9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Sieg ist ein Sieg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2023. Das Krönungsspektakel ist eröffnet: Niemand kann Staatspomp besser als die Briten, tröstet sich Marina Hyde im Guardian, auch nicht die Polen, die im Jahr 2030 einen höheren Lebensstandard haben werden. In der FAZ meldet die Ethnolognin Brigitta Hauser-Schäublin entsetzt, dass Nigeria die Benin-Bronzen dem alten Königshaus überlassen hat. In der NZZ erschauert Irina Rastorgujewa vor der grotesken russischen Wirklichkeit. Die FAZ schildert, wie sich Frankreichs Milliardäre Zeitungen zuschieben und kritische Redakteure vom Hals schaffen. Die taz verabschiedet Vice, das Zentralorgan der Millennials und Hipster, dessen Gonzo-Journalismus auch am Kapitol endete.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.05.2023 finden Sie hier

Europa

Die königlichen Krönungsspiele sind eröffnet. Die Medien geben sich Mühe, das Spektakel nicht an sich vorbei ziehen zu lassen, aber republikanische Würde zu bewahren. Selbst Marina Hyde, die spitzeste Zunge der Guardian-Kolumnisten, wird ein bisschen ernst: "In einem Gespräch mit Ben Pimlott, dem Biografen von Elizabeth II., nannte Prinzessin Margaret die Krönung von 1953 einen 'Phönixmoment', in dem alles aus der Asche der unmittelbaren Nachkriegszeit auferstanden sei. Der gegenwärtige Moment ist ganz klar ein anderer: Die Krönung wird nicht als Teil einer allgemeinen Erneuerung und des Optimismus empfunden, und der neue Herrscher ist nicht das vergoldete Boot, das von einer steigenden Flut gehoben wird. Stattdessen ist es eine Zeit des Rückgangs, in der staatlicher Prunk häufig als das Letzte genannt wird, was wir noch ohnegleichen tun. Bis 2024 wird der durchschnittliche britische Haushalt einen niedrigeren Lebensstandard haben als der durchschnittliche Haushalt in Slowenien. Bis 2030 werden wir hinter Polen zurückgefallen sein. Aber werden diese Länder auch solche weltberühmten königlichen Schauspiele veranstalten? Nein, das werden sie nicht. Ein Sieg ist ein Sieg, auch wenn es in einem Spiel ist, das nur noch wenige andere Länder zu spielen scheinen."

Auch wenn die Macht der britischen Krone in klarem Missverhältnis zu dem Krönungsspektakel stehe, sieht Stefan Kornelius in der SZ durchaus Sinn in dem Fantasy-Absolutismus, den sich die Briten da leisten: "Es ist vor allem die britische Krone, welche die Einheit des eigentlich zutiefst föderalen und spaltungsanfälligen Landes sichert." Michael Neudecker trägt ebenfalls in der SZ die Recherchen britischer Medien zusammen: "Das Gesamtvermögen von Charles, inklusive Immobilien, teuren Pferden, Autos, Juwelensammlungen und dergleichen, schätzt der Guardian auf 1,8 Milliarden Pfund. Die konservative Sunday Times kam in ihrer neuesten Schätzung auf weniger, nämlich 600 Millionen Pfund, aber immer noch auf fast das Doppelte wie bei seiner Mutter."

In der FAZ beleuchtet Patrick Bahners die Salbung von König Charles III. vor einem eschatologischen Horizont: "Diese heilsgeschichtliche Dimension der Zeremonie wird in Westminster heute durch eine erstaunliche Innovation betont werden, die einen bei weltlicher Betrachtung ziemlich frechen mittelalterlichen Kunstgriff wiederholt. Die Könige von Frankreich wurden mit einem Öl gesalbt, das ein Engel dem ersten getauften Frankenkönig Chlodwig gespendet haben soll. Mit der direkten himmlischen Autorisierung machten sie sich von Kaisern und Päpsten gleichermaßen unabhängig."
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Kulturpolitik

Die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin sieht in der FAZ, wie immer von ihr befürchtet, die Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria in einem Fiasko enden: Nigerianischen Medien zufolge hat der Staatspräsident Muhammadu Buhari kurz vor Amtsende die Eigentumsrechte sämtlicher Benin-Artefakte dem Oba von Benin übertragen. "Dies gelte für alle bereits zurückgegebenen und alle weiteren zu erwartenden Restitutionen von Benin-Objekten weltweit: "Was von deutschen Politikern und Politikerinnen als ein Zurückgeben des kulturellen Erbes an das 'nigerianische Volk' gedacht war und 'die Wunden der Vergangenheit heilen' sollte (Claudia Roth), ist stattdessen nun zu einem Geschenk an ein einziges Königshaus - eines unter vielen Königshäusern und Sultanaten in der Republik Nigeria - geworden. Ein Königshaus, das zudem, aus heutiger Sicht, bis zu seiner Unterwerfung durch die Briten schlimmste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat: Notorische Angriffskriege über Jahrhunderte hinweg mit Plünderungen, Zerstörungen, Massakern, Versklavung von Kriegsgefangenen, Menschenopfern zu Ehren der in den Gedenkköpfen repräsentierten Ahnen sowie Sklavenjagd und -handel in großem Stil."
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Politik

Der Feminismus soll als extremistische Ideologie eingestuft werden, Überweisungen an Verwandte in der Ukraine gelten jetzt als Hochverrat: Mit ihrem Gespür fürs Groteske versammelt die in Berlin lebende Autorin Irina Rastorgujewa in der NZZ Beobachtungen zur neuen russischen Wirklichkeit: "Der Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Alexander Bastrykin, verkündet auf der allrussischen wissenschaftlich-praxisorientierten Konferenz der Moskauer Universität des Innenministeriums, dass die Probleme in Russland damit begonnen hätten, dass die Menschenrechte und Freiheiten als höchster Wert proklamiert worden seien. 'Im Grunde genommen handelt es sich um eine Festigung der liberalen Ideologie, der allgemeinen Freiheit, bei gleichzeitigem Verbot der Staatsideologie.' Das ist offenbar der Grund, warum die Staatsduma die verfassungsmässigen Beschränkungen für die Bürger wieder einmal ausweitet."
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Medien

In der taz verabschiedet Caspar Shaller den vor dem Konkurs stehenden Medienkonzern Vice, der mit seiner Mischung aus schockierenden Inhalten (Kongo, Nordkorea, krasse Schönheits-OPs) und roher Ästhetik zur Bibel der Millenials und Hipster wurde. Der Oberflächenreiz verbarg aber auch einen gewissen Nihilismus, meint Shaller: "Schon im Magazin war ein misogyner Einschlag zu bemerken, der die Offenbarungen über das toxische Arbeitsklima wenig überraschend machte. Selbst dass Mitgründer Gavin McInnes nach seinem Ausstieg zu einer der wichtigsten Stimmen der Alt-Right-Bewegung wurde und die Neonazi-Organisation ProudBoys aufbaute, die bei der Stürmung des Kapitols maßgeblich beteiligt war, kam nicht aus dem nichts. Aber in einer Zeit, in der Haltung und Professionalität im Journalismus wieder an Stellenwert gewonnen haben, hat sich Vice mit seiner Gonzo-Berichterstattung und ausgestellter Naivität keine Gefallen mehr gemacht. Vice war wie eine tolle Party, auf der Millenials über alle möglichen digitalen Kanäle mitfeiern konnten. Aber mittlerweile dauert der Kater viel länger als noch vor ein paar Jahren."

In der FAZ schildert Jürg Altwegg, wie sich Frankreichs Milliardäre die Zeitungen und Fernsehsender zuschieben, dabei immer darauf achtend, dass eine Krähe der anderen kein Auge aussticht. Im Mittelpunkt des Kartells steht der erzkonservative Vincent Bolloré: "Der Schriftsteller Erik Orsenna, Mitglied der Académie française, hat ein Werk über Bolloré veröffentlicht: 'Die Geschichte eines Ogers'. Sie beginnt mit dem Hinweis des Autors, dass er sich den besten Anwalt von Paris genommen habe: Bolloré ist auch dafür berüchtigt, dass er Kritiker mit langwierigen Prozessen zermürbt ... Ein prominentes Opfer hat sein Buch gleichwohl gefordert: Der Chefredakteur der renommiertesten Wirtschaftszeitung Les Echos wurde entlassen. Knall auf Fall. Vermutlich hat ihn eine Rezension von Orsennas 'Oger' den Job gekostet. Die Redakteure protestierten gegen die 'brutale Ausschaltung' mit der Weigerung, ihre Artikel namentlich zu zeichnen. Das Blatt gehört dem Luxus-Unternehmer (LVMH) und 'reichsten Mann der Welt' Bernard Arnault. In seinem Boulevardblatt Le Parisien rügen die Journalisten die einseitige Berichterstattung über die Rentenreform. Gegen die eingeleitete Entlassung einer weiteren Journalistin bei Paris Match protestieren nur noch die Kollegen unabhängiger Medien (wie Mediapart)."
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Geschichte

Die 75 Jahre seit der israelischen Staatsgründung 1948 deutet der Politikwissenschaftler Stephan Grigat in der taz als eine Folge von Vernichtungsdrohungen und Vernichtungsversuchen: "Die Vernichtungsdrohungen gegen Israel kommen schon seit Jahrzehnten nicht mehr von den arabischen Führungen, sondern vor allem vom Regime in Iran und von seinen Verbündeten. Darauf adäquat zu reagieren bleibt neben der Aufrechterhaltung einer jüdisch-demokratischen Staatlichkeit die zentrale Herausforderung für den Zionismus, auf dessen Grundlage der Staat Israel vor 75 Jahren gegründet wurde. Der Grundgedanke des Zionismus bleibt schon allein aufgrund der Persistenz des Antisemitismus aktuell."
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Stichwörter: Zionismus, Grigat, Stephan