9punkt - Die Debattenrundschau

Schüren der Glut

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2023. Politische Gefangene in Belarus werden mit Aufnähern gekennzeichnet, um zu markieren, wer gewissenhafter gefoltert werden soll, sagt Swetlana Tichanowskaja in einer von der SZ veröffentlichten Rede. Auf die vielen Iranerinnen, die ohne Kopftuch auf die Straße gehen, werden jetzt die "Feuerfreien" losgelassen, berichtet die FAZ. Die Chinesen investieren und sprechen nicht von Menschenrechten, erklärt Asfa-Wossen Asserate in der NZZ afrikanische Sympathien für China. Und in der FR sieht Claus Leggewie Frankreich auf dem Weg in die "Sechste Republik".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2023 finden Sie hier

Europa

Das Rechtssystem in Belarus wurde zur Unterdrückungsmaschine umfunktioniert, sagt die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja in ihrer von der SZ heute veröffentlichten Rede, die sie als Schirmherrin zur Eröffnung der von der Körber-Stiftung in Hamburg veranstalteten Reihe "Tage des Exils" hielt. Sie spricht auch über die Haftbedingungen der mehr als 1500 politischen Gefangenen: "Sie sind Tag für Tag körperlicher Gewalt und psychologischer Folter ausgesetzt. Es werden ihnen grundlegende Menschenrechte und der Kontakt zu anderen vorenthalten. Sie erhalten keine Briefe, keine Päckchen, Lebensmittel oder Geldüberweisungen. Zur Kennzeichnung der politischen Gefangenen werden besondere Aufnäher genutzt, damit ihre Kerkermeister wissen, wen sie gewissenhafter foltern sollen. Im Schnitt gibt es pro Tag 17 neue politische Verhaftungen, und die Marionettengerichte des Regimes produzieren wie am Fließband massenhaft politische Urteile, ohne jede Gerechtigkeit. Man fragt sich, wie sie Zeit finden, echte Straftäter zu fassen, wo sie so beschäftigt sind mit der Jagd auf Regimegegner."

"Der Ukraine zum Sieg zu verhelfen, ist die letzte Chance für die westlichen Demokratien, selbst dem Krieg zu entgehen", schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Währenddessen kämpft die Ukraine gegen die Auslöschung ihrer Identität, und der Westen ist mitverantwortlich dafür, dass ihr Verteidigungskampf ins Stocken geraten ist: "Die adäquate Bewaffnung, mittels derer die Ukraine im vergangenen Herbst in den Stand hätte versetzt werden können, ihre Gegenoffensive fortzusetzen und Putins Terrorararmee weiter zurückzudrängen, blieb aus. Statt dessen konnte Russland seine Truppen für die jetztige neue Angriffswelle reorganisieren, während den ukrainischen Streitkräften  die Munition auszugehen droht."

Wer bereits glaubt, Erdogan würde die Wahl verlieren, "macht die Rechnung ohne den desolaten Zustand der Medien in der Türkei", warnt der im Pariser Exil lebende türkische Journalist Yavuz Baydar im Tagesspiegel: "Anders als etwa in Deutschland gibt es in der Türkei fast keine lokale Presse mehr. Diejenige, die es auf örtlicher Ebene noch gibt, hat kaum Reichweite. Die Verkäufe der rund 40 überregionalen Zeitungen sind in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Nach Angaben des Statistikamtes TUIK ist die Gesamtauflage der Presse seit 2013 um 49,4 Prozentpunkte gesunken. Zugleich haben immer mehr Menschen einen Zugang zum Internet. Wie in anderen Ländern auch sind die wichtigsten Plattformen Youtube, Instagram, Facebook und Twitter. Dort tobt der politische Kampf. Bei Twitter müssen kritische Beobachter, Journalistinnen, Bürgerrechtler und Akademiker mit Entsetzen feststellen, dass es eine Vielzahl von Fake-Accounts mit ihren Namen gibt."

Die radikale Rechte ist in Frankreich sehr viel weiter gelangt als je zuvor seit 1945 und Vichy, schreibt Claus Leggewie, der in der FR Frankreich auf dem Weg in die "Sechste Republik" sieht. Schuld sei Macron, der nach seiner Wiederwahl "parlamentarische Allianzbildung" versprach, aber nicht lieferte: "Der strategische Fehler war, dass Macron mit der Rentenreform angefangen hat, bevor er die wichtigeren Themen anpackt: die Anerkennung und Aufwertung prekarisierter, in der Pandemie zusätzlicher strapazierter Arbeitsverhältnisse. Die Wut über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist im Kern nämlich die Frustration über sinnentleerte, ausbeuterische und verächtliche Arbeitsverhältnisse, bis zu dem Zeitpunkt, an dem man 62 oder 64 geworden ist. Das antizipieren auch die Jüngeren, die einen beträchtlichen Teil der Protestbewegung ausmachen, weil sie überqualifiziert und unterbewertet in eine öde Arbeitsgesellschaft hineingeworfen werden."

Außerdem: Nach Macrons Äußerungen in Peking ist man in Paris bemüht, die Einheit "des Westens" zu versichern. Im Feuilleton der SZ nimmt Sonja Zekri das zum Anlass zu fragen: Was soll das eigentlich sein - "der Westen"?
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Politik

Im Iran kommen die Offiziellen nicht mehr an gegen all die Frauen, die ohne Kopftuch auf die Straße gehen. Darum werden jetzt die "Feuerfreien" auf sie losgelassen, berichtet Ali Sadrzahdeh in der FAZ. Revolutionsführer Ali Khamenei "hatte die 'Feuerfreien' selbst thematisiert, als er vor drei Jahren vor freiwilligen Paramilitärs eine Rede über die kulturellen Herausforderungen der Islamischen Republik hielt. Damals sprach er sein Publikum direkt mit den Worten an: 'Sie wissen sicherlich, was 'feuerfrei' bedeutet. Den Begriff verwendet man im Krieg, wenn ein Soldat ohne direkte Anweisung des Vorgesetzten handeln muss. Auch auf den Schlachtfeldern der Kulturkriege ist man mitunter gezwungen nach der Devise 'feuerfrei' zu handeln, weil die Regierung aus bestimmten Gründen nicht offensiv auftreten kann oder will. ... Seit die kopftuchlosen Frauen in der Öffentlichkeit Normalität zu werden drohen, häufen sich die Drohungen der 'Feuerfreien'. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo im Land ein Abgeordneter, ein Freitagsprediger oder die Mutter eines Märtyrers die Regierung dazu auffordert, gegen Frauen ohne Hidschab vorzugehen, weil sich sonst die feuerfreien Gläubigen gezwungen sähen, eigenmächtig zu handeln."

Im NZZ-Interview mit Lucien Scherrer spricht Asfa-Wossen Asserate, Großneffe des äthiopischen Kaisers Haile Selassie, auch über afrikanische Sympathien für China. Die Chinesen "haben das Leben vieler Afrikaner verbessert, sie bauen Straßen, Flugplätze, Mobilfunkanlagen, Wasserkraftwerke und Häfen. … Die EU ist als wichtigster Handelspartner verdrängt worden. Von 45 000 global tätigen deutschen Firmen sind nur 900 in Afrika vertreten, die meisten in Südafrika. Bei den Chinesen sind es 10 000 Firmen. Die Europäer sehen Afrika nur als Absatzmarkt, und sie wundern sich, dass die Afrikaner langsam wütend werden." Und: Die Menschen wissen, "dass die Chinesen nicht als Gutmenschen kommen, sondern als Händler und Vertreter einer Großmacht. Die Chinesen sagen den Afrikanern: 'Du gibst mir dein Erdöl, dein Kupfer, dein Coltan, deine seltenen Erden, und wir investieren dafür in deine Infrastruktur.' Aber im Gegensatz zu den Europäern haben sie keine Allüren, sie sprechen nicht von Demokratie und Menschenrechten, um bei nächster Gelegenheit vor korrupten Diktatoren zu knien. Sie haben noch einen großen Vorteil: Sie haben keine koloniale Vergangenheit, und sie stellen die territoriale Einheit von afrikanischen Ländern nicht infrage."
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Medien

Seit vier Jahren sitzt Julian Assange in einem Hochsicherheitsgefängnis in London ein. "Ohne verurteilt worden zu sein. Und auch im Vereinigten Königreich wurde er noch nicht angeklagt. Er ist in Auslieferungshaft, die von den USA beantragt wurde. Ohne Enddatum", erklärt seine Frau Stella Assange im Interview mit der taz. Und das geht alle an, denn Assange sitzt nicht im Gefängnis, weil er des Whistleblowings beschuldigt wird, erinnert sie. "Er ist als Verleger angeklagt worden. Aus diesem Grund haben Le Monde, The Guardian und The New York Times vor kurzem eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Darin erklären sie, dass das Verfahren gegen Wikileaks ein Verfahren gegen die Presse und die journalistische Tätigkeit ist. Die US-Regierung betrachtet die Kommunikation mit solchen Hinweisgebern als Verschwörung."

"Radio Free Europe hat heute womöglich eine noch größere Bedeutung als in seinen besten Zeiten", schreibt Willi Winkler, der dem Sender für die Seite 3 der SZ einen Besuch in Prag abgestattet hat: "Das Nachrichtengeschäft ist wieder gefährlich geworden, Radio Free Europe wird wie Radio Liberty wieder als fremde Macht und als Bedrohung wahrgenommen. Schon vor dem Überfall auf die Ukraine wurden die RFE-Mitarbeiter in Moskau offiziell zu 'ausländischen Agenten' erklärt. In Aserbeidschan wurde die Journalistin Khadija Ismayilova eingesperrt und erst nach internationalen Protesten nach eineinhalb Jahren Haft freigelassen. Wie in der besten Zeit des Kalten Krieges steht Strafe auf den Empfang von als westlich verstandenen Nachrichten. Wer in Belarus mit Material von RFE auf dem Handy erwischt wird, dem drohen mehrere Tage Gefängnis."
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Coup de théâtre. Marcel Lepper äußert sich. Zur Erinnerung: Der Literaturwissenschaftler war als Chef der stinkreichen Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, die leider ein paar Probleme mit der rechtsextremen Vergangenheit ihrer Ex-Chefs hatte, gefeuert worden, und es hieß, er habe eine Schweigevereinbarung unterzeichnet. Nun ist Lepper davon freigestellt, berichtet Knut Cordsen mit unklarer Begründung auf der Webseite des Bayerischen Rundfunks, und man kann nicht sagen, dass er ein Blatt vor den Mund nimmt. Lepper insistiert im Gespräch mit Cordsen, dass er die Aufarbeitung der rechtsextremen Geschichte betrieb: "Mir ging es ja in meiner Stiftungszeit, mir geht es auch als Wissenschaftshistoriker nie um das Fehlverhalten einer einzelnen Person, in diesem Falle des ersten Geschäftsführers der Stiftung, Armin Mohler. Über den entstehen eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten parallel. Mir ging es eher um die Strukturen, und bei den Strukturen wurde es dann schnell sensibel. Diese Strukturen ragen weit in die Gegenwart, diese Strukturen betreffen lebende Personen, die im Umfeld der Stiftung noch unterwegs sind, diese Strukturen betreffen eben auch Einschätzungen, Neigungen und nicht zuletzt liebgewonnene, geschützte Mechanismen dieser Stiftung, und da sprangen sofort die auch Abwehrreaktionen an, zunächst einmal einbremsend, verzögernd, dann aber auch deutlich aggressiver."
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Ideen

Wolfgang Michal bringt im Freitag einen Rundumschlag gegen die Osteuropaforschung, der auf Twitter große Empörung auslöst. Mit heute prominenten Autoren wie Franziska Davies oder Karl Schlögel setzt sich Michal aber gar nicht auseinander, sondern widmet der Nazivergangenheit, die die Osteuropaforschung mit allen anderen Wissenschaften in Deutschland teilt, lange Exkurse, um heutige Autoren damit sozusagen als automatisch kompromettiert darzustellen. "Wäre die 'Gefahr aus dem Osten' nicht im 'Krimkrieg' 2014 und im Ukrainekrieg 2022 wiedererstanden, hätte man die 'Feindwissenschaft', die sich als Osteuropa-Expertise tarnte, tatsächlich einmotten können. So aber sind 'Osteuropaexperten' wieder erstaunlich präsent."

Wärmepumpen sind nicht nur "laut und hässlich", schreibt Marcus Woeller, der sich in der Welt wehmütig an alte Kachelöfen erinnert: "Heizen war einmal ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem Menschen und der Hitzequelle. Das Entzünden des Feuers oder das Schüren der Glut waren noch Kulturtechniken der Beherrschung. Das Drehen am Thermostat verkümmerte dann schon zum bloßen Handgriff, eine Schwankung auszugleichen. Die Luft-Wasser-Wärmepumpe steht nun aber als sichtbarer Beweis vor dem Haus, dass wir uns dem automatisierten Smart-Home ausgeliefert haben."
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