9punkt - Die Debattenrundschau

Hegemonistische Narrative

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2023. Die Museumsleiterin Olesia Ostrovska-Liuta schildert im Tagesspiegel die Muster russischer Gewalt gegen die ukrainische Kultur, die eine lange Geschichte haben. Das "Karfreitagsabkommen" wird 25 Jahre alt, noch ist man sich aber nicht ganz sicher, wie es heißt - taz und FAZ erinnern. Die "Friedensinitiative" um Peter Brandt bringt Argumente aus den achtziger Jahren, die heute nicht richtiger sind, schreibt Gerhart Baum in der SZ. Die SZ hat herausgefunden dass die Skulpteure der Benin-Bronzen am liebsten mit  rheinischem Metall arbeiteten, berichtet die SZ. Die Ruhrbarone schildern die missliche Lage des Lokalrundfunks in Städten wie Gelsenkirchen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2023 finden Sie hier

Europa

Die Museumsleiterin Olesia Ostrovska-Liuta schildert im Tagesspiegel die Muster russischer Gewalt gegen die ukrainische Kultur, die eine lange Geschichte haben, wie sie ihrer Tochter am Küchentisch erklärt: "Wir erinnerten uns an die Ermordung von Hunderten ukrainischer Kulturschaffender in Karelien im Jahr 1937 und an die nach Russland verschleppten Archive der ukrainischen Volksrepublik. Wir sprachen über die Mosaike der gesprengten St. Michaels-Kathedrale mit der goldenen Kuppel in Kiew und an das Ende der zwanziger Jahre zerschlagene ukrainische Avantgarde-Theater Berezil von Charkiw. All diese Ereignisse waren ab dem 24. Februar 2022 nicht mehr nur historisch. Sie wurden zur Datengrundlage für die tägliche Entscheidungsfindung. Nach Rückzug der Russen aus ukrainischen Städten konnten wir uns vor Ort ein Bild machen. Wir sahen immer Zerstörung und Plünderung von Museen und die Ermordung von Kulturschaffenden. Die Gewalt der Vergangenheit war tatsächlich Russlands Strategie für die Zukunft."

Eine "deutsche Krankheit" attestiert Gerhart Baum, Elder Statesman der FDP, in der SZ den Unterzeichnern der "Friedensinitiative" (Unser Resümee). Darunter sind viele prominente Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die ihre Skepsis, die Freiheit notfalls mit Waffen zu verteidigen, bereits in den Achtzigerjahren mit der Ablehnung des Nato-Doppelbeschlusses zum Ausdruck brachten, erinnert Baum. Aber: "Wie weltfern sind Illusionen, die annehmen, Putin könne in seiner Nachbarschaft eine unabhängige, demokratisch verfasste Ukraine dulden, die auch noch wirtschaftlich prosperiert und sich mit gutem Recht nach Westen orientiert. Putin wird es nicht ertragen, mit diesen Zielen zu scheitern. Ich sehe zurzeit keinen diplomatischen Weg, der die Lage nicht verschlimmern würde. Das ist schwer zu ertragen. Noch schwerer zu ertragen ist aber, dass Frieden auf Kosten der Freiheit erfolgen soll."

Der Streit in Nordirland fängt immer schon mit den Namen an. Das gilt auch für das "Karfreitagsabkommen", dessen 25. Jahrestag zur Zeit mit eher gedämpfter Energie gefeiert wird, schreibt Gina Thomas in der FAZ. In einem jüngst veröffentlichten Papier des Congressional Research Service, das Mitglieder des amerikanischen Kongresses mit Hintergrundberichten und Analysen beliefert, warnen Politiker, dass die unionistisch-protestantische Gemeinschaft diesen Namen als Zeichen der Eingenommenheit für die nationalistisch-katholische Seite werte. Bezeichnenderweise wählte die Regierung für die Broschüre, die damals vor der Volksabstimmung jedem Haushalt zur Information geschickt wurde, den neutralen Begriff 'Agreement'. Einige Stellen benutzten beschwichtigend den Doppelnamen 'Belfast/Good Friday Agreement'. Die Website der britischen Regierung spricht vom Belfast Agreement und setzt Good Friday in Klammern."

In der taz schreibt Irland-Korrespondent Ralf Sotschek über den anhaltenden Streit: "Als das Belfaster Abkommen unterzeichnet wurde, trennten 24 Mauern die protestantischen und katholischen Viertel Belfasts. Heute sind es über vierzig. Eine Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen hat in den am stärksten benachteiligten Vierteln seit Unterzeichnung des Belfaster Abkommens kaum stattgefunden, das Misstrauen sitzt tief."

Die Familie Erdogan hat im Irak Millionen mit Ölgeschäften verdient, die illegal waren und die durch ein internationales Schiedsgericht verboten wurden - die Strafe dafür zahlte allerdings der türkische Staat, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Dann aber deckten unabhängige Medien das Beziehungsgeflecht hinter dem Ölgeschäft auf und berichteten über die Rolle der Familie Erdogan. Wenige Stunden danach verhängte ein Gericht in Istanbul eine Sperre über alle Berichte, in denen der Name von Schwiegersohn Albayrak vorkommt. Zugangssperren sind für uns Journalisten hierzulande Teil der Lebensrealität. Inzwischen gilt ein Journalist kaum noch als solcher, wenn nicht jeden Monat Berichte von ihm gesperrt werden oder er nicht vor Gericht erscheinen muss."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Überraschung: Nach über vierzig Jahren Dauerbetrieb ist auch die Berliner Staatsbibliothek sanierungsbedürftig, schreibt Susanne Lenz in der Berliner Zeitung. 2025 soll mit den Baumaßnahmen begonnen werden, die Schließung soll mehrere Jahre dauern: "Wenn jetzt ein Haus schließt, bleibt es lange und meist auch länger als geplant geschlossen. Man erinnere sich nur an die Staatsoper Unter den Linden. Man fragt sich bang, wann die Komische Oper wieder öffnen wird, die Ende dieser Spielzeit schließt, und wie es mit dem Sanierungsbedarf anderer Berliner Gebäude aussieht. Was ist mit der Neuen Philharmonie gegenüber der Stabi, ebenfalls von Hans Scharoun entworfen und noch vor der Stabi erbaut?"

Tatsächlich überraschend ist, was Hubert Filser auf den Wissensseiten der SZ berichtet: Anhand chemischer Signaturen im Metall hat der Bochumer Geochemiker Tobias Skowronek nachgewiesen, dass der Rohstoff Messing, aus dem die Benin-Bronzen gegossen wurden, "aus Europa stammt und sehr wahrscheinlich die zentrale, vielleicht sogar einzige Rohstoffquelle für die westafrikanische Gießereiindustrie war. (…) Überraschend war der Befund auch deshalb, weil die Gießer am Königshaus in Benin offenbar ausschließlich das rheinische Metall haben wollten, sagt Skowronek."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

"Abgetrennte Köpfe, von Brücken hängende Leichen, mit Bomben bestückte Geiseln": In Ecuador steigt die Gewalt, weil in Städten wie Berlin der Kokainkonsum steigt, schreibt Tjerk Brühwiller in der FAZ. Dabei ist Ecuador nur ein Transitland, um dessen Hafenstadt Guayaquil die mexikanischen Kartelle streiten: "Was Ecuador widerfährt, kann genauso gut auch andere Länder der Region treffen. Schwache Institutionen, Korruption, Straflosigkeit, Armut und andere Faktoren machen die Länder Lateinamerika anfällig und zu leichten Opfern für die immer mächtigeren Verbrecherorganisationen, die Teile dieser Staaten längst untergraben haben. Die treibende Kraft hinter diesem Geschäft ist die Illegalität. Und es ist die Gier. Nicht nur die Gier jener, die sich an diesem illegalen Milliardengeschäft direkt und indirekt bereichern, sondern auch derer, die für das Endprodukt bezahlen."

"In Sachen China scheint der Kanzler einerseits genau zu wissen, was zu tun wäre, und tut in wichtigen Momenten doch genau das Gegenteil", schreibt Kai Strittmatter im SZ-Feuilleton fassungslos über die Leichtgläubigkeit, mit der nicht nur Olaf Scholz trotz der gescheiterten Russland-Politik die Abhängigkeit von China vorantreibt: "Dabei braucht es nicht viel mehr als einen Blick, der zur Kenntnis nimmt, dass China Handel und Geschäft längst auch als geostrategische Waffe sieht (Litauen kann ein Lied davon singen). Dass es andere bewusst von sich abhängig macht. 'Wir müssen die Abhängigkeit der internationalen Produktionsketten von China vergrößern', sagte Xi Jinping in einer internen Rede vor zwei Jahren. Ein Anerkennen, dass China im Bemühen, die Weltordnung zu formen, uns längst die Wörter klaut und mit eigenem Inhalt füllt. Wenn es etwa wie vergangenen Monat Gäste aus hundert Ländern zu sich einlädt zu einem 'Forum der Demokratie', wo Peking 'hegemonistische Narrative' (also die der Demokratien) zur Demokratie anprangerte und sich unter Beifall der versammelten Pekingfreunde selbst zur besten aller Demokratien erklärt. Ja, China, ist anders. Aber anders anders, als viele denken."
Archiv: Politik

Religion

Auf ZeitOnline beleuchtet Andrea Böhm die Hintergründe der Entebbe-Konferenz, die von einer amerikanischen Anti-LGBTQ+-Gruppe unter dem Titel "Family Values and Sovereignty" organisiert wurde und an der Abgeordnete und Delegierte aus 22 afrikanischen Ländern teilnahmen. Mitinitiator ist die amerikanische christliche Lobbygruppe Family Watch International (FWI), die Homosexualität für eine "psychische Krankheit" hält: "Was lange übersehen wurde: Die religiöse Rechte in den USA hat ihre Agenda seit Jahrzehnten nach Afrika exportiert. Mit viel Geduld und großem Einsatz ist es der evangelikalen Rechten aus den USA gelungen, ihren schlechten Ruf als Unterstützer von Apartheid-Regimen auszuradieren und mit dem Image als Beschützer einer vermeintlich 'urafrikanischen' patriarchalen Familientradition zu ersetzen. Fundamentalistische Kirchen und Lobbygruppen überweisen seit Jahrzehnten große Summen an Schulen, Universitäten oder Krankenhäuser in afrikanischen Ländern. Oft ohne Zweckbindung oder Kriterien für transparente Buchhaltung, aber verknüpft mit der Bedingung, dass diese Institutionen sich von liberaleren kirchlichen Unterstützern aus dem Ausland lossagen."
Archiv: Religion

Ideen

Einer ihm dubios erscheinenden Psychologisierung begegnet Lorenz Jäger in dem Heft über "Renegaten" der Zeitschrift Mittelweg 36, das er für die Geisteswissenschaften-Seite der FAZ bespricht. "Die Einleitung von Carolin Amlinger, Nicola Gess und Lea Liese setzt den Ton für die meisten Beiträge. Alle genannten Ex-Linken haben ihren Abschied in Buchpublikationen zum Thema gemacht. Eigentlich aber gelten sie, die 'selbsternannten Renegaten', den Autorinnen als komische Figuren; die 'Tragödie' der abtrünnigen Kommunisten der Zwischen- und Nachkriegszeit werde von ihnen nachgespielt und damit zur 'Farce'. Diagnostiziert wird eine 'Pose', die 'nach Aufmerksamkeit giert'. Zudem sei der Renegat wahrscheinlich als Fall von 'gekränkter Männlichkeit' zu sehen."

Außerdem: Die "Westfälische Wilhelms-Universität" in Münster verzichtet auf ihren Namensgeber Wilhelm II. und wird künftig nur noch als "Universität Münster" firmieren, meldet unter anderem das ZDF. Laut FAZ wird nun aber nicht der Wegfall des Wilhelm, sondern des "Westfälischen" im Namen bedauert.
Archiv: Ideen
Stichwörter: Renegaten, Wilhelm Ii.

Wissenschaft

Die Angst geht um an deutschen Universitäten, schreibt Ronen Steinke, der in der SZ den jüngsten Fall um eine in letzter Sekunde vom Präsidenten der Hamburger Universität, Hauke Heekeren, gestoppte Konferenz über Utopien beleuchtet. Gäste aus aller Welt sollten unter dem Motto "Wir wollen unsere Welt zurück" debattieren. Aber nun gilt Hausverbot, da auch "kurdische Aktivisten, die der Separatistenpartei PKK 'nahestehen', in Hamburg ein Mikrofon in die Hand bekommen könnten. 'Laut Information des Landesamtes für Verfassungsschutz' sei dies zu befürchten, sagte der Pressesprecher des Uni-Präsidenten. Das gehe nicht. Juristisch ist das Unsinn, denn: Natürlich geht das. Die Kurdenpartei PKK ist in Deutschland zwar verboten, weil sie bei ihrem Kampf um politische Autonomie gegenüber der Türkei immer wieder auch auf Terroranschläge setzt. Aber dieses Verbot ist inzwischen sehr umstritten, es gibt ernst zu nehmende Menschen, die eine Aufhebung des Verbots und einen politischen Dialog vorschlagen, zum Beispiel der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich - immerhin liefern die Deutschen mittlerweile sogar Waffen an die Kurden, wenn es gegen Islamisten und andere Menschenrechtsfeinde geht. Und wo, wenn nicht an einer Universität, sollte man über so eine Frage einmal kundig - und frei - diskutieren können?"
Archiv: Wissenschaft

Medien

Der Lokalrundfunk in NRW ist in der Krise und beklagt sich auch in einem entsprechenden Papier, berichtet Michael Voregger bei den Ruhrbaronen. Die Radios gehören meist den großen Zeitungskonzernen in der Gegend, erläutert er und skizziert nebenbei die Situation in manchen Städten: "Gelsenkirchen ist die ärmste Stadt Deutschlands mit einem Durchschnittseinkommen von 17.015 Euro und einer Arbeitslosigkeit von 14,1 Prozent. Da bleibt nicht viel Geld für ein Zeitungsabo übrig. Die Lokalausgabe der WAZ verkauft in der Stadt mit rund 260.000 Einwohnern jeden Tag 17. 400 Ausgaben. Seit 2015 gingen 10.000 Leser verloren. Eine Stadtteilredaktion wurde bereits geschlossen und die Zukunft der Zeitung ist ungewiss. Gesellschaftliche Debatten finden hier kaum statt und erreichen immer weniger Menschen. Die Wahlbeteiligung lag bei der Kommunalwahl 2020 bei dem historischen Tiefstwert von 41,5 Prozent. Der Lokalsender Radio Emscher Lippe setzt in dieser Situation auf Unterhaltung, Nachrichten und Information. Journalistische Beiträge und Reportagen sind die Ausnahme."
Archiv: Medien