9punkt - Die Debattenrundschau

Das Schweigen des Westens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2023. Will nach der "Palästina spricht"-Demo am Wochenende in Berlin ernsthaft noch jemand behaupten, der BDS sei "gewaltfrei", fragt ein empörter Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen. Thierry Chervel liest im Perlentaucher  Reinhard Bingeners und Markus Wehners Buch "Die Moskau-Connection". In der SZ stellt der Sinologe Daniel Leese den Chefstrategen der KP China Wang Huning vor und seine eklektische Mischung aus sozialistisch fundiertem Kulturkonservativismus und dem Glauben an technische Lösungen. Im Tagesspiegel fürchtet Julia Ebner: Die Mitte wird rechts.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2023 finden Sie hier

Europa

Will nach der "Palästina spricht"-Demo am Wochenende in Berlin ernsthaft noch jemand behaupten, der BDS sei "gewaltfrei", fragt ein empörter Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen. "Zwei Dinge unterscheiden BDS, die angebliche Boykottkampagne gegen Israel, vom mörderischen Judenhass der Nazis: der Style ihrer Klamotten und das Vermögen, ihr Polit-Programm in die Tat umzusetzen, ansonsten kommen sie zur Deckung: Die Nazis marschierten durch Berlin und brüllten, 'Blut muss fließen knüppelhageldick, wir pfeifen auf die Freiheit der Judenrepublik!'; BDS marschiert durch Berlin und brüllt 'Tod den Juden'. So geschehen am Sonnabend auf der brutal verhetzenden Hass-Demo, die am helllichten Tag quer durch Neukölln zog und  -  ungehindert von der Polizei  -  den Terrormord an Juden propagierte. BDS mittendrin, das zeigt ein Video von democ, dem 'Zentrum demokratischer Widerspruch', einem Zusammenschluss von Journalisten und Wissenschaftlern, die demokratiefeindliche Bewegungen beobachten: BDS (ab Sek 25) innig umgeben von Agitation für die Kassam-Brigaden, dem Killer-Kommando der Hamas, von 'Mit unserem Blut befreien wir Aqsa!' und 'Rache, Rache!' und 'Tod den Juden!' Online ist BDS ebenso innig umgeben von Humboldtforum, Düsseldorfer Schauspielhaus, PACT Zollverein, Hebbel am Ufer, Museum am Rothenbaum, Württembergischer Kunstverein Stuttgart usw., sie alle bewerben BDS  -  und also deren 'Tod den Juden'-Programm  -  auf ihren Websites. Auch jetzt noch."



Perlentaucher Thierry Chervel liest Reinhard Bingeners und Markus Wehners Buch "Die Moskau-Connection", in dem die Autoren über die skandalös engen Netzwerke von deutschen Politikern - meist von der SPD - und russischen Oligarchen recherchieren. Über Jahrzehnte, so Chervel, präparierten Gerhard Schröder und viele viele Genossen deutsche Infrastrukturen als eine Art Brautgeschenk für Wladimir Putin. Moralische Bedenken kamen ihnen nicht: "Warum fordert niemand einen Untersuchungsausschuss des Bundestags, der diese Verfehlungen aufarbeitet", fragt Chervel. Stattdessen herrscht Business as usual: "Heute hat man das Gefühl, auf eine unheimliche Szenerie zu blicken. Figuren wie Manuela Schwesig oder Frank-Walter Steinmeier bewegen sich wie Gespenster hinter Milchglas. Müssten sie nicht eigentlich vor Scham zerfließen? Aber der Eindruck trügt. Schwesig wurde jüngst mit 88,5 Prozent als Landesvorsitzende der SPD in Mecklenburg-Vorpommern wiedergewählt. Steinmeier empfängt mit Frack und Schärpe den neuen britischen König und zeichnet seine ehemalige Chefin mit einem unverdienten 'Großkreuz in besonderer Ausfertigung' aus. Und die Bevölkerung ist zufrieden. Sie fühlt sich weiterhin gut verwaltet. Auch die Medien haben das Thema mehr oder weniger ad acta gelegt und widmen sich genüsslich den Kabbeleien in der Ampelkoalition."

Dem russischen Journalisten und Regimegegner Wladimir Kara-Mursa droht in Moskau eine Gefängnisstrafe von 25 Jahren. Er ist eines der Opfer von Putins Giftattacken, leidet unter Spätfolgen und hat in der Haft bereits 17 Kilo Gewicht verloren. Gestern fand der letzte Prozesstag statt. Die Washington Post bringt sein Schlussstatement. Der Richter hatte ihm gesagt, dass er bei einem Reuebekenntnis mit Milde rechnen können. Aber "ich empfinde nicht nur keine Reue, ich bin stolz  darauf, dass Boris Nemzow mich in die Politik gebracht hat. Und ich hoffe, dass er sich nicht für mich schämt. Ich stehe zu jedem Wort, das ich gesprochen habe, und zu jedem Wort, das mir von diesem Gericht vorgeworfen wurde. Ich werfe mir nur eines vor: dass es mir in den Jahren meiner politischen Tätigkeit nicht gelungen ist, genügend meiner Landsleute und genügend Politiker in den demokratischen Ländern von der Gefahr zu überzeugen, die das derzeitige Regime im Kreml für Russland und für die Welt darstellt."

Ohne besonders konkret zu werden, denkt der Politologe Peter R. Neumann im Tagesspiegel mit Blick auf den Krieg in der Ukraine über mögliche Lehren aus dem Karfreitagsabkommen nach. Er erinnert etwa an den Konflikt zwischen Frieden und Gerechtigkeit, den es hinsichtlich der Freilassung von Gefangenen gab: "Mit dem Ende des Konflikts wurden alle Häftlinge der IRA und anderer terroristischer Gruppen auf freien Fuß gesetzt. Darunter waren Mörder, die Hunderte von Menschen auf dem Gewissen hatten und dafür oftmals nur wenige Jahre - in einigen Fällen: nur ein paar Monate - verbüßen mussten. Nicht nur für die protestantische Bevölkerungsmehrheit, die besonders stark unter der IRA gelitten hatte, war dies schwierig. Als wenig später bekannt wurde, dass vormalige Terroristen in staatlich finanzierten Projekten arbeiten konnten, bekamen selbst Unterstützer des Friedensprozesses Zweifel. Wie konnte es sein, dass Mörder nicht nur ungestraft davon kamen, sondern auch noch belohnt wurden?"
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Politik

Während in Berlin "Tod den Juden" gebrüllt wurde, beschossen arabische Terroristen am Wochenende Israel mit Bomben (mehr dazu in der taz). Dass ändert nichts daran, dass immer noch zehntausende Israelis gegen die Regierung Netanjahu protestieren, auch der Schriftsteller und Rechtsanwalt Yishai Sarid, der im Interview mit der FAZ erklärt: "Die aktuellen Proteste kreisen zentral ja nicht um die Palästinenserfrage, und doch sehen immer mehr Leute, wie sehr diese ungelöste Situation maßgeblich von den Siedlern zu verantworten ist. ... Die Last, über so viele Jahre Gewalt anzuwenden und auch anwenden zu müssen, um als Nation zu überleben, prägt uns. Ich bin kein Pazifist und überzeugt, dass Israel stark sein muss und eine wehrhafte Armee braucht. Die Palästinenser sind an der verfahrenen Situation nicht ganz unschuldig, sie haben ihren Anteil daran. Aber wenn eine Gesellschaft so viele Jahre mit Gewalt zu tun hat, dann hat das auf alle Auswirkungen. Und was wir heute an Rassismus und antiarabischen Aktionen in Israel erleben, ist die Folge solcher Prozesse."

Abgeschossen wurden die Raketen aus Südlibanon, der zum Teil von der Hisbollah kontrolliert wird. "Hamas und Hisbollah arbeiten schon lange zusammen", erklärt im Interview mit der taz der israelischer Generalmajor Yaakov Amidror. "Die Hisbollah hat geholfen, die Hamas aufzubauen, hat ihre Kämpfer trainiert. Und sie verbessern ihre Beziehungen immer weiter, Hamas-Kämpfer sind im Libanon sehr aktiv, einige Führungsfiguren der Gruppe leben dort, unter dem Schirm der Hisbollah. Beide Gruppen gehören dem 'Ring des Feuers' aus antiisraelischen, dem Iran verbundenen Milizen und Gruppen an, die dieser rund um Israel aufgezogen hat. ... Diese antiisraelischen Kooperationen sind nicht neu, werden aber immer weiter forciert. Und das Schweigen des Westens ist gefährlich: Israel ist umschlossen von Terrorgruppen, und bisher gab es auch zu den jüngsten Angriffen kaum Reaktionen - erst wenn Israel sich wehrt."

In der SZ porträtiert der Sinologe Daniel Leese den Politologen Wang Huning, der als Chefstratege der Kommunistischen Partei Chinas unter Xi Jinping laut Leese derzeit als "mächtigster Intellektueller der Welt" gilt: "Die Grundzüge seines Denkens drehen sich vor allem um die Frage, wie es praktisch gelingen könne, China zu einem geeinten, modernen und mächtigen Staat aufzubauen. (…) Wangs Ansichten prägen die chinesische Politik bis heute nachhaltig. Im Kern seines Denkens zeigt sich dabei ein Widerspruch zwischen politischen Zielen und praktischer Umsetzung. Das Ziel einer transparenten sozialistischen Demokratie soll durch autoritär vermittelte Kernwerte und technologische Steuerungsinstrumente erreicht werden. Diese eklektische Mischung aus sozialistisch fundiertem Kulturkonservativismus und dem Glauben an technische Lösungen, nicht zuletzt dem Sozialkreditsystem sowie der Einbeziehung des Volkswillens in Form einer 'konsultativen Demokratie', wird auch in Zukunft westliche Regierungsvorstellungen herausfordern und bedarf einer ernsthaften Auseinandersetzung."

In Europa mag die russische Propaganda heute weitestgehend gefiltert werden, im Nahen Osten funktioniert sie ungebremst, warnt in Politico der britische Politikwissenschaftler H.A. Hellyer. So wurden Weißhelme in Syrien für angebliche Angriffe mit Chemiewaffen verantwortlich gemacht oder die EU und die USA für die globale Weizenkrise. Der Ukraine wird etwa unterstellt, sie habe geheime Labors zur Entwicklung biologischer Waffen gebaut, so Hellyer. "Schauen Sie einfach hinter viele der falschen Behauptungen, die in den sozialen Medien verbreitet werden, und Sie werden Sputnik und RT Arabic finden. Der Sender, der im Nahen Osten so bekannt ist wie einst in Europa, sendet 24 Stunden am Tag über acht Satellitensender und gehört damit zu den fünf meistgesehenen Nachrichtensendern in der Region. Darüber hinaus ist RT Arabic auch eine der beliebtesten Nachrichtenseiten in der Region, die in manchen Monaten sogar Al-Jazeera übertrifft, und sein YouTube-Kanal hat mehr Abonnenten als jede andere RT-Tochtergesellschaft. Insgesamt haben die Social-Media-Plattformen von RT Arabic 804 Millionen Aufrufe erreicht - eine Zahl, die seit Februar 2022 exponentiell gestiegen ist. Die bedeutende Online-Präsenz von RT Arabic bedeutet, dass die kremlfreundliche Propaganda direkt an die jüngeren Generationen in der arabischsprachigen Welt herangetragen wird - und die Methoden sind nicht gerade subtil."
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Internet

Im SZ-Feuilleton rufen der Philosoph Julian Nida-Rümelin und die Kulturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld mit Blick auf die Panik um Chat-GPT zu mehr Gelassenheit auf. Den Unterzeichnern des Aufrufs zum Moratorium (Unser Resümee), darunter Yuval Noah Harari und Elon Musk, werfen sie "animistisch inspirierte Hysterie" vor: "Wir tun so, als hätten wir vergessen, dass wir es sind, die diese Systeme entwickelt und produziert haben: Und nun stellen wir überrascht fest, dass sie das Verhalten zeigen, zu dem sie von uns entwickelt worden sind? Die beste Erklärung, dass Sprachproduktionssysteme so ähnlich 'kommunizieren' wie Menschen und Kenntnisse zeigen, über die sonst nur Experten verfügen, ist, dass es gelungen ist, ein hocheffektives Sprachmodell zu implementieren und dieses auf zahllosen Textkorpora und Datenbeständen zu trainieren. Auch das am höchsten entwickelte Softwaresystem versteht nichts, verfügt nicht über Bedeutungen, hat keine Semantik, verfolgt keine Absichten, hat keine Gefühle, kooperiert und berät nicht, es trägt keine Verantwortung."
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Geschichte

Der wirtschaftliche Aufstieg Europas beruhe vor allem auf der Ausbeutung Afrikas, schreibt Howard W. French, Korrespondent der New York Times, in seinem aktuellen Buch "Afrika und die Entstehung der modernen Welt". Im SZ-Interview mit Jörg Häntzschel spricht er von einem zweifachen "Genozid": Den amerikanischen Ureinwohnern in Brasilien und Karibik sei das Land entrissen worden, während sich die verschleppten afrikanischen Sklaven auf den Plantagen innerhalb von fünf Jahren zu Tode arbeiteten, sagt er. Die Ureinwohner ließen sich hingegen nicht versklaven, denn sie "hatten keine natürlichen Abwehrkräfte gegen die Krankheiten, die die Europäer mitbrachten. Sie starben wie die Fliegen. Auf den entleerten Inseln ließen die Europäer dann also die Afrikaner diese harte Arbeit machen. Der zweite Grund ist: Die natives kannten sich aus, kannten die Wälder, die Menschen in der Umgebung. Und wenn sie flohen, ließen sie sich als Sklaven nicht identifizieren. Wenn Sie hingegen einen Menschen aus Afrika verschleppen und vorher festgelegt haben, dass versklavt zu sein der natürliche Status eines schwarzen Menschen ist, können Sie per Gesetz bestimmen, dass es illegal für eine schwarze Person ist, frei zu sein."
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Gesellschaft

Zum Teil sind "extremistische Ideen und Verschwörungsmythen bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen …, auch bis in die bürgerliche Mitte", sagt die Journalistin Julia Ebner, die für ihr Buch "Massenradikalisierung" in der rechtsextremen Szene recherchiert hat, im Tsp-Gespräch: "Die Gesellschaft spaltet sich immer stärker in identitätsbasierte Lager auf: Das radiert die Mitte graduell aus und macht uns alle anfälliger für extreme Ideologien. In den USA sieht man die ersten Anzeichen von einer Massenradikalisierung vor allem durch den Sturm auf das Kapitol. Studien der University of Chicago, haben gezeigt, dass über 20 Millionen US-Amerikaner damit sympathisiert haben. Das ist eine Masse. Schon die genannten reichsbürgeraffinen fünf Prozent definiere ich als Masse. Das ist ein Anteil, der signifikant genug ist, Wahlen zu beeinflussen und in Politik und Behörden einen gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben."
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Medien

Wie eine "heiße Kartoffel" wurde Christine Richter als Chefredakteurin der Berliner Morgenpost fallen gelassen, schreibt Anna Ernst in der SZ. Gründe für die plötzliche Entlassung wurden nicht genannt, aber sie wurde "bereits im vergangenen Jahr schrittweise entmachtet. Das Online-Portal morgenpost.de wurde vom Sommer an von der Zentralredaktion mitbetrieben. Auch der traditionelle Sitz am Ku'damm wurde aufgegeben, die Morgenpost musste in die Nebenräume der Zentralredaktion an der Friedrichstraße einziehen. Intern vermuten manche Journalisten seitdem bereits, dass die Morgenpost eine Art 'Sterbekandidat' ist, der zum diesjährigen 125. Geburtstag nur noch am Tropf der Zentralredaktion hängt. Chefredakteurin Richter aber soll nach SZ-Informationen stets Rückgrat gezeigt und auch der Geschäftsführung mehrfach die Stirn geboten haben."
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