9punkt - Die Debattenrundschau

Die Ideologie der Macht und des Kapitals

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2023. Maria Pevchikh von der Nawalny-Stiftung porträtiert auf Twitter die Oligarchen-Gattin Swetlana Maniowitsch, die sich in Cannes, London und Genf vergnügt, während ihr Mann, stellvertretender Verteidigungsminister Russlands, die Ukraine in Schutt und Asche schießt. Was macht Europa eigentlich, wenn in den USA Trump oder ähnliche wieder an die Macht kommen, fragt Hannes Stein in der Welt. Es gibt die Cancel Culture nicht nur nicht, sie lohnt sich auch sehr für ihre Verfechter, schreibt Ijoma Mangold in der Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.04.2023 finden Sie hier

Europa

Angelika Nußberger, ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, betrachtet in der FAZ Projekte der "De-Oligarchisierung" in der Ukraine, Georgien und Moldau, also Gesetzentwrüfe, die den Einfluss von Oligarchen beschneiden sollen. Sie werden auch von der EU gefordert, ein heikles Unterfangen, denn solche Gesetze können auch dazu dienen, die Opposition zu behindern. Und die Sache ist komplex: Wo ist der Unterschied zwischen Oligarchen und etwa Mäzenen wie George Soros in Ungarn, Osman Kavala in der Türkei oder Michail Chodorkowski? "Oligarchisierung ist so ein schillerndes Phänomen. Es ist nicht nur ein Problem 'der anderen', es betrifft und gefährdet, wenn auch in unterschiedlicher Form, alle Demokratien."

Eine wunderbare Illustration zum Thema Oligarchen liefert der Twitter-Thread von Maria Pevchikh von der Nawalny-Stiftung. Er beleuchtet die Oligarchen-Gattin Swetlana Maniowitsch, die Frau des russischen Vize-Verteidigungsministers Timur Iwanow, der sich seine Milliarden durch Korruption ergaunert hat, er soll Mariupol wieder aufbauen. In all ihrer herrlichen Obszönität gibt sie ihr Geld in Genf, London und Cannes aus, durch keine Sanktion gehindert und umschwärmt von den Lakaien aus der Luxusindustrie.
Das Versagen des Populismus kann man sehr schön in der Türkei beobachten. Bülent Mumay prangert es auch in seiner neuen FAZ-Kolumne unermüdlich an: "Keines der Ziele, die Erdogan zuvor bei Wahlen für 2023, das Jubiläum 100 Jahre Republik, gesteckt hatte, hat er erreicht. Er hatte für dieses Jahr versprochen, wir alle würden 25.000 Dollar verdienen. Als er das Versprechen einst gab, lag unser nationales Pro-Kopf-Einkommen über elftausend Dollar. Heute verdienen wir weniger..."

Die SPD ist nicht nur mit Gazprom verflochten, wie das Buch "Die Moskau-Connection" zeigt (mehr hier und hier). Sie ist auch stark in Kohle engagiert und darum ein natürlicher Bremser jeder Klimapolitik, schreibt Nick Reimer in einem sehr erhellenden Hintergrund für die taz. Das gilt etwa für die heutige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Ex- Aufsichtsrätin der Stadtwerke Duisburg. "Dieses Stadtwerk gehört zu jenem Konsortium, das sich 2010 den Kohlekonzern Steag kaufte." Und es geht weiter: "Joachim Poß saß bis 2017 im Deutschen Bundestag und war jahrelang stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Gleichzeitig war er Aufsichtsrat der RAG Deutsche Steinkohle AG. Ulrich Freese, bis 2021 Abgeordneter und unter anderem Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie, war gleichzeitig bezahlter Aufsichtsrat der Vattenfall Europe AG, der Vattenfall Europe Mining AG und der Vattenfall Europe Generation AG, also der Braunkohlesparten in Brandenburg. Bevor er SPD-Wirtschaftsminister wurde, war Wolfgang Clement Aufsichtsrat bei der RWE-Tochtergesellschaft Rheinbraun, danach wurde er Aufsichtsrat der RWE-Kraftwerkstochter RWE Power. Clements Vorgänger Werner Müller wurde nach seinem Ausscheiden aus der Politik 2002 zuerst Vorstandsvorsitzender der Ruhrkohle AG, dann Vorstandsvorsitzender der RAG-Stiftung."
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Medien

In der SZ berichtet Sonja Zekri, wie ukrainische Behörden Journalisten zunehmend die Berichterstattung erschweren, um diese zu lenken: "Künftig ist es untersagt, den Namen oder das Gesicht eines Soldaten ohne Erlaubnis zu veröffentlichen, so wie es Soldaten von nun an generell verboten ist, mit Journalistinnen oder Journalisten ohne Erlaubnis zu sprechen. Die bislang unbegrenzt geltenden Akkreditierungen für Medienschaffende sind nur noch bis Mai gültig. Danach müssen sie beantragt und alle sechs Monate erneuert werden. Größere Wut als solche bürokratischen Hürden löste allerdings eine neue Einteilung in verschiedene Zonen für die Berichterstattung aus. Eine grüne Zone, in der akkreditierte Reporterinnen und Reporter frei arbeiten können, eine gelbe, in der sie nur in Begleitung eines Presseoffiziers berichten können, und einen roten Bereich, in dem selbst für akkreditierte Journalisten keine Berichterstattung möglich sein soll."

Julian Reichelt
und sein mutmaßliches Opfer lassen sich von der selben Anwaltskanzlei vertreten. Das "ist unverfroren, dreist und rechtswidrig", kommentiert Heribert Prantl im Feuilleton der SZ: "Die Kanzlei vertritt hier widerstreitende Interessen; das gehört zum Schlimmsten, was man einem Anwalt und einer Kanzlei vorwerfen kann. (...) Es ist unverständlich, dass die Berliner Rechtsanwaltskammer in so einem Fall, der nun bundesweit publizistisch hohe Wogen schlägt, nicht eingreift und sich stattdessen mit allgemeinen Erklärungen aus der Affäre zu ziehen versucht. Die Anwaltskammer hat die Erfüllung der Anwaltspflichten zu überwachen. Die Sanktionsmöglichkeiten reichen hier von der Rüge bis zum Widerruf der Anwaltszulassung."

Außerdem: Laura Hertreiter (SZ) resümiert die vom Stern gebrachte Enthüllung über den Kredit über 60 Millionen Euro, den sich Mathias Döpfner im Sommer 2006 bei Christian Olearius, damals Partner und Mitinhaber der Hamburger Privatbank M.M. Warburg & Co., besorgte, um Springer-Verlagsanteile zu kaufen. Als Sicherheit konnte er nur die Aktien bieten, "Olearius gewährte den Kredit dennoch. Der Grund dafür könnte in den Zeilen liegen, die er laut Stern so formulierte: Es sei ein großer Kredit, ja, aber er könnte die Bank an den Springer-Verlag heranführen - mit allen Möglichkeiten."
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Ideen

Ijoma Mangold legt in der Zeit einen hübschen Essay über die "Cancel Culture" vor. Sarkastisch gibt er jenen Linken recht, die wie Adrian Daub in seinem Buch "Cancel Culture Transfer" behaupten, es gebe sie gar nicht. "Es stimmt. In diesem Land, im Westen insgesamt, darf jeder sagen, was er will, niemand wird hinter Gitter gesperrt, nur weil er nicht gendert. Wir leben nicht in einer Stasi-Diktatur, der Zensurdruck geht nicht vom Staat aus. Kein Autor wird gezwungen, sein Manuskript einem Sensitivity-Reader vorzulegen, sie tun es freiwillig." Und es lohnt sich ja auch! "Diversity ist ja keineswegs ein Ausdruck von Subversion, sondern es ist die Ideologie der Macht und des Kapitals. Es sind die größten Weltkonzerne, die sich Diversity auf die Fahnen geschrieben haben, und es sind die Verwaltungen und Gremien der staatlichen und halbstaatlichen Institutionen, die über ihre Durchsetzung wachen, also die, die öffentliche Mittel oder Sponsorengelder zu vergeben haben."
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Politik

Hannes Stein, USA-Korrespondent der Welt, listet den "Irrsinn" der vergangenen Wochen aus dem Lager der Republikaner auf. Ron de Santis, Gouverneur von Florida, unterzeichnete etwa ein Abtreibungsverbot nach der sechsten Schwangerschaftswoche, Gregory Abbott, Gouverneur von Texas, fantasiert von einer "Jagd auf Muslime" und auch die Wiederwahl von Donald Trump ist nicht mal ausgeschlossen, wenn er verurteilt würde: "Was tut eigentlich Ihr, liebe Europäerinnen und Europäer, wenn bei uns in Amerika die radikale Rechte triumphiert? Wenn Donald Trump, der 45. und 47. Präsident, am Tag nach seinem Amtsantritt im Januar 2025 den Rückzug der Vereinigten Staaten aus der Nato erklärt? Wenn Trumps Freunde, die er so sehr bewundert - Putin, Xi Jinping, Kim Jong-un - nacheinander als Staatsgäste im Weißen Haus aufkreuzen? Wenn die amerikanische Armee unter Bruch des Völkerrechts in Mexiko einmarschiert? (Doch, das wünschen sich immer mehr Republikaner.) Wenn Amerikas Atomwaffen plötzlich niemanden mehr abschrecken? Wenn die amerikanische Regierung die Ukraine nebst Finnland, Estland, Lettland und Litauen zu Feindstaaten erklärt? Wenn der nächste amerikanische Botschafter in Berlin ein Nazi ist, der den Holocaust leugnet, Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer in seine Residenz einlädt und Annalena Baerbock mit Missachtung straft?"

Während der brasilianische Präsident Lula da Silva "in Peking die USA zum Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine aufrief, unterließ er es, Lawrow zum Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine aufzufordern. Eindeutiger könnte die Parteinahme nicht ausfallen", schreibt Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog). Er hofft, dass die deutsche Politik die geringe Verlässlichkeit von Lula als Bündnispartner erkennt: "Lula repräsentiert mit seiner Haltung den politischen Geist vieler aufstrebender Staaten, die während des Kalten Krieges zwischen Ost und West stehen wollten. Diese Staaten hatten sich stets eine gewisse Restsympathie für die Sowjetunion bewahrt, weil diese sich damals rhetorisch auf die Seite der damals sogenannten 'Dritten Welt' schlug und diese materiell unterstützte. Etliche Staaten, die sich bei der UN-Resolution zur Verurteilung des russischen Angriffskriegs der Stimme enthielten, scheinen diese Sympathie für den Staat Lenins auf das Russland Putins übertragen zu haben."

Vor Waffenlieferungen an Russland schreckt China aus Angst vor westlichen Sanktionen noch zurück, sagt der ehemalige deutsche Botschafter in China, Volker Stanzel im FR-Gespräch mit Sven-Christian Schulz. Aber: "Wir können davon ausgehen, dass China schon jetzt Russland im Krieg mit Informationen unterstützt. Die Chinesen verfügen über umfangreiche Kompetenzen im Bereich der Informationsbeschaffung und über ein großes Satellitenprogramm."
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Gesellschaft

Die Antisemitismusforscherin Sina Arnold konzediert im Gespräch mit Dinah Riese von der taz zwar, dass es einen spezifisch muslimischen oder auch arabischen Antisemitismus gibt, fordert aber auch Differenzierung: "Nicht jeder Antisemitismus einer muslimischen Person ist auch muslimischer Antisemitismus. Das wird aber schnell gefolgert, wenn auf einem Schulhof ein Kind, das in dritter Generation hier lebt, eine antisemitische Aussage macht - ohne dass Details bekannt sind. Vor allem aber müssen wir wegkommen von der Vorstellung, Antisemitismus sei ein Problem 'der anderen'. Wer sind denn diese "anderen"? Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft, alle diese Elemente sind Teil des deutschen Antisemitismus." Arnold hat gerade eine Studie zum Thema vorgelegt.
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Geschichte

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel prangern in ihrer FAZ-Multikulti-Kolumne ein polnisch-israelisches Abkommen an, das den Schüleraustausch festlegt und den Geschichtsstreit der beiden Länder um den Holocaust beilegen soll. Aber es sind zwei rechtspopulistische Regierungen, die sich da geeinigt haben. Und die beiden werfen der israelischen Regierung vor, sich in das polnische Geschichtsnarrativ einspannen zu lassen. Da geht es etwa um polnische Kämpfer, die direkt nach dem Krieg gegen die stalinistische Besatzung kämpften, aber auch antisemitische Morde verübten - von der PiS-Partei werden sie idealisiert. Zum Beispiel soll die Reise der Schüler "nach Ostroleka gehen zum Museum der 'verstoßenen Soldaten'... Als Galionsfigur der verstoßenen Soldaten gilt Józef Kuraś, genannt Ogień, an den im Museum prominent erinnert wird. Dabei verantwortete er mehrere Morde an Menschen, die nichts mit dem Kommunismus zu tun hatten - allen voran jüdische Polen, Überlebende des Holocausts."
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