9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser Gestus des Besserwissens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2023. Im Tagesspiegel spricht Swetlana Tichanowskaja über den Widerstand in Belarus und ihren Mann Sergej Tichanowski im Gefängnis. Bis zur Helsinki-Schlussakte im Jahr 1975 war die Ostpolitik eine gute Sache, sagt Joachim Gauck in der SZ, aber danach...  In taz und Welt wird über die Thesen Martin Schröders gestritten, der die Emanzipation der Frau für mehr oder weniger abgeschlossen hält. Und auf Twitter fetzt man sich über Reinhart Koselleck.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2023 finden Sie hier

Europa

Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja erzählt im Interview mit Claudia von Salzen vom Tagesspiegel, wie die Menschen in Belarus trotz der starken Repression weiterhin Widerstand leisten, in kleinen schwer zu greifenden Zellen. Wenn sie von ihrem Mann erzählt, der seit 2020 im Gefängnis sitzt, spürt man, wie viel Kraft dieser Widerstand kosten muss: "Seit 2020, vom ersten Tag an, sitzt er in Einzelhaft. Viele Male wurde er in eine Strafzelle gesperrt, das ist ein furchtbarer Ort, kalt und voller Ratten und Kakerlaken. In der Haft ist man vollkommen rechtlos. Ich konnte mit meinem Mann nur über den Anwalt kommunizieren. Aber vor einem Monat wurde dem Verteidiger die Lizenz entzogen. Seitdem weiß ich nicht, was im Gefängnis passiert. Ein neuer Anwalt darf nicht zu meinem Mann. Meine Kinder können ihm Briefe schreiben, und er ihnen. Aber seit einem Monat haben wir nichts von ihm gehört. Diese Ungewissheit ist sehr schwer zu ertragen."

Leider stecken auch viele russische Oppositionelle im Denken des historischen russischen Imperialismus fest. Eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit hat in Russland nie stattgefunden, konstatiert die Historikerin Juliane Fürst in der Zeit. Historisch betrachtet sei "der Anreiz für russische Exilanten, mit dem herrschenden russischen System kompromisslos und umfassend zu brechen, relativ gering. Umso mehr als keine Perspektive auf einen radikalen Neuanfang in Russland gegeben ist. Anders als Deutschland 1945 wird Russland nicht vollständig besetzt werden, der Regimewechsel wird nicht von außen, sondern bestenfalls von innen stattfinden. Er wird wahrscheinlich von denjenigen ausgehen, die bereits jetzt Macht und Einfluss haben und im rechten Moment umsatteln. Einen Präsidenten Nawalny wird es nicht geben. Damit befindet sich die Putin-Opposition bereits jetzt in einem Stadium der politischen Hoffnungslosigkeit."

"Die Lügen Putins hat Frau Merkel durchaus erkannt", sagt Joachim Gauck im epischen SZ-Interview mit Stefan Kornelius. Aber: "Wenn die Vertreter der ökonomischen Elite erklären, wie nützlich die guten Beziehungen sind und dass unser Wohlstand davon abhängt, dann entsteht da ein Gegengewicht." Bis zur Helsinki-Schlussakte sei der Prozess "Wandel durch Annäherung" erfolgreich gewesen, sagt er: "Dann aber kam die zweite Phase der Ostpolitik: Wir stabilisierten das System, in der Hoffnung, dass es sich nicht unterminiert fühlen und deshalb eine Form der Milde gegenüber der eigenen Gesellschaft entwickeln würde. Wir dachten nicht an Freiheit, sondern an kleine Freiheiten. In diesem Moment hat die Ostpolitik der Sozialdemokraten die Bindung zu den unterdrückten Massen verloren und zum Beispiel nicht erkannt, was an der Basis in Polen wirklich geschah. Dieser Gestus des Besserwissens ist in einem Teil des politischen Milieus erhalten geblieben."

Mit besonderem Stolz feiert die Linke in Italien den Tag der Befreiung vom Faschismus in Italien, für die extreme Rechte war der 25. April ein "Tag der Schande", schreibt Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog). Aber nicht alle, die gegen Mussolini kämpften, kämpften auch für die liberale Demokratie, sondern für die Errichtung eines kommunistischen Staates, erinnert Schmid: "Diese unbestreitbare, von der Linken aber nur ungern anerkannte Tatsache nutzte Italiens extreme Rechte viele Jahre, um die Legitimität des demokratischen Staates in Zweifel zu ziehen." Mit Spannung wurde daher erwartet, wie sich Giorgia Meloni positionieren würde: "In einem ausführlichen Brief an die Tageszeitung Corriere della Sera hat Meloni ihre Position zum 25. April erläutert. Sie spricht darin erstmals unumwunden davon, dass es die 'liberale Demokratie' zu verteidigen gelte. Dann aber geht sie, wenn auch auf Samtpfoten, zum Angriff über. Sie sagt: 'Freiheit und Demokratie sind ein Erbe aller.' Es sei die historische Leistung der 'demokratischen Rechten' (sie meint damit ihre Partei und deren Vorgänger) gewesen, auch die Anhänger des Faschismus und die Millionen von politisch passiven Italienerinnen und Italiener 'in die Demokratie geleitet' zu haben. Wer das, wie die Linke, nicht anerkenne, benutze den Antifaschismus, 'um jeglichem politischen Gegner die Existenzberechtigung abzusprechen'. Damit erklärt sie die Rechte zum wahren und einzigen Garanten von Freiheit und Demokratie. Eine absurde Volte. Vielleicht aber auch ein gewundener Versuch, die extreme Rechte durch die Hintertür in die Demokratie zu führen."
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Medien

Freitag werden die Öffentlich-Rechtlichen verkünden, wieviel Geld sie ihrer Meinung nach ab 2025 brauchen. Über eine mögliche Erhöhung des Rundfunkbeitrags möchte der KEF-Vorsitzender Martin Detzel sich im SZ-Gespräch mit Claudia Tieschky nicht äußern. Aber Tieschky fragt auch nach, warum die KEF das Skandal-Bonussystem im RBB nicht bemerkte: "Das hat mit der Flughöhe der verschiedenen Kontrollinstanzen zu tun und mit ihrer Aufgabenverteilung. Für die anstaltsspezifische Kontrolle sind in erster Linie deren Gremien zuständig. Die KEF ist keine Controlling-Einrichtung der einzelnen Sender. Das ist Aufgabe der Verwaltungsräte, die auch die Verträge mit den Führungskräften verhandeln. Die KEF prüft hingegen den Finanzbedarf der Sender für die Zukunft."

Ebenfalls in der SZ machen sich Heiko Hilker vom Rundfunkrat im MDR und Ilja Braun Gedanken, wie sich der Rundfunkbeitrag sofort auf 15 Euro senken ließe. Sie schlagen unter anderem eine Deckelung der Intendanten-Gehälter bei zukünftigen Verträgen auf das Niveau von Ministerpräsidenten vor. Außerdem könnte man die Altersversorgung der Anstalten neu aufstellen: "Die Altersversorgung ist eine politische Last, und sie wurde in dieser Form von der Medienpolitik über Jahrzehnte mitgetragen: In allen Gremien zusammengenommen sitzen mehr als 25 Ministerpräsidenten, Medienminister und -staatssekretäre. Der Vorschlag: Die Altlasten der Altersversorgung werden aus den Sendern herausgelöst und von den Ländern übernommen. Im Gegenzug verzichten die amtierenden Intendanten und Direktoren auf die Hälfte ihrer Pensionsansprüche. So werden aus 25.000 Euro monatlicher Pension 12.500, aus 16.000 Euro 8.000. Einmalig würden geschätzte 40 Millionen Euro freigesetzt." Zu den weiteren Vorschlägen gehört ein parzieller Verzicht auf teure Sportrechte, der 135 Millionen Euro im Jahr bringen soll.

Auch bei Anwaltskosten könnten die Sender vielleicht noch ein bisschen einsparen. Die Anwaltskosten des RBB im Kontext der Entlassung von Patricia Schlesinger liegen inzwischen bei 1,9 Millionen Euro, berichtet Aurelie von Blazekovic in der SZ.

Außerdem: Erstaunliche Volte in den Döpfner-Reichelt-Scharmützeln. Der ehemalig Bild-Chef Julian Reichelt soll der Berliner Zeitung weiteres desavouierendes Material aus Döpfner-SMS angeboten haben. Aber der Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, entschloss  sich, das Material nicht zu bringen und informierte statt dessen den Springer Verlag, den er damit in seinem Prozess gegen Reichelt munitioniert, berichten Isabell Hülsen und Anton Rainer im Spiegel. "Einige der Vorwürfe: unerlaubte Weitergabe interner Kommunikation, die nicht erfolgte Löschung sensibler Daten sowie Betrug."
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Gesellschaft

Frauen werden nicht mehr diskriminiert sagt der Soziologe Martin Schröder in einem viel diskutierten Buch. Ganz falsch liegt er er nicht, antwortet Simone Schmollack in der taz. Ganz richtig aber auch nicht, wie ihre Zahlen zeigen: "66 Prozent der berufstätigen Mütter arbeiten in einem Teilzeitjob. Bei den Vätern sind das nur 7 Prozent. Dabei würden viele Mütter mit Teil- oder keinem Job lieber öfter im Betrieb sein, als zu Hause Staub zu wischen, können das aber nicht, weil sie keinen Kita- oder Hortplatz haben. Bundesweit fehlen schon jetzt fast 400.000 Kitaplätze, Tendenz steigend. Frauen möchten genauso viel verdienen und dieselben Möglichkeiten auf Führungsjobs wie Männer haben."

Schröder hatte vor einigen Tagen seine Ansichten in der Welt nochmal dargelegt und kommt mit intrikater Dialektik. "Internationale Vergleiche zeigen: Je freier Männer und Frauen werden, desto unterschiedlicher werden sie. Mehr Gleichberechtigung geht also mit weniger Gleichstellung einher. So studieren Frauen technische Fächer am seltensten dort, wo es am meisten Gleichberechtigung gibt, beispielsweise in Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden." Darauf antwortete in der Welt die Soziologin Bettina Kohlrausch : "Aus der Höhe der Lebenszufriedenheit allerdings zu schließen, dass Frauen die aufgezeigten objektiven Benachteiligungen egal sind oder gar, dass sie sich gar keine Verbesserungen dieser Ungleichheiten wünschen würden, ist unzulässig."
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Ideen

In den Feuilletons überwiegen die feierlichen Huldigungen zum hundertsten Geburtstag des konservativen Historikers Reinhart Koselleck. Auf Twitter findet unterdessen eine ganz andere Diskussion statt. Koselleck soll Studentinnen oder Mitarbeiterinnen sexuell belästigt haben, erzählt unter anderem die Osteuropahistorikerin Franziska Davies in einem längeren Thread. FAZ-Redakteur Patrick Bahners fragt zurück: "Welche Belege gibt es denn für dieses angebliche offene Geheimnis?" Davies verweist auf einen andern Thread von Mara Keire, die zu sexueller Belästigung forscht: "'Allgemein bekannt' ist ein schwieriger Begriff, insbesondere wenn es um sexuelle Belästigung geht. Zumal Belästigung in der Regel entweder zu Mitwisserschaft oder Verschwinden führt. Studentinnen, die nie promoviert haben, die Doktorväter gewechselt haben, die nie in Gremien eingeladen wurden, die die Wissenschaft verlassen mussten..." Patrick Bahners antwortet: "Sind entsprechende Hinweise oder Andeutungen in der umfangreichen Koselleck-Literatur veröffentlicht worden? Oder jenseits davon? Zeit dafür wäre (seit Kosellecks Zeit) genug gewesen. Oder gibt es bislang ausschließlich informelle oral history? Das würde ich gerne wissen, um einen Eindruck von der etwaigen quellenkritischen Problematik zu gewinnen." Der postkoloniale Historiker Jürgen Zimmerer mischt sich ein: "Sie sind doch der Journalist? Seit meinem Tweet gestern haben sich Leute gemeldet, mit Namen. Man muss nur die Möglichkeit gedanklich zulassen, dass der Vorwurf auch für Koselleck zutreffen könnte... Dass das nicht in der Literatur steht, überrascht doch nicht." Bahners antwortet: "Lieber Herr Zimmerer, Sie müssten es irgendwie möglich machen, sich beim Blick in den Spiegel einzugestehen, dass die meisten Leute, mit denen Sie zu tun haben, mindestens so viele Möglichkeiten gedanklich zulassen wie Sie. Könnte auch in anderen Debatten hilfreich sein."

Wer ein Renegat ist, bestimmt der Dogmatiker. Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey schlagen in der Zeit heute erneut zu. Nachdem Sie schon ein ganzes Heft der Zeitschrift Mittelweg 36 der "Kippfigur" des (nicht gegenderten) "Renegaten" widmeten, erklären sie sie heute nochmal den Zeit-Leser*innen. Rechts ist, wer nicht woke ist: "Der Anti-Linksliberalismus lebt von der Rolle der Renegaten. Die ehemaligen im weiten Sinne Linken inszenieren sich als Bekehrte und Erwachte: Sie sprechen die unangenehmeren Wahrheiten über den 'Mainstream' aus, der dissidente Stimmen mundtot mache. Dabei ist Mainstream ein ebenso vager Begriff wie Linksliberalismus. Doch gerade durch die Unbestimmtheit funktioniert er als Projektionsfläche. Die Neodissidenten präsentieren sich selbst als Ausgestoßene: Für Wahrheit und Aufklärung sind sie bereit, Opfer zu bringen. Bei manchen ist die performative Ironie erstaunlich, wenn sie die Diskriminierung ihrer Meinungen in Talkshows zur besten Sendezeit oder in großen Interviews der überregionalen Printmedien beklagen."
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Kulturpolitik

In der SZ macht sich Peter Laudenbach ein paar Gedanken darüber, was Berlins designierte Kultursenator Joe Chialo mit dem ihm zur Verfügung stehenden Kulturetat von 938 Millionen Euro anstellen könnte - und muss: "Die deutlichen Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst werden die Budgets der öffentlich getragenen Kultureinrichtungen des Landes mit Mehrkosten in Millionenhöhe belasten. Der künftige Kultursenator kann sich schon mal darauf vorbereiten, im Haushaltsausschuss darum zu werben, diese zusätzlichen Belastungen der Museen, Orchester und Bühnen aus dem Landeshaushalt zu kompensieren. Eine der Großbaustellen ist immer noch das Humboldtforum mit seiner etwas komplizierten Struktur: Neben dem Bund als Hauptträger ist auch das Land Berlin daran beteiligt. Ob und wie diese Beteiligung fortgeführt wird, müssen Berlin und der Bund klären."

Ebenfalls in der SZ wird Jörg Häntzschel nicht ganz klar, worauf die Kritik des Rechercheteams von Dlf Kultur, das aufdeckte, dass auch Verlage aus dem völkisch-rechten Rand beim Corona-Hilfspaket "Neustart Kultur" zugriffen (Unser Resümee) eigentlich abzielt: "Darauf, dass die Zuständigen ihre eigenen Regeln zu lax gehandhabt haben, dass das Programm überdimensioniert war, oder dass Qualität keine Rolle spielte? Offenbar liegt hier ein Missverständnis vor: Es ging um Soforthilfe für eine zentrale deutsche Wirtschaftssparte, nicht um die Förderung von Geisteserzeugnissen mit Prädikat wertvoll."
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Politik

(Via Mena-Watch) Volker Perthes galt lange als ganz ganz wichtiger Nahost-Experte. Dann ging er in die Politik und wurde Sudan-Beauftragter der UN. Und dort wurde er laut einem Guardian-Bericht trotz seiner erhabenen Expertenschaft völlig von den Ereignissen überrascht. Der Guardian konnte einige interne Protokoll-Nachrichten lesen: "'Dies ist das schlimmste aller Worst-Case-Szenarien', sagt Perthes. 'Wir haben es letzte Woche sogar mit Diplomatie im letzten Augenblick versucht... und sind gescheitert.' Gab es denn gar keine Warnhinweise, fragt ein Mitglied seines Teams. 'Nein, wir hatten keine frühe Warnung', sagt Perthes laut einem Protokoll des Treffens, das dem Guardian vorliegt."
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Stichwörter: Sudan, Perthes, Volker