9punkt - Die Debattenrundschau

Mit Halsabschneidern und Blutsäufern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2023. Russland entmenschlicht seine eigenen Bürger, erklärt in der Berliner Zeitung der im Exil lebende russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, der in Russland wegen seiner Kritik am Ukrainekrieg angeklagt ist. Selbstverständlich ist der Westen mit Schuld am Krieg, er hat Putin gewähren lassen, urteilt die FR. In der SZ sieht der Schriftsteller Daniel de Roulet alle drei Schweizer Pfeiler - das Rote Kreuz, die Neutralität und die Banken - zusammenbrechen. Spon fragt, warum die Franzosen gerade den letzten demokratischen Staatspräsidenten kaputt streiken. Die Israelis erteilen der Welt gerade eine Lektion in wehrhafter Demokratie, lernt die taz. Tagesspiegel, taz und Zeit online überlegen, was der gescheiterte Klimavolksentscheid in Berlin bedeutet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2023 finden Sie hier

Europa

"Russland ist lange nichts passiert, was zerstörerischer und entmenschlichender wäre als der Krieg gegen die Ukraine. Da die russische Regierung nicht in der Lage ist, die Ukrainer zu entmenschlichen, entmenschlicht sie die eigenen Bürger", sagt der im Exil lebende russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, der wegen seiner Äußerungen über den Krieg gegen die Ukraine wegen "Verbreitung bewusst falscher Informationen über die russische Armee" angeklagt ist, in der heute von der Berliner Zeitung übersetzten Rede, die er für das Moskauer Gericht schrieb: "Warum hat Russland die 'Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte' zur strafbaren Handlung erklärt? Um den Menschen zu verbieten, die Wahrheit über die Morde und Gräueltaten zu sagen, die unsere Soldaten auf ukrainischem Boden verüben. Über Folter, Vergewaltigung, außergerichtliche Hinrichtungen. Die Fälle von Folter und Vergewaltigung sind dokumentiert. Die Leichen - die Hände auf dem Rücken gefesselt mit weißen Bändern, die russische Soldaten ukrainischen Zivilisten zu tragen befahlen - wurden exhumiert. Dies sind Fakten. Dies ist bereits geschehen. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten. Man kann nur versuchen, sie zu verbergen, um ungestraft weiter morden, foltern und vergewaltigen zu können."

"Der Vorwurf, Russland habe zwar die Ukraine überfallen, der Westen jedoch trage eine erhebliche Mitschuld, ist völlig berechtigt", meint Arno Widmann in der FR: "Allerdings nicht, weil der Westen Russland über den Tisch gezogen hat, sondern weil er es nicht getan hat." Und nun sind wir im Krieg, fährt er fort: "Je länger eine energische Antwort des Westens auf die russische Aggression auf sich warten lässt, desto mehr werden die ermutigt, die in Asien, Afrika oder Lateinamerika Ländergrenzen korrigieren wollen. Europa scheint die Ukraine zwar nicht mehr als Pufferzone zu betrachten. Aber jedes Mal, wenn sie sagen, Ukrainerinnen und Ukrainer opferten ihre Leben für die europäischen Werte, sagen sie: Ihr seid unser Kanonenfutter. Wir werfen euch den Russen zum Fraß vor, damit wir noch eine Weile unsere Ruhe haben. Das ist ganz sicher unmoralisch. Aber vielleicht ist es klug? Vielleicht gelingt es so, weder die Ukraine noch Russland den Krieg verlieren zu lassen? Ich glaube das nicht. Das zieht den Krieg nur in die Länge. Es wird über kurz oder lang kein Weg daran vorbeiführen, den ukrainischen Luftraum zu sichern."

Im Guardian schlägt der Ukrainer Vladyslav Vlasiuk vor, die Sanktionen gegen Russland auch auf die Kunstwelt auszuweiten, wo immer noch viel Geld gemacht und gehortet werde: "Westliche Verbündete der Ukraine, die versuchen, den Kreml wegen der Kriegsverbrechen in der Ukraine unter Druck zu setzen, könnten sanktionierte Russen von ihren prestigeträchtigen Kunstmärkten, einschließlich Auktionshäusern, ausschließen. Es könnten strengere Vorschriften über das wirtschaftliche Eigentum eingeführt werden, was dazu beitragen würde, den Immobilienmarkt und die Kunstwelt zu säubern. Eine internationale Taskforce sollte eingerichtet werden, um unbezahlbare Kunstwerke zurückzuholen, die von den russischen Besatzern aus ukrainischen Galerien und Museen geraubt wurden. Und die westlichen Behörden sollten Kunstwerke konfiszieren, die von sanktionierten Personen und deren Bevollmächtigten gekauft wurden. Das Geld sollte für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden."

Man kann die Schweiz für vieles lieben, aber man sollte besser nicht fragen, womit sie ihr Geld verdienen, schreibt Jan Fleischhauer im Focus: Letztlich ist die Neutralität "nur ein anderes Wort für die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs unter veränderten Bedingungen. So wie sie in der Schweiz Neutralität verstehen, ist es ein Freibrief, es sich unter keinen Umständen mit jemandem verderben zu lassen, auch nicht mit den übelsten Halsabschneidern und Blutsäufern. Vor ein paar Wochen mussten die Schweizer entscheiden, ob sie der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen helfen sollen. Die Hürde war denkbar niedrig. Sie hätten noch nicht einmal selbst helfen müssen. Sie hätten nur erlauben müssen, dass Deutschland die Panzermunition, die man in der Schweiz für den Gepard gekauft hat, an Kiew weitergeben darf. (…) Auch in der Schweiz ist man selbstverständlich für das Selbstverteidigungsrecht eines Volkes. Man will halt nur nicht dabei erwischt werden, dass man etwas dafür tut, dass sich jemand auch verteidigen kann. Nicht auszudenken, was Wladimir Putin denken würde, wenn er erfährt, dass die Schweiz dabei geholfen hat, Kinder vor dem sicheren Bombentod zu retten!"

Ähnlich argumentiert der Schriftsteller Daniel de Roulet, der in der SZ alle drei Schweizer Pfeiler - das Rote Kreuz, die Neutralität und die Banken - zusammenbrechen sieht. Er erinnert:  Nach dem Mauerfall wäre die Schweiz "fast Teil der Europäischen Gemeinschaft geworden, sie schloss sich der UN an und während sie das Bankgeheimnis auf sehr spezielle Weise der Zeit anpasste, wurde sie zum Hauptsitz des weltweiten Rohstoffhandels, dank günstiger Steuerkonditionen und der Neutralität. Und natürlich wurde sie immer noch reicher und die Bewohner profitierten von diesem ungerechtfertigten Reichtum. Die Schweiz hat also die aufgezwungene Neutralität durch opportunistische Neutralität ersetzt. In der Sprache helvetischer Diplomaten klingt das so: Wir sind von der militärischen Neutralität in die aktive Neutralität gewechselt, die Ihnen gern ihre Dienste anbietet. Die Verbindung von Neutralität und wachsendem Reichtum ist eine historische Koinzidenz, die zum Mythos stilisiert wurde. Dieser zweite Pfeiler Helvetiens bricht in dem Moment weg, in dem Europa von der Schweiz verlangt, wenigstens die Vermögen russischer Oligarchen aufzuspüren, wenn sie schon keine Waffen liefert."

Und was machen die Franzosen? Nikolaus Blome blickt bei Spon fassungslos auf das Land, das sich gerade selbst zerlegt: "In Frankreich wird seit Wochen der letzte demokratische Staatspräsident kaputt gestreikt. Nicht etwa aus materieller Not oder demokratischem Widerstand gegen eine unmenschliche Wirtschaftsreform, nein. Die Linken und die Grünen wollen sich im Aufstand ein letztes Mal selbst fühlen und zahlen jeden Preis dafür: Sie machen sich zur fünften Kolonne des Kreml und werfen ihr Land dem Rassemblement National in den Rachen. Bingo."

Die französische Anthropologin Florence Bergeaud-Blackler hat im Januar ihr Buch "Le frérisme et ses réseaux" über islamische Parallelgesellschaften in Frankreich und Belgien veröffentlicht, seitdem erhält sie Todesdrohungen. Im NZZ-Interview mit Lucien Scherrer spricht sie über die Strategien der "Freres", - gemäßigte Muslimbrüder - durch die sie auch die EU einlullen: "Sie tragen Anzüge und bunte Hijabs und geben der angeblich islamophoben Gesellschaft in Europa die Schuld am Terrorismus. Aus ihrer Sicht haben sich die Europäer an ihre Auslegung des Islam anzupassen und nicht umgekehrt. Die Bevölkerung soll sich an ihre fundamentalistischen Normen gewöhnen, von Ess- und Beziehungsvorschriften bis zum Kopftuch. (…)  Da sie zu wenig stark sind, um die Scharia durchzusetzen, versuchen sie, die Gesellschaft Scharia-kompatibel zu machen: Sie soll die Geschlechtertrennung, die Unsichtbarmachung der Frauen und die religiöse, auf Separation ausgerichtete Erziehung von Kindern akzeptieren. Dazu infiltrieren sie Organisationen, sie versuchen, sich überall einzubringen und den Diskurs über den Islam zu bestimmen, in der Bildung, in Stiftungen, in der Polizei, in der Justiz, auch in den Parteien. Keine Brüsseler Partei kann Wahlen ohne Muslime gewinnen."
Archiv: Europa

Politik

Die Israelis haben es geschafft - vorläufig jedenfalls: Die Debatte über die umstrittene Justizreform, und damit die Reform selbst, wurde nach den größten Protesten, die es je in Israel gegeben hat, verschoben. Selbst die Gewerkschaften haben sich mit einem Generalstreik beteiligt, berichtet Judith Poppe in der taz. Auslöser war die Entlassung von "Verteidigungsminister Yoav Gallant, weil dieser am Vorabend in einer öffentlichen Ansprache seine eigene Regierung dazu aufrief, die umstrittene Justizreform nicht ohne Dialog mit den Gegnern durchzupeitschen. Gallant begründete seinen Aufruf mit Sicherheitsrisiken: Er warnte davor, dass feindlich gesinnte Länder die innenpolitische Krise ausnützen könnten, um Israel anzugreifen. 'Am Sonntagmittag hatten wir noch keine Ahnung, dass ein solcher Aufstand kommen würde', sagt die Politikwissenschaftlerin. Ein weiterer Fehler in ihren Augen: Gallant wurde davon abgehalten, seine Sicherheitsanalyse dem Kabinett vorzustellen. 'Dass Netanjahu sein eigenes Interesse, Israel in ein autoritäres Regime zu verwandeln, sogar vor Sicherheitserwägungen stellt, hat viele Leute auf die Straße gebracht, die bislang nicht protestiert hatten.'"

Gallant hatte recht, als er vor einer Gefahr für die Sicherheit des Landes sprach, erklärt der Sicherheitsexperte Ofer Shelah im Interview mit der taz. Denn neben den Protesten hätten erstmals Tausende Reservisten ihren Dienst in der Armee verweigert. Und auf die komme es im Kriegsfall an: "Das israelische Militär ist eine Volksarmee. Reservisten sind in Schlüsselpositionen, etwa als Kommandeure. Die wichtigsten Schlachten der vergangenen israelischen Kriege wurden von Reserveeinheiten geschlagen. Sie gelten als das Kräftereservoir, das es Israel ermöglicht, Kriege zu gewinnen. Die Grenze zwischen dem Militär und der Gesellschaft ist in Israel viel unschärfer als in anderen Ländern. Nicht nur, weil jeder Israeli zum Militärdienst eingezogen wird, sondern auch, weil es eine starke Bindung zwischen der Bevölkerung und dem israelischen Militär gibt. In den 75 Jahren seines Bestehens war Israel jeden einzelnen Tag in wechselnde Konflikte verwickelt."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Frauenfreundlich und gar nicht transfeindlich findet taz-Autor Jan Feddersen die Entscheidung des Leichtathletik-Verbandes, Transfrauen nicht am Frauensport teilnehmen zu lassen, wenn sie eine männliche Pubertät durchlaufen haben. "Frauensport, der weltweit immer populärer wird, würde durch dominierende Trans*athletinnen delegitimiert. Denn: Trans*frauen in der Leichtathletik, die erst am Ende der Pubertät in den Frauensport einsteigen, könnten auf Anhieb alles gewinnen, was es zu gewinnen ist. Ein durchschnittlicher Kugelstoßer würde als Frau zur überragenden Stoßerin - allein schon ihrer männlichen Muskularität und der Lungenkraft wegen."

Der Volksentscheid für ein klimaneutrales Berlin im Jahr 2030 ist gescheitert. Im Interview mit der taz macht Luisa Neubauer die CDU, SPD, FDP, Wirtschaft und Presse dafür verantwortlich.  "Wir werden den Übergang in eine klimaneutrale Gesellschaft nicht erreichen, wenn wir Klimaschutz so absolut setzen, dass er keine Rücksicht mehr nimmt auf die Lebensrealität der Mehrheit und auf wirtschaftliche und soziale Faktoren", räumt dagegen der Grünen-Politiker Ralf Fücks im Tagesspiegel-Gespräch ein: Die Initiatoren des Volksentscheids Klimaneustart "nicht verstanden, dass nicht nur das Klima ein sehr fragiles System ist, sondern auch die Gesellschaft. In ihr kann man nicht beliebig herumfuhrwerken, ohne dass es zu massiven Verwerfungen kommt.  In den Tabellen der Klimaforscher finden sie keine Antwort darauf, wie man die Energieversorgung, die Mobilität und die Gebäudesubstanz einer Millionenstadt und die dahinterstehenden Produktionsprozesse klimaneutral gestalten kann."

Auch die Klimawahl zeigt die Teilung Berlins in Innen und Außen, bemerkt Johannes Schneider auf ZeitOnline: "So wie außerhalb des berüchtigten S-Bahn-Rings der Hauptstadt vor sechs Wochen bei der Wiederholung der Berliner Landtagswahl die CDU fast alle Direktmandate gewonnen hat, so stimmte diesmal etwa in den Außenbezirken Spandau, Reinickendorf, Steglitz-Zehlendorf und Marzahn-Hellersdorf jeweils die Mehrheit der Wenigen, die überhaupt ihre Stimme abgaben, mit Nein und damit gegen die vorgezogene Klimaneutralität; und so wie vor sechs Wochen die Grünen den Innenstadtbereich gewannen und trotzdem die Wahl verloren, so wird auch das mehrheitliche Votum für den Volksentscheid dort diesmal wirkungslos bleiben."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Im Standard-Interview mit Ruth-Renee Reif spricht die Wissenschaftlerin Anke Graneß über ihr neues Buch "Philosophie in Afrika", in dem sie sich mit der eurozentrischen Perspektive der Philosophie auseinandersetzt. Der Ausschluss außereuropäischer Philosophietraditionen sei "eine Folge der europäischen Kolonisation", sagt sie: "Durch sie wurde in allen Regionen der Welt das europäische universitäre System etabliert und damit auch die akademische europäische Philosophie. In Lateinamerika etwa, wo die Kolonisation früh erfolgte, gab es bereits im 16. Jahrhundert philosophisch-theologische Schulen und dann auch erste Universitäten nach europäischem Vorbild. Eine Ausnahme scheint China zu sein, wo die eigene philosophische Tradition stark im universitären System verwurzelt ist. In Afrika und Südamerika aber setzten erst im Prozess der Dekolonisierung oder sogar erst während der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre Bemühungen ein, sich mit der Geschichte vorkolonialer philosophischer Traditionen zu befassen."

Außerdem: Der Historiker und Publizist Wolfgang Schivelbusch ist am Sonntag im Alter von 81 Jahren gestorben, meldet unter anderem die SZ.
Archiv: Ideen