9punkt - Die Debattenrundschau

Wer da so alles mitliest

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2023. Wladimir Putin scheint Alexei Nawalny zu Tode quälen zu wollen, fürchtet die taz. SZ und FAZ versuchen, mit Emmanuel Macrons leichtfertigen Äußerungen zu Taiwan fertig zu werden. In der Zeit beleuchtet der russische Kulturwissenschaftler Alexander Etkind die russisch-chinesischen Beziehungen: China hat Russland einiges zu verzeihen. Warum müssen die Staatsleistungen an die Kirchen abgelöst werden, da die Ansprüche über Jahrhunderte doch längst abgelöst sind, fragt die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.04.2023 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin scheint Alexej Nawalny zu Tode quälen zu wollen. Gerade ist er zum zum 13. Mal in die Isolationsstrafzelle verlegt worden, nachdem er gerade mal drei Tage draußen war, berichtet Anastasia Tikhomirova in der taz: "Informationen seines Anwalts zufolge musste Nawalny in der Nacht vom 7. auf den 8. April mit einem Krankenwagen aus seiner Zelle abgeholt werden, weil er unter starken Magenbeschwerden litt. Es heißt, er habe eine unbekannte Krankheit. Eine Behandlung findet nicht statt. Der ohnehin abgemagerte Häftling verlor innerhalb von nur zwei Wochen noch einmal 8 Kilo. Die Medikamente, die ihm seine Mutter schickte, hat er nicht erhalten. Auf die Frage, woran er denn leide, soll ihm der Gefängnisarzt geantwortet haben: 'Es ist Frühling, jeder hat gerade irgendwelche Beschwerden.'" Tikhomirova fürchtet, dass Nawalny systematisch vergiftet wird.

Es steht zwar zu hoffen, dass die jetzige türkische Opposition Tayyip Erdogan schlägt, aber der Schriftsteller Marc Sinan, der teils deutscher, teils türkisch-armenischer Herkunft ist, erklärt in der Zeit, warum ihm das Bündnis der sechs Parteien, das jetzt gegen Erdogan antritt, auch unheimlich ist: "Es ist durchsetzt mit Rassisten, Nationalisten, Faschisten und Islamisten, so verloren in ihrer Sicht auf die Welt, dass sie selbst in der AfD keinen Platz fänden. Ein paar Naive und Lautere denken, sie könnten die dunklen Mächte täuschen oder das Richtige im Falschen tun, wenn sie nur erst den Präsidenten gestürzt haben. Sie träumen noch den falschen Traum der Großeltern, vom Heil der geeinten Nation, die das 19. Jahrhundert erdacht hat und die niemals gelebte Wirklichkeit aus freien Stücken wurde. Das Bündnis hat also nicht das geringste Interesse daran, die türkische Krankheit zu lindern."

Die Kritik an Emmanuel Macrons Äußerungen mag berechtigt sein, aber "Macron schert in der China-Frage aus, auch weil Washington und Berlin ihn zuvor im Stich gelassen haben", schreibt Macron-Biograf Joseph de Weck in der SZ: "In den vergangenen Jahren hat Frankreich viel stärker als die Bundesrepublik darauf gedrängt, China in die Schranken zu weisen. Macron forderte als Erster das 'de-risking', das heute EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anmahnt: die Verringerung des Risikos einer Abhängigkeit von China. Wenn die amerikanische Hegemonie ein Stück weit schwindet, dürfe sich Europa auf keinen Fall der neuen chinesischen Vormacht unterordnen, sagte schon 2017 der damals frisch gewählte Macron. In Deutschland war man da noch naiver: Die Spitzen von Politik und Wirtschaft sahen die Gefahren deutscher Abhängigkeiten von der totalitären Volksrepublik nicht. Oder sprachen zumindest nicht öffentlich darüber." Selbstgerecht nennt Weck vor allem die Kritik aus Deutschland, denn: "Es ist nicht Macron, sondern Scholz, der nach wie vor eine Europäisierung der China-Politik blockiert: Es wäre eine Politik, die Europas spezifischen Interessen dient, aber die Interessen der USA als bis auf Weiteres lebenswichtigsten Partner nicht ignoriert."

Dennoch, aus Macrons Äußerung zu Taiwan "entsteht auch eine gefährliche innenpolitische Botschaft", schreibt Michaela Wiegel in der FAZ. "Seine Wiederwahl verdankte Macron dem Willen einer Mehrheit der französischen Wähler, die Geschicke des Landes nicht Marine Le Pen anzuvertrauen. Indem er den Unterschied zwischen dem demokratischen System Taiwans und der autokratischen Führung in Peking herunterspielt, baut er Hemmschwellen ab. Von einer Präsidentin Le Pen erwartet man einen Kuschelkurs mit Diktatoren, von Macron nicht."

Außerdem: Melanie Mühl ist für die FAZ nach Kiew gereist und trifft Aktivisten der NGO "Save Ukraine", die sich um von den Russen entführte ukrainische Kinder kümmert - die ukrainischen Behörden sprechen heute von 20.000 Kindern.
Archiv: Europa

Politik

Der russische Kulturwissenschaftler und Psychoanalytiker Alexander Etkind legt in der Zeit einen interessanten Essay über die russisch-chinesischen Beziehungen vor, in denen Russland jetzt der schwache Part ist. Das war nicht immer so. Als China schwach war, hatte Russland China Land geraubt, so wie es jetzt in die Ukraine einfiel. China hat Russland einiges zu verzeihen: "In seinen Gesprächen mit Xi hofft Putin nun darauf, dass dieser die Logik des russischen Vorgehens in der Ukraine versteht, ohne sie selbst auf die Gebiete anzuwenden, die das Russische Kaiserreich von China annektiert hat. Hat diese Hoffnung aber realpolitisch Aussicht auf Erfolg? Ein großer Teil der Mandschurei, den China eingebüßt hatte, gehört noch immer zu Russland. Diese Region verfügt über einen bedeutenden strategischen Wert, reiche Bodenschätze und ein erhebliches geopolitisches Potenzial. Wichtige Städte und Militärhäfen sind dort gegründet worden."

Der Menschenrechtsaktivist Abduweli Ayup war selbst in den chinesischen Internierungslagern in Xinjiang inhaftiert, er erlebte Folter, darunter auch sexuelle Gewalt. Nach seiner Freilassung hat er mit Hunderten Uiguren gesprochen. Im Tsp-Gespräch mit Viktoria Bräuner berichtet er: "Zeugenberichten zufolge müssen sich uigurische Frauen ab 18 Jahren zwangssterilisieren lassen und das Zertifikat bei der Polizei vorlegen. Zudem werden offenbar muslimische Zwangsarbeiter in Fabriken auch in anderen chinesischen Provinzen eingesetzt. Uigurische Kinder werden gezwungen, staatliche Internate zu besuchen, und bekommen dort Unterricht in Mandarin, der Sprache der Han-Chinesen. Mithilfe öffentlicher Überwachung, Straßencheckpoints und der Auswertung von Handy- sowie Internetdaten findet Menschenrechtsorganisationen zufolge eine regelrechte Massenüberwachung statt. Die chinesischen Behörden erstellen demnach elektronische Akten für Mitglieder der Minderheiten - mit umfassenden Informationen zu ihren Familien, Vorfahren, Freunden, der religiösen Einstellung. Dazu kommen DNA-Proben, Foto- und Filmmaterial."

"Verrat mitten im Krieg. Viel schlimmer geht es nicht", kommentiert Georg Mascolo die jüngsten US-Geheimdienst-Leaks in der SZ: "Sicher ist, dass diese Geheimdienst-Affäre zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen könnte. Die Frühjahrsoffensive der Ukraine steht an, alle Kraft richtet sich auf diesen so entscheidenden Moment. Ein Erfolg ist, da übrigens verraten die Papiere kein besonderes Geheimnis, keinesfalls sicher. Der Beistand der US-Geheimdienste ist in dieser Situation nicht weniger entscheidend als umfangreiche Waffenlieferungen, vor allem von ausreichend Munition. Aber worauf soll die Ukraine vertrauen, wenn unklar ist, wer da so alles mitliest? Verunsicherung, Vorsicht, ja Misstrauen sind nun unvermeidlich."

Außerdem: "Was fasziniert unbescholtene Bürger am Systemsprenger Trump?", fragt Thomas Assheuer auf ZeitOnline: "Er inszeniert sich als verfolgte Unschuld, die sich von einem 'hasserfüllten' linken Großinquisitor unter den Augen der Öffentlichkeit kreuzigen lässt. Heilsam, so geht Trumps Kalkül, wirkt seine Selbstopferung deshalb, weil sie das von linker correctness eingeschüchterte Volk auf die Barrikaden treibt und eine unterdrückte Systemwut entsichert."
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Religion

Auf den politischen Seiten der SZ denken Wolfgang Janisch und Annette Zoch darüber nach, ob eine Ablösung der Staatsleistungen für die Kirchen (Unser Resümee) tatsächlich - zumindest in der astronomischen Höhe - verpflichtend ist: "Der emeritierte Münsteraner Staatsrechtler Bodo Pieroth hält die anvisierte Großzügigkeit, also die Ablösung mit dem Faktor 18, für 'geradezu verfassungswidrig'. Schließlich verspreche das Grundgesetz den Kirchen ja gerade keine 'immerwährenden' Leistungen, sondern fordere im Gegenteil deren Ablösung. Also könne man den Bewertungsfaktor locker halbieren, sagte Pieroth der Zeitung Die Welt. (...)  Hinzu kommt, dass der Staat die Verluste der Kirchen eigentlich längst ausgeglichen hat. Pieroth zitiert ein Gutachten, wonach die Kirchen das 194-fache des ursprünglich entzogenen Wertes erhalten hätten, wenn man eine dreiprozentige Verzinsung zugrunde legt. Ob verfassungsrechtlich so gerechnet werden darf, ist freilich umstritten."
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Kulturpolitik

In der SZ hätte Jörg Häntzschel von der Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung gern gewusst, weshalb die Bedingungen der gütlichen Einigung mit Marcel Lepper nicht eingehalten wurden (Unsere Resümees) - eine Antwort erhielt er nicht: "Die Stiftung, die derzeit von ihrer kaufmännischen Leiterin kommissarisch geführt wird, teilt indes weiter gegen Lepper aus. Dessen Vermutung, die Stiftung habe ihm gekündigt, weil man die von ihm angestoßene Auseinandersetzung mit der Stiftungs- Vergangenheit verhindern wollte, konterte deren Sprecher gegenüber dem Bayerischen Rundfunk mit der Behauptung, es sei gerade Lepper gewesen, der die Aufarbeitung 'verzögert' habe."
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Medien

Die Zeit bringt mit großem Brimborium eine epische Recherche über Mathias Döpfners skandalöses Wirken im Springer Verlag. Offenbar wurden der Zeit Dokumente zugespielt, die Döpfner im ungefilterten O-Ton zitieren. Es stellt sich heraus, dass er mit Bild Politik macht, Angela Merkel nicht mag und schlimme Dinge über den Klimawandel sagt. Und auch über Markus Söder, als es scheint, dass dieser Kanzlerkandidat werden könnte: "Er wird es. Aber es wird noch viel schlimmer für Deutschland. Es ist ein ständiges downgrading. Schröder. Merkel. Söder. Das sind Leute die hätten früher nicht mal ne Sparkasse führen dürfen. Ich Wander aus."
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Wissenschaft

Die Corona-Maßnahmen gelten offiziell nicht mehr und auch der Expertenrat der Bundesregierung zur Corona-Pandemie wurde aufgelöst. Im Tagesspiegel zieht der Virologe Hendrik Streeck Bilanz: Der Expertenrat setzte ein "ein wichtiges Zeichen für Wissenschaft und Politik - nämlich den Dialog zwischen beiden zu stärken", schreibt er: "Aus der Erfahrung dieses Expertenrates gilt es für künftige Formate Lehren zu ziehen und Standards zu formulieren. An erster Stelle steht dabei die praktische Unabhängigkeit. Institutionelle Abhängigkeitsverhältnisse können in der Beratung wie Gift wirken - ebenso wie wissenschaftspolitisches Kalkül. Daher ist eine Besetzung außerhalb der gängigen Wissenschaftsinstitutionen nichts Falsches."

Weniger positiv fällt Katja Klapsas Bilanz in der Welt aus. Fünf Lehren gelte es aus der Pandemie zu ziehen, schreibt sie und fordert unter anderem ein unabhängiges Robert-Koch-Institut. "Schnell fiel auf, dass die Behörde selten eigene Akzente setzt und sich inhaltlich kaum von den Empfehlungen der Regierung unterscheidet. Das liegt unter anderem daran, dass das Institut dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt ist: Gefallen dem Minister die Äußerungen des RKI-Chefs nicht, kann er ihn theoretisch jederzeit entlassen. Schon vor zwei Jahren wurden daher Rufe laut, das Institut unabhängig zu strukturieren. 'Das RKI soll in seiner wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein', schrieb sich die Ampel Ende 2021 in ihren Koalitionsvertrag. Doch seitdem ist nichts passiert, Minister Karl Lauterbach (SPD) hat keine Vorschläge vorgelegt."
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