9punkt - Die Debattenrundschau

Multimediale Verwertungskettenreaktion

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2023. Äh, der Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, hat zwar die Quelle Julian Reichelt an Mathias Döpfner verraten, aber der Chefredakteur der Berliner Zeitung, Tomasz Kurianowicz, beteuert, es gelte weiterhin der Quellenschutz. Alle anderen Medien sind entsetzt. Emmanuel Macron ist einerseits zu sehr Gaullist, andererseits nicht genug, fürchtet Wolf Lepenies in der Welt. In der SZ ist die Schottin A.L. Kennedy nicht zufrieden mit der britischen Monarchie. Die NZZ ist dagegen entgeistert über die Verschwörungstheoretikerin Kennedy.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2023 finden Sie hier

Europa

Ein Grund für den massiven Vertrauensverlust in Emmanuel Macron liegt darin, "dass er die eine Hälfte des gaullistischen Erbes überreizt und die andere Hälfte missachtet hat", schreibt Wolf Lepenies in der Welt. Unter de Gaulle bildete "die enge Beziehung von 'Président' und 'Peuple' … das Legitimationsgerüst der Republik: die Machtfülle des Staatsoberhaupts fand ihre Entsprechung in der Ermächtigung des Volkes, mit dem Instrument des Referendums Einfluss auf die Politik zu nehmen. De Gaulle regierte wie ein Monarch - seiner Legitimität tat dies keinen Abbruch, weil er das Volk ernst nahm und sich auf das Risiko des Referendums einließ. Als er nach vier gewonnenen Volksabstimmungen 1969 das Referendum über die Senats und Regionalreform verlor, trat er zurück. Stärker als andere Präsidenten hat Emmanuel Macron einen monarchischen Politikstil zelebriert - und hat seine Reformpolitik keinem Test durch ein Referendum ausgesetzt. Ein massives Legitimationsdefizit ist die Folge."

Der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy kommt in der SZ die Galle hoch bei dem Gedanken daran, wieviele Millionen die Briten am nächsten Samstag für die Krönung von King Charles ausgeben werden. Dabei finden viele Leute, die Monarchie sei überflüssig, schreibt sie: "Jüngste Umfragen zeigen, dass die Zustimmungswerte der Royals unter 60 Prozent liegen. Besonders bei den jungen Leuten und all jenen Briten, die außerhalb Englands leben, schwindet ihre Beliebtheit rapide. Die Windsors sind ein Gemisch aus durchgesteckten Stories, großen Ohren, seltsamen Zähnen, kartoffeligen Köpfen, schlechtem Benehmen und kriselnden Ehen. Aber sobald ein Monarch die Investitur hinter sich hat, wird von uns Briten seit jeher erwartet, dass wir ihn akzeptieren, manchmal sogar unter Androhung der Todesstrafe. L'etat, c'est lui. Ou elle. N'importe quoi. Aber auf Englisch."

Sie ist "furchterregend furchtlos", "konsequent links" und glaubt intensiv an Verschwörungstheorien, schreibt ein leicht entgeisterter Roman Bucheli in der NZZ über A.L. Kennedy, die er in Zürich getroffen hat (im neuen Zürcher Geparden-Verlag legt sie den Essay "Der Kern der Dinge" vor). "Nicht immer ist klar, ob A. L. Kennedy ihre abstrusen Thesen ernst meint oder ob sie ihre eigene Paranoia parodiert. Vor zwei Jahren schrieb sie in einer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung, die englischen Printmedien hielten sich noch knapp über Wasser, 'indem sie uns verschweigen, dass wir alle sterben werden'. Eine 'digitale Operation von rechtsradikalen Nerds' habe es sich zum Ziel gesetzt, die Regierungsgeschäfte zu steuern."
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Politik

"Widerstand ist der einzige Hebel, die Taliban zu Verhandlungen zu zwingen. Dabei sollte die Welt uns unterstützen", sagt Ahmad Massud, Anführer des "Nationalen Widerstands" und Sohn des 2001 von al-Qaida ermordeten und von vielen Afghanen als Nationalheld verehrten Ahmad Schah Massud, im SZ-Gespräch mit Tobias Matern: "Im heutigen Afghanistan herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Noch fünf Jahre, und es stehen 5.000 Frauen als Selbstmordattentäter bereit. Noch fünf Jahre, und all die ausländischen Terrorgruppen im Land werden bereit sein, ihren Krieg in die Nachbarstaaten und die Welt zu tragen. Und das dank der Unterstützung durch den Terrorstaat der Taliban. Das sind tödliche Giftpilze, die in Afghanistan heranwachsen. Warum sonst würden westliche Geheimdienste warnen, dass der Ableger des 'Islamischen Staats' in Afghanistan Europa schon bald angreifen könnte?"

Elena Witzeck trifft für die FAZ Eva Illouz, die sich in ihrem jüngsten Buch zur Krise der Demokratie in Israel und anderswo äußert. Eine Schwachstelle in Israel bennent sie laut Witzeck so: "Viele säkulare Intellektuelle glaubten, Israel könne jüdisch und demokratisch zugleich sein. Aber warum sollte diesem Land etwas gelingen, was in keinem anderen Land funktioniere? Der Verlust der Demokratie, glaubt die Soziologin, ist der Preis dafür, keine Entscheidung getroffen zu haben."
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Medien

Berliner-Zeitung-Verleger Holger Friedrich, der Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt an Springer verpfiff (Unser Resümee), sagte in einem Interview, er wollte mit der Intervention eine "Debatte anstoßen" über ethische Standards und journalistische Verantwortung, berichtet Laura Hertreiter in der SZ und gibt Friedrich ein wenig Nachhilfe in Medienrecht: "Medienhäuser müssen ihre Informanten schützen, das ist schon laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte eine Grundvoraussetzung der Pressefreiheit, und wenn Medien sich nicht verantwortlich für ihre Quellen fühlen, ist Schluss mit Journalismus. Whistleblower riskieren häufig viel, um für Transparenz zu sorgen und auf Dinge wie Korruption, Menschenrechtsverletzungen oder Datenmissbrauch aufmerksam zu machen. Das Prinzip des Informantenschutzes gelte auch, wenn der Informant nicht heldenhaft in Motivlage und Lebenslauf ist."

Ähnlich sieht es Michael Hanfeld in der FAZ. "Es könnte sich um einen eklatanten Fall von Informantenverrat und einen Verstoß gegen Ziffer 5 des Pressekodex handeln. Unter dieser Ziffer heißt es: 'Die Presse wahrt das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis.' Davon abrücken darf man nur, wenn es um Verbrechen geht, die Pflicht zur Anzeige besteht oder 'gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen, insbesondere wenn die verfassungsmäßige Ordnung berührt oder gefährdet ist'."

Zumindest Tomasz Kurianowicz, Chefredakteur der Berliner Zeitung, hat seine Hausaufgaben gemacht. Friedrich habe als Unternehmer gehandelt, schreibt er in einem Statement, um dann klarzustellen: "Die unternehmerische und redaktionelle Perspektive im Fall Julian Reichelt versus Axel Springer sind demnach verschieden. Die Redaktion der Berliner Zeitung bietet Quellenschutz, unabhängig davon, wer die Quelle ist."

Patrick Bahners greift für die FAZ die neuerliche Diskussion um die gefälschten Hitler-Tagebücher auf (unser Resümee). Anlass ist für ihn die Tagung "Die Geschichte des Stern und seiner prägenden Personen", die im Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) stattfand (hier das Progamm als pdf-Dokument). Bahners sieht zwar auch, dass die Fälschung Hitler als einen darstellen, "der den Juden nichts Böses wollte und die Lösung des lästigen Problems, das sie in seiner Wahrnehmung markierten seinen Untergebenen überließ". Darin und in der Tatsache, dass der Stern es verschwieg, sieht er nicht den Skandal, sondern in der NDR-Sendung "Reschke", die daraus einen Skandal habe konstruieren wollen: "Bei der Wiedervorlage des Skandals wiederholt sich ein Muster des Ur-Skandals: die Spekulation auf eine multimediale Verwertungskettenreaktion." In der SZ berichtet Willi Winkler von der Tagung: "Mit seiner Nazi-Begeisterung, das wurde bei der Tagung in der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz noch einmal deutlich, war der Stern nicht allein."
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Geschichte

Kerstin Holm berichtet für die FAZ aus Kasachstan, wo sie die Gedenkstätte für das ehemalige Frauenstraflager Alžir besucht, einen von Stalin geschaffenen Gulag für Frauen und Witwen hingerichteter Opfer des Großen Terrors. Auch die  Deutsche Gertrud Platais (1910 bis 2007) saß dort ein, erzählt sie: "Nach der Friedlichen Revolution besuchte Platais 1990 Kasachstan und berichtete Mitarbeitern der Alžir-Gedenkstätte, dass den Gefangenenkolonnen oft Einwohner des Nachbardorfes aufgelauert hätten, deren Kinder sie dann mit kleinen 'Steinchen' bewarfen. Die unglücklichen Frauen hätten sich zunächst zusätzlich erniedrigt gefühlt, sagte Platais. Doch dann habe sie gemerkt, dass die Steinchen nach Milch und Quark dufteten; es waren Trockenkäsebällchen (kasachisch: kurt), die sich die Dörfler vom Mund abgespart hatten, um den Lagerinsassen beizustehen."
Archiv: Geschichte