9punkt - Die Debattenrundschau

Der Unterschied zwischen einem Palast und einem Museum

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2023. Nun stellt sich heraus: Nur weil wir die Benin-Bronzen in Nigeria abgeliefert haben, ist der Streit um sie noch längst nicht zu Ende. Macht doch nichts, wenn der Staat Nigeria die Bronzen einfach dem Oba übereignet, findet die SZ. Die FAZ sieht das anders: Der Nachfahr der Benin-Könige wolle auch eine bestimmte Geschichtsversion durchsetzen. Die Grünen finden die Kritik daran laut Welt rückwärtsgewandt. A propos Geschichtsversionen: Die taz bringt ein Dossier zum 8. und 9. Mai. Der Guardian erklärt, warum Putin vor morgen Angst hat. In der SZ beharrt Josef Schuster darauf, dass Israelkritik antisemitisch ist, wenn sie auf eine Auslöschung des jüdischen Staates hinausläuft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.05.2023 finden Sie hier

Kulturpolitik

Nachdem der nigerianische Staatspräsident Muhammadu Buhari kurz vor Amtsende die Eigentumsrechte sämtlicher Benin-Artefakte dem Oba von Benin übertragen hat, sah die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin am Samstag in der FAZ die Rückgabe der Benin-Bronzen an das nigerianische Volk kläglich gescheitert (unser Resümee). Heute widerspricht Jörg Häntzschel in der SZ: Was die Nigerianer mit den zurückgegebenen Artefakten machen, sei ihre Sache. Und auch deutsche Museumspolitiker wie Barbara Plankensteiner, Direktorin des Hamburger Museums am Rothenbaum, oder Andreas Görgen, rechte Hand von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, sind "sehr zuversichtlich, dass man eine gute Lösung findet". Ob es wirklich so einfach ist? "In Deutschland wird man sich nicht leichttun damit, diese Sicht zu akzeptieren", ahnt Häntzschel. "Als unser eigener Oba, Georg Friedrich von Preußen, große Teile des früheren Familienbesitzes der Hohenzollern vom Staat zurückforderte, war die Empörung groß." Doch Kwame Opoku, ehemaliger juristischer Berater der UN, beruhigt ihn: "Anders als viele in Europa dächten, würde der Oba viel sorgsamer mit dem restituierten Kulturerbe umgehen als die Regierung, so Opoku: 'Wenn die Regierung das Recht hätte, würde sie viel verkaufen - an Europäer. Die Leute in der NCMM kommen teils von ethnischen Gruppen, die keinen Wert auf diese Werke legen, zum Beispiel die Muslime.'"

Ganz so milde ist Andreas Kilbs Blick auf die Sache in der FAZ nicht: "Der entscheidende Unterschied zwischen einem Palast und einem Museum liegt in der Zugänglichkeit. Ein Museum ist öffentlich, ein Palast privat. In ein Museum gelangt man mit einer Eintrittskarte, in einen Palast mit einer Einladung." Der Oba wolle mit seiner Reprivatierung der Bronzen auch eine bestimmte Geschichtsversion durchsetzen: "Von der realen Geschichte des Königreichs Benin, das in der frühen Neuzeit ein besonders erfolgreicher Räuberstaat unter anderen, weniger erfolgreichen war, weil es unter anderem vom transatlantischen Sklavenhandel profitierte und die von den Portugiesen erworbenen Waffen für seine Kriegszüge nutzen konnte, ist in diesem historischen Narrativ kaum die Rede. Auch über die Menschenopfer, die noch im Jahr 1897, zum Zeitpunkt der britischen Militärexpedition, welche die Unabhängigkeit des Königreichs beendete, gang und gäbe waren, erfährt man darin wenig."

Der Grünen-Politiker Erhard Grundl hat Hauser-Schäublin derweil für ihre "rückwärtsgewandte Herangehensweise" kritisiert, berichtet Hannelore Crolly in der Welt. Und "auch die SPD-Fraktion ist überzeugt: 'Wenn Restitution und Repatriierung nach deutschen Spielregeln erfolgen sollen, dann können wir uns den gesamten Prozess letztlich sparen', so der kultur- und medienpolitische Sprecher Helge Lindh. Er plädierte für das Prinzip 'Kontrolle abgeben'. Eine Haltung der Demut sei angebracht. 'Rückgabe von Raubkunst mit Vorgaben an die betroffenen Staaten und Herkunftsstaaten wäre Fortschreibung des Kolonialismus mit anderen Mitteln.' Selbst wenn Objekte gänzlich der Öffentlichkeit entzogen würden, 'müssen wir das gefälligst ertragen'."

Die nigerianische Entscheidung macht "noch deutlicher, wie unrealistisch Deutschlands Traum für die Benin-Bronzen in Nigeria war", kommentiert Swantje Karich in der Welt: "Ein bereits mit 4,9 Millionen Euro finanziell unterstütztes staatliches Museum, das Edo Museum of West African Art (EMOWAA) von Star-Architekt David Adjaye, sollte in der Hauptstadt des Bundesstaates Edo, Benin City, die Artefakte für das 'Volk' präsentieren. ... Davon spricht schon länger niemand mehr. Man konnte zusehen, wie sich das EMOWAA als offenes Haus des Volkes auflöste und zur europäischen PR-Schimäre wurde."

Es "dürfte nun nicht mehr gewährleistet sein, dass die nach Nigeria restituierten Kunstschätze auch tatsächlich der einheimischen Bevölkerung zugänglich gemacht werden", fürchtet Roman Bucheli in der NZZ. "Auch dieses Versprechen gehörte zu den hehren Intentionen, als die Übergabe im vergangenen Dezember in Abuja gefeiert wurde. Die Rückführung sei die Grundlage für die Auseinandersetzung der nigerianischen Bevölkerung mit ihrem eigenen kulturellen Erbe. In Nigeria hat die vom Präsidenten dekretierte Eigentumsübertragung an das Königshaus in Benin City kaum für Aufsehen gesorgt."

Claudia Roth hat sich gestern in reinem Statement zum Thema geäußert, meldet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Wir werden gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt klären, was diese Maßnahme des scheidenden Präsidenten zu bedeuten hat."
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Medien

Keinen türkischen Journalisten haben wir im Perlentaucher häufiger zitiert als Bülent Mumay, der in seiner brillanten FAZ-Kolumne immer wieder die Korruption in der Türkei unter Erdogan anprangerte. Nun wird ihm für einen Artikel in einem türkischen Medium über eine korrupte Auftragsvergabe an einen Erdogan-nahen Baubetrieb eine Haftstrafe angedroht. Die FAZ protestiert auf der ersten Seite des Feuilletons. "Das Urteil stellt einen eklatanten Verstoß gegen die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit unseres Mitarbeiters Bülent Mumay dar. Wir lassen ihm jede erdenkliche Unterstützung zukommen."

In der NZZ ist Benedikt Neff einigermaßen angeekelt von der Begeisterung, mit der deutsche Zeitungen die Mails von Mathias Döpfner öffentlich geteilt haben: "Die deutschen Medien haben die Persönlichkeitsverletzungen der Bild-Zeitung immer wieder angemahnt. Sie selbst scheinen damit aber nicht das geringste Problem zu haben, wenn es die für sie richtige Person trifft. ... Vielleicht also sagt die Veröffentlichung der privaten SMS mehr aus über die deutschen Medien als über Mathias Döpfner."
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Gesellschaft

Die Mafiaforscherin Anna Sergi ist in Kalabrien, dem Land der 'ndrangheta, aufgewachsen. Im Gespräch mit David Klaubert von der FAS beschreibt sie, wie informell Mafiastrukturen durchgesetzt werden, zum Beispiel über die Technik des "caffè pagato": "Mein Vater war früher ein bekannter Journalist, er hat über die 'ndrangheta geschrieben. Wenn mir als Kind also jemand etwas ausgeben wollte, ging es darum, zu zeigen, dass derjenige wusste, wer mein Vater war. Das kann, wenn es aus einer Mafiafamilie kommt, bedrohlich wirken. Und es wird genutzt, um eine Verbindung zu schaffen: Sergis Tochter hat einen Kaffee von mir angenommen! Das weiß bald jeder im Dorf. Es kann zu einer Art stillem Einverständnis hingebogen werden."

"Sollten wir vielleicht einfach ertragen, dass die Meinungsfreiheit für alle gilt - und Diskussionen mit Worten austragen?", fragt Ronen Steinke in der SZ. Boris Palmer wird sich freuen das zu hören, aber Steinke bezieht sich hier auf die feine Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Israelkritik, und die Frage ist an Josef Schuster gerichtet, den Präsidenten des Zentralrats der Juden, der erwartungsgemäß widerspricht und darauf hinweist, dass Israelkritik antisemitisch ist, wenn sie auf eine Auslöschung des jüdischen Staates hinausläuft: "Kein Mensch auf jüdischer oder israelischer Seite spricht sich für die Auslöschung der Palästinenser aus. Das ist aber die Hassbotschaft, die bei Demonstrationen wie kürzlich in Berlin geäußert wird: die Auslöschung des jüdischen Staates. Die Auslöschung der Juden. ... Ich würde jedenfalls niemandem raten, das auf die Probe zu stellen und sich einer solchen Demonstration offen mit Kippa oder Davidstern zu nähern. Die Aggression richtet sich nicht nur gegen einen ausländischen Staat, sondern zugleich auch gegen eine Minderheit hierzulande."
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Ideen

Ulrike Ackermann erinnert in der NZZ an John Stuart Mill, den großen Theoretiker de Freiheit, der vor 150 Jahren gestorben ist und der angesichts heutiger Identitätspolitik im Grabe rotiert: "Es ist seltsam, dass man 150 Jahre nach dem Tod von Mill daran erinnern muss, wie mühselig über Jahrhunderte die Selbstermächtigung der Bürger und Bürgerinnen, der Aufstieg des Individuums aus kollektiven Zuschreibungen und Zwängen war... Was die Varianten der Identitätspolitik eint, ist ihre radikale Kritik an der westlichen Moderne und deren freiheitlichen Errungenschaften. Dem Universalismus der Aufklärung setzen sie den Partikularismus und die Relativierung der Kulturen beziehungsweise den Ethnopluralismus entgegen. Anstelle einer Wertschätzung des Individuums wird das Kollektiv gefeiert."

Zukunftsforscher Daniel Dettling blickt ganz hoffnungsfroh auf Künstliche Intelligenz: Sie könnte viele Bullshit-Jobs überflüssig machen, meint er in der FR. "Dafür werden andere, besser bezahlte Jobs entstehen: Datenprüfer:innen und Urheberschützer:innen, Ethikbeauftragte und Haftungsfachleute. KI ist kein Jobkiller, sondern ein Jobshifter. Ihr Ziel ist die Verschiebung von unkreativen in kreativere, von routinierten in sozialere, von isolierten in kommunikativere Tätigkeiten."

Anhänger woker "Social-Justice"-Theorien berufen sich gern auf Jacques Derrida, aber zu Unrecht, schreibt der Verlegr und Philosoph Peter Engelmann in der NZZ. Wokeness will eine Verabsolutierung der Differenz: "Vor ihrem historischen Hintergrund lesen sich die französischen Denker jedoch ganz anders. Nämlich als denkerische Bemühung darum, was das Gemeinsame der totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts war. Und als Frage danach, ob und, wenn ja, wie wir totalitäre Ideologien und Gesellschaftssysteme verhindern können. Genau das Gegenteil also von dem, was der heute vorherrschende Woke-Begriff praktiziert."

Außerdem: In der taz wandte sich Stefan Reinecke schon am Samstag gegen die "Apologeten des Westens", die behaupten, es gehe heute um "Demokratie gegen Diktatur". Aber "der Konkurrenzkampf zwischen der Supermacht des 20. Jahrhunderts und der aufsteigenden Macht des 21. Jahrhunderts ist keiner zwischen Gut und Böse, sondern ein Ringen um geopolitische Einflusszonen."
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Europa

Eine gewisse Nervosität herrscht in Moskau vor den Feierlichkeiten zum 9. Mai, bei denen Putin bekanntlich eine Siegesparade abnehmen muss, und das nicht nur wegen der Drohne, die kürzlich über dem Kreml abgeschossen wurde, berichtet Pjotr Sauer im Guardian: "Der 'Marsch des Unsterblichen Regiments' - eine feierliche Prozession von Menschen mit Porträts ihrer Verwandten aus dem Zweiten Weltkrieg - wurde dieses Jahr ebenfalls gestrichen. Eine Erklärung für diesen Schritt sei, so die Politologin Dara Massicot von der Rand Corporation, dass die Behörden befürchten, die Prozession könnte die tatsächliche Zahl russischer Verluste in der Ukraine ins Rampenlicht rücken, wenn Angehörige Porträts der im aktuellen Krieg Gefallenen mitbringen."

Die taz bringt eine ganze Reihe von Artikeln zum "Tag des Sieges" (dem 9. Mai) beziehungsweise zum "Tag der Befreiung" (dem 8. Mai).

Der im estnischen Exil lebende russische Journalist Aleksei Schischgin schreibt in der taz über das "Unsterbliche Regiment" und darüber, wie das Gedenken an gefallene Verwandte missbraucht wird: "Nichts entwertet die Erinnerung an die wahren Heldentaten des Zweiten Weltkriegs so sehr wie deren Verwendung für die Propaganda eines neuen Krieges." Die Ukraine sollte den Gedenktag vom 9. auf den 8. Mai vorverlegen, schreibt außerdem der ukrainische Journalist Juri Konkewitsch in der taz, denn am 8. Mai feiern die Demokratien, für die der Krieg 1939 begann, und nicht erst 1941, nachdem Hitler den Hitler-Stalin-Pakt brach. Als einen "Tag der Befreiung" aber können gerade die Deutschenden 8. Mai nicht feiern, meint Anastasia Tikhomirova: "Denn wer wurde eigentlich befreit? Waren es tatsächlich die Deutschen, die den schlimmsten industriellen Genozid aller Zeiten gegen sechs Millionen Jüdinnen:Juden und etwa eine Million Sinti:zze und Roma:nja verübten?"  Und der in Deutschland lehrende belarussische Philosoph Alexander Friedman erinnert auf der Meinungsseite der taz an den 9. Mai des letzten Jahres, als die Weltöffentlichkeit von Butscha entsetzt war - inzwischen sieht er Putin entscheidend geschwächt.
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