9punkt - Die Debattenrundschau

Rasende Kausalketten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2023. In der FAZ ist der israelische Schriftsteller Ron Segal überzeugt, dass die israelische Demokratie ohne Verfassung  von innen angreifbar bleibt. Und von außen:  Denn Netanjahu lenkt mit seiner Politik nur vom Iran ab, warnt die Welt. Die taz beobachtet Angriffe auf schwarze Immigranten in Tunesien und Algerien. Auf Zeit online wehrt sich Minitta Kandlbauer gegen Zuschreibungen wie weiß, schwarz oder Latina: "Dieses identity policing von multiethnischen Menschen ist eine rassistische Tradition." Welt, SZ und FAZ erinnern an den Historiker Wolfgang Schivelbusch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.03.2023 finden Sie hier

Politik

Nachdem Tunesiens Präsident Kais Saied im Februar "Horden illegaler Migranten" in Tunesien angeprangert und ihnen "Gewalt, Verbrechen und inakzeptable Handlungen" vorgeworfen hatte, häuften sich die Angriffe auf Schwarze - oft mit Zutun der Polizei. Inzwischen haben einzelne afrikanische Staaten damit begonnen, ihre Landsleute aus Tunesien auszufliegen, berichtet Dominic Johnson in der taz: "Guinea war das erste Land, das verfolgte Landsleute aus Tunesien evakuierte. ... Andere Länder folgten: Burkina Faso, Elfenbeinküste, Mali, Senegal. Insgesamt sind mehrere Tausend Menschen aus Tunesien nach Hause gebracht worden. Allein die Elfenbeinküste hat bislang 1.053 Rückkehrer aufgenommen - von rund 7.000 Ivorern in Tunesien insgesamt. Der bislang letzte Flug landete am vergangenen Donnerstag. Sie alle werden bei der Ankunft überprüft, polizeilich befragt und medizinisch untersucht, bevor sie in ein Transitzentrum kommen, jeweils umgerechnet 244 Euro bekommen und dann sehen müssen, wo sie bleiben. Viele haben alles verloren und nicht nur in der Elfenbeinküste scheuen sich Rückkehrer oft davor, zu ihren Familien zurückzugehen, wenn sie mit leeren Händen kommen."

In Algerien wiederum werden jährlich Zehntausende Menschen abgeschoben, berichtet Sofian Philip Naceur, ebenfalls in der taz. "Seit Jahren lassen algerische Behörden willkürlich und unter eklatanter Verletzung internationaler Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen fast wöchentlich Hunderte Geflüchtete und Migranten im Norden Algeriens verhaften. Die Menschen werden in Buskonvois in das rund 2.000 Kilometer südlich von Algier gelegene Tamanrasset transferiert. Auf Grundlage eines 2014 unterzeichneten Rücknahmeabkommens zwischen Niger und Algerien werden diese dann auf Lkws gepfercht und meist am sogenannten 'Point Zero' mitten in der Sahara ausgesetzt. Von diesem noch auf algerischem Territorium befindlichen Ort werden Abgeschobene gezwungen, rund 15 Kilometer nach Assamaka zu laufen, wo MSF, APS oder IOM Nothilfe leisten."

Die liberalen Israelis haben mit ihren massiven Protesten in den letzten Wochen einen Aufschub der Justizreform bis Ende April erreicht. Aber der Backlash wird nicht auf sich warten lassen, ist der israelische Schriftsteller und Filmemacher Ron Segal in der FAZ überzeugt, selbst wenn Netanjahu die Reform ganz aufhebt: "Anstatt sich von einem euphorischen Triumph darüber blenden zu lassen, dass die Reform verschoben oder sogar zurückgezogen wurde, sollte die Öffentlichkeit, die sich dem juristischen Staatsstreich widersetzt, die gegenwärtige Krise als eine Gelegenheit sehen, die Grundgesetze Israels fester im politischen Leben zu verankern, oder besser: eine Verfassung für den Staat Israel zu schaffen."

Die Demonstranten machen sich auch keine Illusionen, schreibt Judith Poppe in der taz: "Am Dienstag wurde bekannt, dass kurz vor Netanjahus Rede der Gesetzesentwurf zur Ernennung von Richtern in einem Eilverfahren durch den Verfassungsausschuss des Parlaments gedrückt wurde. Das heißt: Er kann jeden Moment zur Abstimmung gebracht werden." Außerdem hatte die Zustimmung des rechtsextremen Koalitionspolitikers Itamar Ben-Gvir zur Verschiebung der Reform einen Preis, so Poppe: "Nach stundenlangen Verhandlungen sicherte Netanjahu ihm nun eine lang ersehnte Nationalgarde zu, die in Ben-Gvirs Ministerium eingerichtet werden soll."

Netanjahu gefährdet derzeit sowohl die Sicherheit Israels als auch sein Lebenswerk, schreibt Daniel-Dylan Böhmer in der Welt. Denn es war Netanjahu, der Friedensschlüsse arabischer Staaten mit Israel erreichte. Nun aber lässt das Justizchaos in Jerusalem "Israel nicht mehr als verlässlichen Partner erscheinen, sondern als Staat, den sein Premier umbaut, um einerseits seinen Korruptionsprozessen zu entkommen, und andererseits die Interessen seiner ultrareligiösen Koalitionspartner zu bedienen, die den Konflikt mit den Palästinensern gezielt eskalieren." Auch die Hoffnung auf einen Friedensschluss mit Saudi-Arabien hilft nicht gerade, dass "in Jerusalem eine Koalition regiert, deren Angehörige Deportationen von Arabern befürworten, Sympathie für die Verwüstung palästinensischer Dörfer durch jüdische Siedler erkennen lassen und vor Israel-Karten auftreten, auf denen auch ein Teil Jordaniens zum israelischen Territorium gehört."
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Gesellschaft

Minitta Kandlbauer, Herausgeberin des Antirassismus-Handbuchs "War das jetzt rassistisch?", hat eine weiße österreichische Mutter und einen nigerianischen Vater. Über ihre Hautfarbe machte sie sich nie Gedanken, bis sie in Österreich schwarz und in den USA als Latina wahrgenommen wurde, erzählt sie auf ZeitOnline: "Als mixed Person sammelt man im Laufe des Lebens eine Liste von Ethnien, für die man gehalten wird. Wie ein Chamäleon können wir uns scheinbar an ethnische Gruppen anpassen. Fürs falsche Raten schämt sich keiner, denn meine Identität darf in der Gesellschaft immer wieder neu verhandelt werden. Wer ich bin, entscheide nicht ich selbst. Ich erfahre es immer wieder von Neuem. Mal bin ich schwarz in Österreich und weiß in Nigeria, dann wieder eine Latina oder doch arabisch. Ich habe keine Lust mehr darauf, mir sagen zu lassen, wer ich bin und woher ich angeblich komme. Dieses identity policing von multiethnischen Menschen ist eine rassistische Tradition, die vor nicht allzu langer Zeit in vielen Ländern noch in Gesetze gegossen wurde."

1989 träumte die unter dem Pseudonym schreibende Psychotherapeutin Katrin Grosse, die in der Berliner Zeitung doch lieber anonym bleiben möchte, noch von einer "neuen DDR". Dann aber fielen die "Rattenfänger um Kohl und Konsorten" in ihr Land ein, schreibt sie. "In Krisenzeiten wie diesen (Ukraine- Krieg, Militarisierung, Inflation) brechen auch die ideologischen Unterschiede der beiden deutschen Staaten wieder mit voller Wucht auf. Es war eben nicht ein Deutschland. Es waren zwei völlig gegensätzliche Gesellschaftssysteme. Das eine ein bunter Absatzmarkt für Amerika, schön von dort gepampert, Schonraum für Kriegsgewinnler und Nazigrößen, die weiter in Amt und Würden bleiben konnten. Das andere, brachial 'entnazifiziert', zahlte allein die Reparationen an das mit Vernichtungsabsicht überfallene Volk der Sowjetunion (27 Millionen Tote) und ließ sich als Besatzungszone - bis Gorbatschow kam - politisch- ideologisch knechten. Und dann wird in Siegermanier gerätselt, was mit dieser seltsamen Spezies Ossi nur los ist."
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Europa

Der Ansatz "Wandel durch Handel" war falsch, "denn die Wirtschaft treibt nicht die Politik. Es ist umgekehrt", sagt der ehemalige französische Ministerpräsident François Hollande im großen FR-Gespräch über Putins Lügen, Frankreichs Rechte, die Gefahr durch China und die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehung: "Die Qualität der deutsch-französischen Beziehungen ist ausschlaggebend für den Fortschritt der Europäischen Union, heute mehr denn je. ... Das Wichtigste ist, gemeinsam ein 'Europa der Verteidigung' aufzubauen, das es uns ermöglicht, im Rahmen der Nato auf alle heutigen Bedrohungen reagieren zu können. Dies gilt auch für militärischen Ausrüstungsprojekte, für Investitionen in die Cyberverteidigung und die technologisch fortschrittlichsten Waffen."

Wie gut wäre die Regierung in Berlin eigentlich auf einen Atomangriff vorbereitet, fragt im Frankfurter Allgemeine Quarterly Lorenz Hemicker anlässlich der Drohungen Putins und lernt: "Vernünftige Möglichkeiten, sich im Falle eines drohenden gezielten nuklearen Angriffs auf das Berliner Regierungsviertel in Sicherheit zu bringen, gebe es so gut wie keine, heißt es aus Parlamentskreisen. Während der Zeit des Kalten Kriegs verfügte Deutschland im Krisen- und Verteidigungsfall über einen gehärteten Ausweichsitz in der Eifel für alle Verfassungsorgane des Bundes. In der Bunkeranlage, rund eine halbe Autostunde südlich von Bonn, hätte die Bundesregierung ihre Regierungsgeschäfte weiterführen sollen. Ende der 90er-Jahre wurde sie aus Kostengründen stillgelegt. Heute ist noch nicht einmal verbrieft, ob es für den Bundeskanzler und seinen engsten Stab in Berlin eine Möglichkeit gibt, sich rasch in Sicherheit zu bringen." Auch für die Bevölkerung gibt es kaum sichere Schutzräume in Deutschland.
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Ideen

Gestern wurde bekannt, dass der Historiker Wolfgang Schivelbusch am Sonntag im Alter von 81 Jahren verstorben ist. In der SZ erinnert sich Peter Richter heute sehr persönlich an Gespräche, die aus "rasenden Kausalketten" bestanden: "Mitschreiben ging nicht. Mitschneiden noch weniger. Außer einmal, da ging es um den Gebrauch der legendären New Yorker Bibliotheken im Zuge ihrer Digitalisierung, die er als Entsinnlichung intellektueller Tätigkeit erlebte. Verlusterfahrungen, Niederlagen, Rückzüge waren generell häufig sein Thema, aber immer auch als Fortschrittsmotoren, also befeuert von der Lust an der Dialektik und am Denken in Widersprüchen."

In der Welt erinnert Magnus Klaue daran, weshalb Schivelbusch im Umfeld der linken Sozialgeschichte ebenso wie der postmodernen Kulturwissenschaft "verdächtig beäugt" wurde: "Weil er die Übergänge zwischen dem vermeintlich Entgegengesetzten lebensgeschichtlich selbst verkörperte. Von Hause aus nicht Historiker, sondern Literaturwissenschaftler und Soziologe, erfuhr er seine geistige Sozialisation in der akademischen Linken, studierte bei Theodor W. Adorno in Frankfurt, Peter Szondi in Berlin und schrieb 1974 seine Dissertation über das sozialistische Drama nach Brecht bei Hans Mayer, der seinerseits biografisch eine Zwischenstellung zwischen DDR und BRD, Westen und Osten einnahm, für die Schivelbusch sich später immer wieder interessiert hat." In der FAZ schreibt Helmut Mayer den Nachruf.
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Kulturpolitik

Scharouns Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße in Berlin wird in drei Jahren offenbar bis "etwa 2040" wegen Renovierung geschlossen, lesen wir so nebenbei in der FAZ. Das ist es aber gar nicht, was Gerald Wagner ärgert, sondern das Vorhaben von Generaldirektor Achim Bonte, das Haus in ein "lebendiges Kommunikationszentrum" zu verwandeln, in dem die Studenten "sitzen, stehen oder liegen" können, "absolute Ruhe oder gute Gesprächsmöglichkeiten" finden. Und die Forscher, ruft ein entgeisteter Wagner? Sind ihre Ansprüche "denn nicht durch den eigentlichen Existenzzweck dieses Hauses legitimiert? Nämlich eine 'Forschungsbibliothek der Moderne' zu sein, auch nach 2050?"

Die Neue Pinakothek ist im fünften Jahr geschlossen, das Haus der Kunst dringend sanierungsbedürftig - und die Sanierung des Gasteigs bis auf weiteres verschoben, schreibt Susanne Hermanski in der SZ: "Um die horrende Baukostensteigerung von den ursprünglich errechneten 450 Millionen Euro hochzurechnen - auf eine knappe Milliarde -, brauchten die Münchner ebenso wenig ein Orakel wie mögliche Investoren. Falls es Interessenten gab, haben sie inzwischen das Weite gesucht. Wann und wie die Generalsanierung des Gasteig nun vonstatten gehen soll, ist ungewiss. Um die Katastrophenplanung zu überschminken, wird die größte Kulturzentrumsruine Europas jetzt der Freien Szene als Spielplatz zur Zwischennutzung zur Verfügung gestellt. Die Bibliothek, die Musik- und die Volkshochschule quetschen sich in die Container neben der Isarphilharmonie."
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