9punkt - Die Debattenrundschau

"Nur du kannst uns noch retten"

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2023. Russland muss eine totale Kapitulation erleben, um sich von seinem staatlichen Größenwahn zu befreien, meint in der Welt Olaf Kühl. Das Timing war schlecht, aber ansonsten begrüßt die SZ Emmanuel Macrons Vorstöße für mehr europäische Souveränität. Helfen die von der Zeit geleakten Mails von Mathias Döpfner dem Ex-Bild-Chef Julian Reichelt gegen den Vorwurf, seine Position missbraucht zu haben, um Frauen bei der Bild zum Sex zu zwingen, rätseln Meedia und die FAZ. Die NZZ würde gern wissen: Ist Reichelt die Hauptquelle des Zeit-Artikels? taz und NZZ erinnern an den Aufstand im Warschauer Ghetto vor 80 Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.04.2023 finden Sie hier

Europa

Russland muss eine totale Kapitulation erleben wie Deutschland 1945, denn mit einem "derart verhärteten staatlichen Größenwahn ist Dialog nicht mehr möglich", meint der Osteuropa-Experte Olaf Kühl, der gerade ein Buch zur Geschichte Russlands veröffentlicht hat, im Welt-Gespräch mit Andrea Seibel. Aber Deutschland müsse die Notwendigkeit eines Sieges über Russland erst akzeptieren, fährt er fort: "Deutschland neigt in dieser Hinsicht zu einem anmaßend bequemen Appeasement, das über kleinere Nationen bestimmen will und nicht bereit ist, sich mit der Dynamik in Russland auseinanderzusetzen. Deutschland fehlt der Mut, sich Veränderung vorzustellen. Was als Wunsch nach Stabilität und Sicherheit daherkommt, ist am Ende vielleicht doch das alte deutsche Kuschen vor einem Über-Ich, der Wunsch nach einem starken Führer. 'Sieg' bedeutet in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass sich in dem angeblich ewig unerschütterlichen Land doch etwas bewegen könnte. Genauso wie der Sieg über Deutschland am Ende eine Änderung auch gegen den Wunsch und Willen der Deutschen ermöglicht hat. Deutschland hat sich nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und zwangsweisen 'Ent-Täuschung' vom eigenen Nazi-Wahn in der Rolle des brav Geläuterten eingerichtet, der stets nur der friedvolle Gute sein will. Wer jedoch sein Selbstbild als 'Pazifist' dadurch pflegen möchte, dass er Zehntausende vor der eigenen Haustür dahinmorden lässt, der diskreditiert damit den ganzen Begriff."

Wie zur Bestätigung von Kühls These ist gestern Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden, die die Todesstrafe für ihn bedeuten könnten.

"Das Verdikt gegen Kara-Mursa, der gesundheitlich stark angeschlagen und eigentlich haftunfähig ist, könnte einem Todesurteil gleichkommen. Aber ein Menschenleben mehr oder weniger - was macht das schon", kommentiert bitter Barbara Oertel in der taz.

Emmanuel Macron ist viel für seine Forderung nach mehr europäischer Souveränität gescholten worden. Das Timing hätte besser sein können, aber grundsätzlich hat er recht, kommentiert Joseph Kelnberger heute nochmal in der SZ: "'Ein Europa, das schützt' wurde von Macron schon vor der Pandemie proklamiert, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine und bevor sich in Deutschland die Erkenntnis durchsetzte, dass China seine Macht zunehmend aggressiv ausspielt. Getrieben von den Krisen hat die EU dann nicht nur gemeinsam Impfstoff eingekauft, sondern auch gemeinsam viele Milliarden Euro beschafft für einen Wiederaufbaufonds, von dem Europa noch lange zehren wird. Auch eine europäische Industriepolitik, lange Zeit als französisches Hirngespinst abgetan, gibt es nun. Die Gesetze dazu regeln die Entwicklung von Mikrochips, die Versorgung mit Rohstoffen und den Ausbau klimaneutraler Produktion. Zugleich sollen sie Europas Industrie schützen gegen die Konkurrenz aus China und den USA."

Polen, Ungarn und die Slowakei haben Einfuhrverbote für ukrainische Agrarerzeugnisse erlassen. Hintergrund sind die Wahlen, die in Polen und der Slowakei demnächst anstehen und bei denen die nationalen Regierungen die Stimmen der Bauern gewinnen wollen, berichten Leonie Kijewski, Bartosz Brzezinski und Sarah Anne Aarup bei Politico. Ein Einfuhrverbot könnte jedoch illegal sein, weil für Handelspolitik die EU zuständig ist. "Polen weist den Gedanken zurück, dass es gegen die Regeln verstößt, und beruft sich auf nationale Gesetze, die dies aus Gründen der öffentlichen Sicherheit erlauben. Jedes der drei Länder versucht, dem Zorn der Kommission zu entgehen, indem es unterschiedliche Argumente zu seiner Verteidigung vorbringt. Die Slowakei ihrerseits argumentiert, sie sei am Montag zum Handeln gezwungen gewesen, nachdem Polen und Ungarn am Wochenende eine Einfuhrsperre verhängt hatten."
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Ideen

Im Tagesspiegel-Gespräch ruft Pankaj Mishra einmal mehr das Ende des Westens aus. Außerdem spricht er über das Fortwirken "weißer Vorherrschaft" bis in die Gegenwart: Er erkennt eine Kontinuität zwischen der imperialen Herrschaft westlicher Länder über die Welt im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zu Donald Trumps und Boris Johnsons Populismus: "Es hat eine lange Tradition in westlichen Ländern, die unteren Schichten und eine im 19. Jahrhundert zunehmend militante Arbeiterklasse mit dem 'Lohn des Weißseins' zu befrieden. Um echte soziale Veränderung zu vermeiden, sagten die Herrschenden: Schaut, da sind Leute, die wegen ihrer Hautfarbe noch weit unter Euch stehen. Da habt ihr auch jemanden, auf den ihr herabschauen könnt. Diese beruhigende weiße Vorherrschaft ist aber nicht mehr zu retten und die Menschen, die sich durch diese Entwicklung bedroht fühlen, gehen auf die Barrikaden. In gewisser Weise kehrt die Gewalt des westliche Imperialismus in seine Heimatländer zurück."

In der FR denkt Robert Kaltenbrunner über eine Umnutzung von leerstehenden Kaufhäusern nach. "Mixed-Use-Immobilien" schweben ihm vor: "Mit Werkstätten, Büros, Cafés und personalisierten Ladenlokalen, in denen die Menschen wohnen, arbeiten und konsumieren, sich gut und gern und rund um die Uhr aufhalten. Freilich stellt es ein Problem dar, wenn das Kaufhaus und die Innenstadt zum Synonym werden, wenn in der Diskussion der Einzelhandel die Deutungshoheit über die City gewonnen hat. Denn es gibt die Innenstadt nicht, weil es ein Kaufhaus gibt. Sondern es ist umgekehrt: Es gibt ein Kaufhaus, weil es eine Innenstadt gibt. Und genau hier liegt ein Ansatz, um den Knoten zu durchschlagen. Eine neue Idee der Innenstadt kann auch eine Idee für ein neues Kaufhaus hervorbringen."
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Medien

Wenige Tage nach den von der Zeit geleakten Nachrichten von Springer-Chef Mathias Döpfner, die laut Michael Hanfeld in der FAZ im Wesentlichen aus Mails und Chats an beziehungsweise mit dem Ex-Chefredakteur der Bild, Julian Reichelt, bestanden, hat sich Reichelts Anwalt Ben Irle zu Wort gemeldet: Reichelt wurde vorgeworfen, seine Position missbraucht zu haben, um Frauen bei der Bild zum Sex zu ködern. Der geleakte Chatverlauf belege jetzt, dass der Sex mit der wichtigsten Zeugin einvernehmlich war, behauptet Reichelts Anwalt laut einem Bericht von Thomas Borgböhmer in Meedia. In der FAZ erklärt Hanfeld die komplizierte Gemengelage unter anderem mit den Besonderheiten eines Compliance-Verfahrens, wie es gegen Reichelt angestrengt worden war: "Das Eigentümliche eines Compliance-Berichts wiederum ist, dass er Hinweisgebern Anonymität versichert, was bedeutet, dass dem Beschuldigten Ross und Reiter nicht bekannt gemacht werden. In der Öffentlichkeit aber machen die Vorwürfe die Runde. Dass sich jemand wie Julian Reichelt damit nicht zufriedengeben kann, ist verständlich. Er flog vom Platz, bekam von seinem Chef und - damals - engen Vertrauten Mathias Döpfner die Rote Karte und ist sich keines Fouls bewusst. Die Hinweisgeberinnen schützt die Anonymität, zugleich sind Wahrheit und Lüge ob der fehlenden Transparenz nicht voneinander zu trennen."

"Schlechten, unfairen Journalismus" wirft indes Marc Felix Serrao in der NZZ der Zeit vor: Wo bleibt der kritische Blick auf die Quellen, fragt er: "Ist Reichelt die Hauptquelle des Artikels? Der Verdacht liegt nahe. Die Zeit schweigt dazu, was ihr gutes Recht ist. Doch der Quellenschutz rechtfertigt keine naive Berichterstattung. Er entbindet Journalisten nicht von der Pflicht, kritische Distanz zur Quelle zu wahren und eigene Wissenslücken zu benennen. Die Zeit tut in diesem Fall weder das eine noch das andere. In ihrer Darstellung ist Döpfner einer, der mit Europas größtem Boulevardblatt 'Politik machte', der 'Manifeste' verschickte und der Journalisten, allen voran seinem früheren Chefredaktor Reichelt, knallharte Anweisungen gab. Dem Geschassten, der Springer heute mit seinem eigenen, zusehends erfolgreichen Boulevard-Startup zusetzt, dürfte diese Darstellung ausgesprochen gut gefallen."
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Geschichte

Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. In der taz erinnert Stefan Braun an den polnisch-jüdischen Politiker Szmuel Zygielbojm, der 1940 über Belgien und Frankreich in die USA gegangen war, um über die Situation in Europa zu berichten: "Zygielbojm beginnt bereits 1940 in Belgien als einer der ersten Augenzeugen, über den deutschen Terror in Polen zu informieren. Angekommen in den USA, reist er durch das ganze Land, um über die Verbrechen aufzuklären. Politische Folgen soll dieser Einsatz genauso wenig haben wie der Versuch, Visa für seine Familie zu organisieren. Nur sein Sohn Josef wird schlussendlich den Holocaust überleben. ... Seine konkreten Forderungen, wie die nach Abwurf von Flugblättern zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung über den Völkermord, lehnen die Alliierten ab. Auch mit der polnischen Exilregierung verschärfen sich die Konflikte zunehmend, da Zygielbojm dieser vorwirft, die polnisch-jüdische Bevölkerung zu wenig zu unterstützen. Zygielbojm, der sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet, bittet die Exilführung des Bundes in New York, ihn von seiner Funktion abzuberufen. Im März 1943, noch vor einer Entscheidung über dieses Gesuch, informieren ihn Bundisten aus dem Warschauer Ghetto per Telegramm über die Revolte vom Januar 1943: 'Nur du kannst uns noch retten, die Nachwelt wird über dich urteilen.'" Nach der Niederschlagung des Aufstands durch deutsche Truppen beging Zygielbojm am 12. Mai 1943 "aus Protest gegen die weltweite Tatenlosigkeit" Suizid.

In der NZZ erinnert Martin Sander auch an das Warschauer Viertel Muranow, in dem das Ghetto lag, und das nach der vollständigen Zerstörung durch die Nazis im Sozialismus ohne Berücksichtigung seiner Geschichte wiederaufgebaut wurde: "Eleonora Bergman, Architekturhistorikerin und ehemalige Leiterin des Jüdischen Historischen Instituts, findet es pietätlos und geradezu anstößig, dass man die Toten unter den Trümmern des Ghettos nach Kriegsende nicht systematisch exhumiert, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch Knochen zu Baumaterial verarbeitet hatte. Seit mittlerweile drei Jahrzehnten bemüht man sich in Warschau intensiv darum, die Geschichte des Ghettos dem Vergessen zu entreißen. Eleonora Bergman und andere konnten sich 2008 mit der Idee durchsetzen, die Grenzlinien des Ghettos durch Platten aus Beton und Metall im Boden sichtbar zu machen."
Archiv: Geschichte