9punkt - Die Debattenrundschau

Begriffsraub und Inversionslogik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2023. Die Philosophin Sidonie Kellerer stört im Philomag die Feierstimmung zum hundertsten Geburtstag Reinhart Kosellecks. Eva Illouz sucht in Zeit online nach Mitmenschlichkeit. Die NZZ erzählt, was passiert, wenn die investigative Pariser Zeitung Le Canard enchaîné selbst einen Skandal verursacht. Hubertus Knabe recherchiert in seinem Blog zu einer sehr heißen Kartoffel, dem deutsch-russischen Museum in Berlin-Karlshorst. Das Berliner Neutralitätsgesetz bleibt unter Schwarz-Rot erhalten, freut sich hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.04.2023 finden Sie hier

Europa

Kerstin Holm ist für die FAZ nach Kasachstan gereist, wo sich emigrierte Russen mit seit je in Kasachstan ansässigen Russen mischen. Die jüngst emigrierten Russen erkenne man an ihrem Hochmut, bestätigt unter anderem die auch in Deutschland bekannte Alissa Ganijewa, die mit ihrem Mann nach Kasachstan geflohen ist. "Die Schriftstellerin, die in einer awarischsprachigen Familie aufwuchs, wirft seit je ihren Landsleuten imperiale Arroganz gegenüber kleineren Völkern vor und spart dabei die russischen Oppositionellen nicht aus. In Almaty tadeln russische Einwanderer gern das öffentliche Verkehrsnetz oder den Stil von Autofahrern, berichtet Ganijewa. Die wenigsten, die hier lebten, bemühten sich, Kasachisch zu lernen oder interessierten sich für die kasachische Geografie und Geschichte."

Richard Herzinger antwortet in seiner Perlentaucher-Kolumne auf Autoren, die den genozidalen Charakter von Putins Krieg gegen die Ukraine bestreiten: "Dabei wäre es gewiss zu einfach, den Putinismus als bloßen Wiedergänger des Nationalsozialismus und/oder Stalinismus zu betrachten. Doch dürfen die zahlreichen Übereinstimmungen der Vernichtungspolitik des russischen Regimes mit jenen der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts nicht übersehen werden."

In Berlin wird es nach der Abstimmung in der SPD nun eine schwarz-rote Koalition geben. Das bedeutet auch, dass das Berliner Neutralitätsgesetz erhalten bleibt, schreibt Walter Otte bei hpd.de, denn beide Parteien haben sich dazu bekannt, religiöse Neutralität in staatlichen Institutionen wie Schulen aufrecht zu erhalten. Allerdings gab es einige Gerichtsentscheidungen zur Berliner Praxis. Die Gerichte kritisierten, dass es seitens der Schulbehörde an Darlegungen dazu fehle, "dass an Berliner allgemeinbildenden Schulen substantielle Konfliktlagen bestünden, die ihre Ursache im Tragen auffallender, religiös konnotierter Kleidungsstücke durch eine Lehrkraft hätten oder durch diese geschürt würden, und dass hierdurch die schulischen Abläufe und die staatliche Neutralität tatsächlich ernsthaft in einem Maße beeinträchtigt werden könnten, dass von einer konkreten Gefahr für diese Schutzgüter (Schulfrieden beziehungsweise staatliche Neutralität) gesprochen werden könnte. Das Verbot des Zeigens religiöser Symbole durch Lehrkräfte in Schulen während der Dienstzeit ist somit entgegen interessengeleiteter Fake News keineswegs vom Tisch; es werden allerdings andere Anforderungen an ein solches Verbot gestellt werden müssen als bisher."
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Ideen

Wir haben zu viele Emotionen in der Politik, glaubt die israelische Soziologin Eva Illouz im Interview mit Zeit online. Die sind zwar wichtig, helfen aber nicht beim demokratischen Zusammenleben: "Das wahrhaft revolutionäre Gefühl, mit dem Demokratie arbeiten sollte, ist Mitmenschlichkeit, nicht Solidarität. Denn Solidarität beruht zu sehr auf der Vorstellung einer Gesellschaft als Gemeinschaft - und wir sind keine Gemeinschaft mehr. Wir leben in großen Städten und sind sehr mobil. Wir suchen uns heute selbst die Gruppen und Gemeinschaften aus, zu denen wir dazu gehören wollen und können sie jederzeit wieder verlassen. Nationalistischer Populismus aber verkauft die Fantasie einer Rückkehr zu einer Gemeinschaft, zu Solidarität, zu einem Band der Liebe, das uns in einem Land verbindet. Aber ich glaube weder, dass wir zu einer Gemeinschaft zurückkehren können, noch dass wir das sollten. Die globalisierte Gesellschaft ist zu fragmentiert. Wonach wir streben können, ist eine etwas anderes Gefühl, das von Mitmenschlichkeit." Außerdem hilfreich wäre eine strikte Trennung von Staat und Religion, meint sie.

Überall wird feierlich der hundertste Geburtstag des Historikers Reinhart Koselleck begangen, der neben Carl Schmitt, Theodor W. Adorno und Niklas Luhmann zu den Idolen des deutschen Feuilletonismus zählt. Die Philosophin Sidonie Kellerer meldet im Philomag (wo der Vorname Reinhart als Reinhard präsentiert wird) ein paar Zweifel an. Seine Herkunft aus dem Denken Carl Schmitts ist doch um einiges intensiver, als es offizielle Versionen verlauten lassen, schreibt sie, und Kosellecks berühmte Dissertation "Kritik und Krise" sei "keine Schrift der Aufklärung. Im Gegenteil: Es ist eine an Verschwörungstheorien erinnernde Polemik gegen die aufklärerische Kritik, die als abstrakte, ungebundene, kurz als utopische Ideologie beschrieben wird." Ausgerechnet Carl Schmitt hatte Kosellecks Ideen mit der Formel gelobt, es handle sich um eine "Aufklärung potenzierten Grades", eine Formulierung, die in der Koselleck-Rezeption prägende Kraft hatte: "Das ist eine gänzliche Verdrehung der eigentlichen Bedeutung der Begriffe. Ein Begriffsraub und eine Inversionslogik, die sich bis heute als umso wirkungsvoller erwiesen haben als Kosellecks Theorie seit 1973 unter der Flagge Suhrkamp segelt."
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Geschichte

Vor vierzig Jahren präsentierte der Stern die angeblichen Hitler-Tagebücher, die der Stern-Reporter Gerd Heidemann aufgespürt haben wollte. Es gibt zwar einige medienwissenschaftliche Bücher zu diesem Thema, so die Historiker Maximilian Kutzner und Sebastian Barth auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ, aber Historiker meiden das Thema bisher trotz zahlloser Quellen, die sich auswerten ließen. Ein Aspekt dabei ist, dass der Thema der Zunft ein bisschen peinlich ist. Heidemann war in der dubiosen Szene der Devotionalienhändler unterwegs, und "auf seiner Jagd nach den sagenumwobenen Tagebüchern und ihrem mutmaßlichen Beschaffer Konrad Kujau kreuzte Heidemann mehrfach die Wege etablierter Historiker. Zufällig waren diese Begegnungen nicht, wie bisher wenig beachtete Quellen aus dem Archiv des Münchner Instituts für Zeitgeschichte zeigen. Denn Historiker suchten, wenngleich mit anderer Intention, nach den gleichen Stücken wie die Sammler."

Eine noch wesentlich größere Lücke in der deutschen Geschichtsschreibung benennt im Feuilleton der FAZ René Schlott, der in Leipzig eine Tagung zum Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto verfolgte: "Trotz des hohen Stellenwerts, den die Holocaustforschung auch in der Bundesrepublik inzwischen hat, beschäftigt sich derzeit nicht ein einziger deutscher Wissenschaftler mit dem Warschauer Ghettoaufstand. Die letzte Tagung zum Aufstand in der Bundesrepublik liegt vierzig Jahre zurück. Das 1994 von dem israelischen Forscher Israel Gutman vorgelegte Standardwerk zu dem Thema ist bis heute nicht auf Deutsch erschienen." Mehr auf den Seiten des Dubnow-Instituts, das die Tagung veranstaltete.
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Medien

Der französische Journalist Christophe Nobili vom Canard enchaîné war berühmt geworden mit der Aufdeckung eines Korruptionsskandals: Der Politiker François Fillon hatte jahrelang seine Ehefrau und zwei Söhne zum Schein als parlamentarische Mitarbeiter beschäftigt. Insgesamt sollen mehr als eine halbe Million Euro geflossen sein. Fillon musste nach der Aufdeckung seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurückziehen. Jetzt hat Nobili wieder einen Skandal aufgedeckt, diesmal im Canard enchaîné selbst, der ihn daraufhin freistellte, berichtet Roman Bucheli in der NZZ. Nobili hatte erfahren, dass ein Salär an die Ehefrau eines längst pensionierten, damals 91-jährigen Zeichners des Canard überwiesen wurde, die nie eine Zeile geschrieben hatte. "Was zutage kam, übertraf den Fall Fillon bei weitem. Von 1996 bis zu ihrer regulären Pensionierung 2020 waren Edith Escaro Salärzahlungen von rund 1,5 Millionen Euro überwiesen worden. Zuzüglich Sozialabgaben summierten sich die Kosten für die Zeitung auf rund 3 Millionen Euro. Ohne jede sichtbare Gegenleistung, wie Nobili festhält. Im März des vergangenen Jahres konfrontierte Nobili seinen Arbeitgeber mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen. Und nun wiederholte sich das Drehbuch der Affäre Fillon: Die beiden Chefredaktoren bestritten die Unrechtmäßigkeit der Zahlungen und warfen umgekehrt Nobili Verleumdung vor."
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Kulturpolitik

Hubertus Knabe recherchiert in seinem Blog zu einer sehr heißen Kartoffel, dem Museum Berlin-Karlshorst, ehemals "Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945", das seit dem Mauerfall zumindest offiziell von Deutschland, Russland, Belarus und der Ukraine betrieben wird. Die Ukraine hat der Institution seit der Invasion auf der Krim 2014 allerdings den Rücken gekehrt. Die Gremien sind nach wie vor international besetzt, findet Knabe heraus. Zum zweiköpfigen Vorstand des Museums, der ein Weisungsrecht gegenüber dem Direktor hat, gehört nach wie vor Wladimir Lukin. "Zu DDR-Zeiten hatte Lukin selber das Karlshorster Museum geleitet. Seine Wiederwahl ist deshalb delikat, weil er ein erklärter Anhänger Putins und Befürworter des Angriffskrieges gegen die Ukraine ist. Schon kurz nach Beginn der Invasion ließ sein Museum Moskauer Kinder 5.000 Unterstützungsbriefe an russische Soldaten schreiben, die 'ihre Pflicht in der Ukraine erfüllen'. In einer feierlichen Veranstaltung wurden die Briefe anschließend dem Verteidigungsministerium zur Weiterleitung übergeben." Laut Knabe sind sich Auswärtiges Amt und Staatsministerin Claudia Roth der Problematik bewusst, schieben das Problem aber vor sich her.
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