Ebenfalls in der FAZ fürchtet Peter Graf Kielmansegg, dass der Klimawandel der Freiheit Grenzen setzt. Laut New York Times gibt Noam Chomsky Entwarnung: KI kann sich mit dem menschlichen Verstand nicht vergleichen. In der Welt fragt Rebecca Schönenbach, ob Annalena Barbocks "feministische Außenpolitik" auch für muslimische Frauen gilt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2023 finden Sie hier

Europa

In der FAZ hat Viktor Jerofejew mit westlichen Pazifisten angeblich nichts am Hut, plädiert jedoch für eine Einfrierung des Krieges gegen die Ukraine, was Forderungen deutscher Pazifisten sehr ähnlich ist: "Ich rede gar nicht davon, dass die Krim auf militärischem Weg nicht zurückgeholt werden kann. Putin würde uns da eher einen Atomkrieg bescheren. Selbst der Donbass dürfte, wie es heute scheint, in der Form zweier marionettenartiger Anhängsel von Russland bestehen bleiben. Wozu sich Russland angesichts einer festgefahrenen Pattsituation durchringen kann, ist bislang nicht klar, aber das Ausbleiben von Siegen ermüdet zweifellos die Generäle wie das Heer. Ein eingefrorener Konflikt bedeutet eine graue Zukunft, die niemanden erfreut." Russland werde sich hoffentlich eines Tages von den Illusionen Putins befreien, und Europa müsse noch lernen, dass Pazifismus nur gut ist, "wenn er die Demokratie stärkt und nicht schwächt. Der schreckliche Krieg könnte ein Europa, das sich in friedlich komfortablen Verhältnissen mit ihren Krisen eingerichtet hat, auf die Probleme der Zukunft vorbereiten. Ein blutiger Fleck aber wird für immer auf der Landkarte bleiben." Richtig, man sollte aber nicht vergessen, dass russische Soldaten dieses Blut vergossen haben.

Im Interview mit der SZ sieht der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze nicht nur schwarz für die Ukraine, sondern auch für Europa und gleich die ganze Welt - einen Krieg der USA mit China hält er für ausgemacht. Und die Ukraine? Wird irgendwann "Frieden" schließen müssen, aber es wird ein Desaster: "Denn nach einem Friedensschluss lebt auch die nun ruhende Innenpolitik wieder auf. Ein Deal mit Putin wäre ein gefundenes Fressen für die Opposition: Sie wird Selenski kaputtmachen. Und das kann - schauen wir in die Geschichte - durchaus im Wortsinne passieren. Beim Vertrag von Versailles, bei der Trennung Irlands, in Israel bei den Oslo-Verträgen: Politiker, die Verantwortung übernehmen und ein Abkommen mit dem Gegner eingehen, befestigen eine Zielscheibe auf ihrer Brust."

Ganz anders sieht das der ETH-Militärökonom Marcus Keupp, der im Interview mit der NZZ (und anderswo) behauptet, Russland werde den Krieg im Oktober verloren haben und stützt sich dabei auf Zahlen: "Sie können diese Zahlen verifizieren. Es gibt eine große Open-Source-Intelligence-Community, der ich angehöre und die sich zum Beispiel Satellitenbilder besorgt oder andere Leute fragt, was vor Ort beobachtet wurde. Wir verfügen über Bilder aus der Bevölkerung und Daten von Fachexperten. Die Kriegsanalytik hat sich radikal verändert. Bisher hatten wir Militärexperten, die etwas behauptet haben. Oder wir hatten Formeln oder theoretische Modelle, mit denen etwas berechnet worden ist. Heute sehen Sie fast in Echtzeit, was an der Front passiert. Dieser Krieg ist der am besten dokumentierte Krieg der ganzen Menschheitsgeschichte, nicht zuletzt aufgrund der sozialen Netzwerke."
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Ideen

In der NZZ fragt sich Robert Misik, selbst bekennender Linker, warum so viele Linke ein Faible für Autokraten haben: "Die linken Seltsamkeiten haben viel mit ideologischen Prägungen zu tun, die weit in der Vergangenheit liegen", meint er. "Die sozialistische Sowjetunion war in den zwanziger Jahren durchaus ein Leuchtturm eines emanzipatorischen Sozialexperimentes, jedenfalls schien sie das zu Beginn auch für viele schlaue Linke zu sein. Schon bald geriet die angebliche Räterepublik aber auf diktatorische Abwege, nicht erst mit Stalin, aber mit der Stalinisierung dann endgültig. Danach setzte eine Reihe von Mechanismen ein: erstens die Leugnung des stalinistischen Terrors. Zweitens dessen Rechtfertigung."
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Stichwörter: Linke, Stalinistischer Terror

Gesellschaft

In der Welt kritisiert die Volkswirtin Rebecca Schönenbach, selbst im Vorstand von Frauen für Freiheit, die deutsche feministische Außenpolitik, die sie in Teilen rassistisch findet, weil sie für muslimische Frauen nicht zu gelten scheine. Frauen im Islam müssten ihrer Kultur gemäß leben können, sei ihr erklärt worden. "Die Verletzung von grundlegenden Menschenrechten ist niemals Kultur. Daraus folgt keineswegs, dass deutsche Truppen im Iran eingreifen sollten, sondern zunächst, dass Verbrechen an Frauen als Verbrechen benannt werden, egal wo und durch wen sie verübt werden. Im zweiten Schritt müsste eine tatsächliche feministische Außenpolitik auf die Menschenrechtsverletzungen reagieren, indem sie den Tätern die Unterstützung entzieht, also im Falle des Iran die diplomatischen Beziehungen auf Geschäftsebene herunterstuft und internationale Abkommen wie den nicht funktionierenden Atomdeal aufkündigt. Bedenklich ist, dass ausgerechnet das Auswärtige Amt der demokratiefeindlichen Propaganda Vorschub leistet. In den Leitlinien feministischer Außenpolitik wird Gleichberechtigung lediglich drei Mal erwähnt. Dafür wird unter dem Schlagwort auf über 80 Seiten eine politische Agenda von Friedensförderung über Klimapolitik bis hin zu 'marginalisierten Gruppen in Wirtschaftsprozessen' ausgewalzt."
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Internet

Der australische Philosoph David Chalmers und der amerikanische Linguist Noam Chomsky machen sich wenig Sorgen, dass KI eines Tages übernimmt und den Menschen abschafft, lernt Michael Hesse, der Aussagen der beiden aus anderen Medien zu ChatGPT und Co zusammengetragen hat: Diese Programme mögen nützlich sein, doch sie hätten nichts zu tun mit der Art, wie Menschen denken, erklärte Chomsky in der NYT. "Für den mittlerweile 94-Jährigen ist der menschliche Verstand vollkommen unterschiedlich im Vergleich zu bisherigen Entwicklungen auf dem Feld der KI. Denn der Geist des Menschen sei keine schwerfällige statistische Maschine für den Musterabgleich, 'die Hunderte von Terabyte an Daten verschlingt und die wahrscheinlichste Gesprächsantwort oder die wahrscheinlichste Antwort auf eine wissenschaftliche Frage extrapoliert'. Für Chomsky ist das genaue Gegenteil der Fall: 'Der menschliche Verstand ist ein überraschend effizientes und sogar elegantes System, das mit kleinen Informationsmengen arbeitet; es versucht nicht, grobe Korrelationen zwischen Datenpunkten abzuleiten, sondern Erklärungen zu schaffen.'"

In der taz sieht das der Pädagoge Nicolaus Wilder ganz ähnlich: "Generative KIs sind bei der Weiterentwicklung notwendigerweise angewiesen auf menschlichen Input. Sie reproduzieren stets das Wahrscheinlichste, erhalten damit zwingend den Mainstream und können so nicht grundlegend innovativ sein. Eine KI, die ausschließlich mit Daten trainiert wurde, die sagen, dass die Welt eine Scheibe ist, kommt von sich aus nicht auf die Idee, dass sie vielleicht doch eine Kugel sein könnte. Noch weniger macht sie sich mit einem Schiff auf den Weg, um das zu beweisen, denn Wahrheit ist für sie nur eine Zeichenreihenfolge und kein orientierungsstiftendes Konzept. Die KI orientiert sich ausschließlich an Wahrscheinlichkeiten. Für die Wissenschaft heißt das, dass viele Dinge von KIs übernommen werden können, die in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden liegen: recherchieren, zusammenfassen, sortieren, gewichten sowie mitunter das Verfassen von Standardlehrbüchern oder Rezensionen. Dem Menschen schafft sie dadurch Zeit und Raum, sich auf das Innovative, das im gegenwärtigen Paradigma Unwahrscheinliche, dem Denken in alternativen Möglichkeiten zu konzentrieren."

Außerdem: In der Welt warnt Christian Meier vor Verschwörungstheorien zur KI.
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Politik

Homosexualität sei eine Erfindung oder Perversion des Westens, heißt es immer wieder in afrikanischen Staaten, um die drakonischen Gesetze dagegen zu begründen. Fox Odoi-Oywelowo, der Mitglied der Partei des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni hat es gewagt, gegen so ein Gesetz zu stimmen, weil, wie er sagt, nicht die Homosexualität nach Afrika importiert wurde, sondern - durch evangelikale Gemeinschaften aus den USA - der Hass auf sie, erklärt er Claudia Bröll in der FAZ. "Martin Ssempa war vor einigen Jahren aus den USA zurückgekehrt. Viel wurde 2010 über ihn berichtet, als er im Gottesdienst pornographische Videos zeigte, um vor den Sexualpraktiken Homosexueller zu warnen. Jetzt tanzt er in Twitter-Posts im 'Straight-Nation'-T-Shirt, will angeblich aufklären, aber nutzt jede Gelegenheit, um Homosexuelle in ähnlicher Weise wie Lively und seine Mitstreiter zu verhöhnen und an den Pranger zu stellen. Die Organisation SMUG wurde mittlerweile von der Regierung geschlossen. In dieser aufgeheizten Atmosphäre sei es für den Präsidenten kaum möglich, sich gegen das Parlament und den Volkszorn zu stellen, prognostiziert Odoi-Oywelowo." Dass er das offenbar auch gar nicht will, steht auf einem anderen Blatt.

Israel steuert mit Netanjahus Justizreform auf eine massive Verfassungskrise zu, warnt im Interview mit der FAZ der Tel Aviver Rechtsprofessor Menachem Mautner. Allerdings sei das Oberste Gericht an dieser Krise auch nicht ganz unschuldig: "Einige der Vorschläge werden inzwischen weitgehend akzeptiert, selbst von den überzeugtesten Unterstützern des Gerichts. Zum Beispiel, dass die Theorie der 'Angemessenheit' eingeschränkt wird, damit sie nicht mehr auf das Verhalten von Politikern anwendbar ist. Das fordere ich seit Langem schon, und immer mehr Menschen teilen diese Meinung. ... Das Problem ist der juristische Aktivismus, mit dem das Gericht in die Befugnisse der anderen Staatsgewalten eingegriffen hat. Es fing an, alle möglichen Entscheidungen der Exekutive am Prinzip der Angemessenheit zu überprüfen. Das heißt, es bestimmte einige Grundsätze, die Teil seiner Rechtsprechung sind, gab jedem konkurrierenden Grundsatz ein relatives Gewicht und überprüfte dann die Angemessenheit der von der Regierung ergriffenen Maßnahmen an diesem Maßstab. Ich denke, es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass dieser Aktivismus des Gerichts eingedämmt werden sollte. Beispielsweise sollte man nicht die Ernennung von Ministern auf ihre 'Angemessenheit' hin überprüfen."
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Geschichte

In der FAZ denkt Peter Graf Kielmansegg über Freiheitsbegriffe der Moderne nach, die allesamt obsolet werden könnten: Erstens, weil sie "das Risiko des Scheiterns der Freiheit" in sich bergen und das heute kaum noch jemand erträgt, und zweitens weil der Klimawandel der Freiheit eindeutige Grenzen setzt: "In dem Versuch gegenzusteuern macht die Menschheit, um ein Stichwort, das schon einmal gefallen ist, noch einmal aufzugreifen, eine erschreckende Erfahrung ihrer Ohnmacht. Es ist nicht mehr nur die Ohnmachtserfahrung des Einzelnen, die der Satz 'Alles könnte anders sein, nichts kann ich ändern' anspricht. Es ist eine gleichsam menschheitliche Ohnmachtserfahrung, die das 'Alles könnte anders sein' infrage stellt. Wir haben, so scheint es, mit dem Befreiungsprojekt der Neuzeit eine zivilisatorische Dynamik in Gang gesetzt, die wir nicht mehr zu steuern vermögen."

Weitere Artikel: In der taz resümiert Stefan Reinecke eine Münchner Historikertagung über "Fragile Demokratien".
Archiv: Geschichte