9punkt - Die Debattenrundschau

Halt links statt rechts

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2023. Alles, was die russische Armee in der Ukraine anrichtet, hat sie schon Jahre zuvor in Tschetschenien angerichtet, erinnert in der Zeit der russische Schriftsteller Sergej Lebedew. In der Welt erkennt der Migrationsforscher Oliviero Angeli die Flüchtlingskonvention als Produkt des Kalten Krieges. Auch Provenienzforschung kann als kolonialistisch angesehen werden, informiert uns die FAZ. In der taz prangert die Schriftstellerin Nora Bossong die Heuchelei in den Medien an, die Mathias Döpfner seine politische Agenda vorwerfen, als hätten sie selbst keine. Welt, SZ und FAZ versuchen die KI einzufangen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2023 finden Sie hier

Europa

Im sehr lesenswerten ZeitOnline-Interview spricht der russische Schriftsteller Sergej Lebedew über das "Gefühl des Nichtverantwortlichseins" der russischen Gesellschaft und das Auslöschen ukrainischer Kultur durch die Russen. Das eigentliche Übel von Putins Russlands sei nicht die Sowjetnostalgie, sondern die Tschetschenienkriege, sagt er: "Als Boris Jelzin 1994 russische Truppen nach Grosny schickte, war das russische Militär sicher, dass es keinen Widerstand geben würde und dass sich die Tschetschenen einfach ergeben würden. Doch sie ergaben sich nicht - und die Grosny-Invasion scheiterte. Genauso ist es heute in der Ukraine. Wenn man diese zwei Bilder, getrennt durch 30 Jahre, übereinanderlegt, sieht man das gleiche Muster des Bösen: Filtrationscamps, Kriegsverbrechen, Plünderungen, ethnische Säuberungen. Und die Annahme, dass das andere Land gar nicht existiert, dass die Menschen uns nicht ebenbürtig sind und sich unterwerfen müssen. Es geht nicht nur um Kriegsverbrechen, sondern um Verbrechen des Bewusstseins. (…) Die verbrecherischen Tschetschenien-Kriege, die immense Brutalität des Staates, in dem wir leben, das war unser schmutziges Geheimnis. Der Westen gab uns damals eine Art Carte blanche, weil er an eine demokratische Entwicklung Russlands glauben wollte. Aber mit dem Krieg gegen die Ukraine ist alles aufgebrochen. Nichts, was nach dem 24. Februar 2022 passierte, ist neu!"

Mit Beginn der ukrainischen Fluchtmigration wurde auch eine Debatte über die Benachteiligung nicht-ukrainischer Flüchtlinge losgetreten, schreibt der Migrationsforscher Oliviero Angeli in der Welt: Rechtlich sind ukrainische Flüchtlinge anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt. "Von Anfang an war dem Flüchtlingsrecht eine Orientierung an den Interessen westlicher Länder eigen. Dies ist keineswegs verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Flüchtlingskonvention ein Produkt des Kalten Krieges war und eine wichtige politische Funktion hatte: Die Anerkennung des Flüchtlingsstatus brachte implizit eine Verurteilung des politischen Systems zum Ausdruck, vor dem die Menschen fliehen mussten. Damit waren in erster Linie die Sowjets und ihre Verbündeten gemeint - nicht die ehemaligen Kolonien. In der Logik des Kalten Krieges galten Menschen, die aus einem kommunistischen Land flohen, als Sinnbild für die Überlegenheit des westlichen politischen Systems und wurden schon deshalb uneingeschränkt willkommen geheißen. Die Verabschiedung der Flüchtlingskonvention liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, aber es bedarf keiner großen Fantasie, um ein ähnliches Muster in der besonders großzügigen Aufnahmebereitschaft Europas gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen zu erkennen."
Archiv: Europa

Medien

In der taz ärgert sich die Schriftstellerin Nora Bossong über die Heuchelei in den Medien, die Mathias Döpfner seine politische Agenda vorwerfen, als hätten sie keine: "Dass die taz ebenso parteipolitisch tendenziös ist wie die Welt, halt links statt rechts, kann nur bestreiten, wer seine eigene Weltsicht für objektiv hält." Und vielleicht sollte man auf Clickbait auch mal verzichten, meint sie in Richtung Zeit. "Ganz abgesehen von der Frage, ob man hier sensationsdoof den Rachefeldzug Julian Reichelts mitspielt, darf man die Verschiebung der Berichterstattung immer weiter in die Privatsphäre hinein nicht zu leicht nehmen. Die Gedanken sind frei, hieß es mal. Das muss dann auch für Leute mit rechtskonservativen und libertären Ansichten gelten. Oder wollen wir jede Bemerkung, die nie für eine Öffentlichkeit, sondern für vertraute Adressaten bestimmt war, einer Gesinnungsprüfung unterziehen? Ich persönlich wünsche mir das nicht. Wenn etwas strafrechtlich relevant wird, muss ermittelt werden, aber nicht, wenn jemand einfach ein Arsch ist. Bei aller Empörung über andere lohnt es sich vielleicht, mal auf sich selbst zu schauen."

Laut einer Studie von Goldman Sachs "sind durch Generative KI weltweit 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätze gefährdet", berichtet Adrian Lobe in der Welt: "Vor allem der Verwaltungs- und Rechtssektor ist betroffen, wo fast die Hälfte aller Arbeitsplätze durch KI ersetzt werden könnten. Schon heute ergehen in öffentlichen Verwaltungen Verwaltungsakte automatisiert, in Kolumbien hat ein Richter sogar schon ein Urteil mithilfe von Chat-GPT verfasst. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Sprachmodelle eigenständig Klageschriften oder Urteile verfassen können. Die Modezeitschrift Cosmopolitan hat bereits ein Cover mit der Bild-KI DallE designen lassen, das renommierte Architekturstudio Zaha Hadid nutzt den Bildgenerator Midjourney als Werkzeug, um Häuser zu entwerfen."

In der SZ skizziert Andrian Kreye vor allem die Herausforderungen, die auf den Journalismus durch KI zukommen: "Wie sollen Redaktionen mit der Datenexplosion umgehen, die diese KIs nun verursachen? Wie lässt sich erkennen, ob ein Text ganz oder teilweise von einer KI geschrieben wurde? Wie können Journalisten feststellen, ob ein Bild oder ein Fakt durch eine KI gefälscht oder verzerrt wurde? Wie kann man ein Publikum bei der Stange halten, das sowieso schon chronisch ablenkt ist, wenn die Algorithmen die Nutzer nicht mehr in die Ablenkungsfallen leiten, sondern diese gleich selbst erzeugen? Wie kann man das Vertrauen des Publikums erhalten, wenn die Öffentlichkeit mit Fälschungen und Verzerrung geflutet wird? Wie lassen sich Standards einhalten, wenn Personal reduziert wird, wie in allen Wellen der Automatisierung? Wie kann man seine Marktstellung behaupten, wenn die Konkurrenz nicht so zimperlich ist, was den Einsatz von KI betrifft?"

Wenn ChatGPT geistige Arbeit ersetzt, dann liegt das an unserer Bequemlichkeit, die auf Halbbildung und Kompetenzanschein setzt, meinen in der FAZ der Philosoph Christian Bermes und der Bildungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus. "Was macht uns Sorge? Immanuel Kant schlägt in seinem Aufsatz 'Beantwortung der Fragte: Was ist Aufklärung?' eine Antwort vor. Menschen haben einen Hang zur Unmündigkeit, dem philosophisch und pädagogisch beizukommen Urstifterin der Disziplinen wurde. Es sei so bequem, unmündig zu sein. Also warum selbst denken, wenn es doch die Maschine kann. Aber das Fatale ist: Sie kann es, erstens, nicht. Und Denken gehört, zweitens, zu den wenigen Dingen, die sich nicht delegieren lassen. Selbst denken können wir nur selbst. Mit anderen Worten: Nur wenn das Nichtdenken, der Wunsch, unmündig zu sein, zum Normalfall wird, ist ChatGPT ein Problem. Und dennoch: Lassen wir uns verführen von ChatGPT. Das dürfen wir. Das müssen wir. Was durch die Maschine trotz aller Organisation von Zeichen nicht gesagt werden kann, macht Nachdenken aus und Sprache interessant."

Fox News hat sich mit dem Wahlmaschinenhersteller Dominion außergerichtlich auf eine Schadenersatzzahlung von 787,5 Millionen US-Dollar (knapp 720 Millionen Euro) geeinigt (Unser Resümee), meldet unter anderem der Tagesspiegel: "Fox erklärte sich zu der Schadensersatzzahlung möglicherweise auch deshalb bereit, um weitere peinliche Enthüllungen zu vermeiden." "Der Wert, den dieser Prozess gehabt hätte, lässt sich mit Geld nicht beziffern", kommentiert Johanna Roth auf ZeitOnline: "Will das Land irgendwann überwinden, welchen Schaden der Trumpismus an der Demokratie der USA angerichtet hat, dann müssen nicht nur die direkt Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, wo sie gegen Gesetze verstoßen haben könnten. Auch Trumps willfährige mediale Helfer haben Schuld auf sich geladen, indem sie Unwahrheiten verbreitet haben."
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Wissenschaft

Auch Provenienzforschung kann als kolonialistisch angesehen werden, informiert uns Hans Peter Hahn in der FAZ und nennt als Beispiel die Forschung des Berliner Ethnologischen Museums: "Während vor 120 Jahren Berlin als Zentrale für die Verwaltung der Kolonien zuständig war und mithin ein Netz entstand, das auf diesen Ort konzentriert war, ergibt sich das gleiche räumliche Muster heute aufs Neue in der Provenienzforschung. Von Berlin ausgehend werden in Togo, Kamerun, Namibia, Tansania und in vielen anderen ehemaligen Kolonien Nachforschungen angestellt, um herauszufinden, wie genau die Erwerbskontexte ausgesehen haben. Aus der Sicht der Experten sieht das dann so aus, dass von der 'Zentrale' Objektlisten - oft ergänzt um Bilder - versendet werden. Dazu ergeht die Aufforderung, den genauen Ort der Herkunft zu bestimmen und vor Ort nach Erinnerungen zum Erwerb zu fragen. Wissenschaftler in Togo und anderen Ländern werden zu Ausführenden von Arbeitsaufträgen. Sie erledigen eine Arbeit, die von Berliner Akademikern vordefiniert wurde."
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Politik

Bereits vor einigen Wochen schilderte der Historiker Michael Wolffsohn in der Welt die Spaltung Israels in ein nicht religiöses, europäisch-aschkenasisches, "weißes" Israel und ein religiöses sowie orientalisches, "schwarzes" jüdisches Israel. (Unser Resümee) "Diaspora-Juden und westliche Nichtjuden finden das aschkenasische, Erste Israel sympathischer, doch es ist Vergangenheit", schreibt er heute in einem mäandernden NZZ-Artikel: "Ironie der Geschichte: Das Erste Israel hatte die Institutionen des Landes geschaffen, um die Politik der Straße zu verhindern - und geht jetzt auf die Straße, um gegen die Politik der demokratisch gewählten Institutionen, Parlament und Regierung, zu protestieren. Das geschieht in bester demokratischer Absicht, um die Unabhängigkeit der Justiz und damit die Gewaltenteilung zu retten, also das institutionelle Gefüge der Demokratie. Allerdings ist jede außerparlamentarische Politik der Straße ihrerseits zumindest potenziell eine Gefährdung ebendieses Rahmens - hier schützt sie ohne Wählerauftrag die Judikative und attackiert dabei die demokratisch gewählte Legislative und Exekutive."
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Stichwörter: Wolffsohn, Michael, Israel

Geschichte

"Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, zumal mit der Zeit des Nationalsozialismus, glich in Deutschland in weiten Teilen einer Art Selbstbeschäftigung (…) Und die jüdische Welt selbst war sprachlos, zu sehr damit beschäftigt sich nach dem Horror der Schoa neu zu finden", schreibt Josef Schuster, im Tagesspiegel an den Aufstand im Warschauer Ghetto vor achtzig Jahren erinnernd. Aber wir befinden uns " in einem erinnerungspolitischen Wandel, der Gefahren birgt -und Chancen. Der Übergang in eine Zeit ohne Zeitzeugen der Schoa wird den Blick auf die Vergangenheit und wie wir erinnern und gedenken spürbar verschieben. Wir erleben dies an neuen Debatten über die Einzigartigkeit der Schoa, die wir vor mehr als 30 Jahren für entschieden glaubten. Oder wir spüren, wie einige postkoloniale Theorien grob radikal benutzt werden, um den Schutzwall gegen jede Form von Antisemitismus, ein konstitutives Element dieses Landes, einzureißen. Das sind offene Flanken unserer freien Gesellschaft, die geschlossen gehören. Gleichzeitig gibt uns der Wandel die Gelegenheit, die Selbstbestimmtheit jüdischen Denkens und Handelns hervorzuheben. Wir können damit einen Beitrag dazu leisten, die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland, wie sie vor der Schoa herrschte, wieder zu sichern."

In der taz stellt Gabrielle Lesser Forscher und Lehrer vor, die dem Aufstand im Warschauer Ghetto eine neue Deutung geben wollen: Erinnert werden soll an die Ermordeten nicht als Opfer, sondern als Widerstandskämpfer. Das tut Barbara Engelking etwa, die "führende Holocaust-Forscherin Polens", mit der Ausstellung "Um uns herum ein Flammenmeer. Die Schicksale jüdischer Zivilisten im Warschauer Gettoaufstand", im jüdischen Geschichtsmuseum Polin. Heute wisse man "wesentlich mehr über die Jüdische Soziale Selbsthilfe", erklärt sie, "eine der wichtigsten jüdischen Organisationen im Getto, sowie über das Leben im Getto, die schwindende Hoffnung auf ein Überleben, die Kontakte nach draußen, Hilfsleistungen, aber auch Erpressung und Verrat durch Polen. 'Für viele Geschichtsinteressierte wird überraschend sein, dass das Warschauer Getto keineswegs am 16. Mai 1943 aufhörte zu existieren, wie der deutsche Kriegsverbrecher Jürgen Stroop offiziell verkündete. Vielmehr versteckten sich Überlebende auf dem Getto-Gelände noch mindestens sieben Monate lang - bis zum Januar 1944', erläutert Engelking. 'Das sind unsere Helden und Heldinnen.'"
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