9punkt - Die Debattenrundschau

Kontinuierlich negativ

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2023. 40 Prozent der Serben lieben Russland, das wiederum nicht ganz sicher ist, ob es serbische oder sibirische Liebe bekommt, berichtet die taz. In der Berliner Zeitung fragt die Historikerin Susanne Heim, wer eigentlich eine Hierarchisierung historischer Gewaltphänomene wie Holocaust oder Kolonialismus braucht. Im Tagesspiegel fragt Anwalt Peter Raue, warum die Öffentlichkeit unbedingt wissen will, wer die anonymen Spender des Berliner Stadtschlosses sind. In der NZZ kritisiert der Historiker Michael Wolffsohn die Israelfeindlichkeit der Deutschen seit den 68ern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.05.2023 finden Sie hier

Europa

In Serbien werden proukrainische Aktivisten immer wieder Zielscheibe serbischer Nationalisten, berichtet Philine Bickhardt in der taz. Und ein großer Teil der Gesellschaft unterstützt sie darin: "Dabei geht es teils widersprüchlich zu: Einerseits wird in Serbien stets eine historische Nähe zu Russland beschworen. So hätten die Russen den Serben in manch schwerer Stunde beigestanden. Interessanterweise spielt indes Serbien für die russische Geschichtspolitik überhaupt keine Rolle. Progressive Kräfte in Belgrad machen dieser Tage oft den Scherz, in Russland würde man Serbien mit Sibirien verwechseln, so wenig wisse man über das Land. Es ist die einseitige Liebe eines großen Teils der serbischen Gesellschaft: 40 Prozent der Serben würde lieber ein Bündnis mit Russland als mit der EU eingehen. Seit 2012 ist Serbien offiziell EU-Beitrittskandidat, Präsident Vučić schlingert seit Jahren zwischen Ost und West hin und her. Von der beschworenen historisch-kulturellen Nähe zu Russland kann kaum die Rede sein: Serbisch-russische Beziehungen waren im 20. Jahrhundert nahezu nicht existent." Da war Tito vor.

Die derzeit beliebteste türkische Sendung ist eine Polit-Talkshow mit dem Titel "Acik Mikrofon", berichtet Büşra Delikaya im Tagesspiegel, Politiker treffen hier auf Jugendliche. Die Talk Show wird moderiert von dem Entertainer Oguzhan Ugur, der aus "seiner offen nationalistischen Haltung keinen Hehl macht":  "Ein Blick in die Sendung genügt, um einen Eindruck davon zu bekommen, was die Jugendlichen im Land bewegt. Es sind wiederkehrende Fragen, oft die gleichen Themen: Inflation, Bildung, Korruption, Flüchtlingskrise, Kurdenfrage. Schlagworte, die das Land und das Leben der Generation Z prägen. Gesprächsstoff gibt es jedenfalls genug. In wirtschaftspolitischen Fragen sind sich junge Menschen oft einig. Dann sind sie kritisch, fordern die Politiker heraus, verlangen Antworten und glaubwürdige Versprechen. Doch sobald es um rechtsnationalistische Haltungen, Antisemitismus, Rassismus gegenüber Geflüchteten und Minderheiten wie Kurden oder Aleviten geht, werden vereinzelte kritische Stimmen im Publikum verhöhnt. Die Jugend in der Türkei ist skeptisch, aber auch politisch stark indoktriniert. Nationalismus wird in der Türkei als eine Art Bringschuld gegenüber dem Vaterland verstanden."
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Internet

In der SZ plädiert Andrian Kreye mit Blick auf die Entwicklungen in Sachen KI für mehr Gelassenheit, zumal der Alarmismus von den eigentlichen Problemen der digitalen Gegenwart ablenke: "Von den Diskriminierungseffekten durch verzerrte Datensätze, von den Gefahren der Fälschung und der neuen Machtmonopole. Zum anderen ist die Spaltung der KI-Debatte und der Kampf um Deutungshoheiten mit Slogans und Schlagworten deshalb fatal, weil man eigentlich froh sein könnte, dass dieses Mal schon früh über die gesellschaftlichen Probleme nachgedacht wird, die da auftauchen könnten. Es scheint fast, als habe die digitale Industrie eben doch aus den Fehlern der vergangenen zwanzig Jahre gelernt. Immerhin hat Open AI seine Sprachgeneratoren wie Chat-GPT mit Bremsen ausgestattet, die Angst, Hass und Hetze nicht zulassen, die mit den sehr viel schlichteren KI-Funktionen der sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter zum Problem wurden."
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Stichwörter: Ki, ChatGPT

Wissenschaft

"Ich halte nichts davon, verschiedene Forschungsgebiete gegeneinander auszuspielen", sagt die Historikerin Susanne Heim, die einen der sechzehn Bände der Edition "Judenverfolgung 1933 bis 1945" herausgegeben hat, im Gespräch mit Harry Nutt (Berliner Zeitung) zur Debatte über die Singularität des Holocaust: "Die Beschäftigung mit den Kolonialverbrechen ist zweifellos wichtig, und es ist gar keine Frage, dass es in diesem Bereich großen Nachholbedarf gibt. Aber das macht die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht überflüssig. Ich denke nicht, dass die Holocaustforschung die Erforschung der Kolonialverbrechen verdrängen oder nicht zulassen würde. Die Zulässigkeit des Vergleichens steht ja auch gar nicht zur Debatte. Es gibt bestimmte Merkmale des Holocaust, die sich in der Form bisher nicht wiederholt haben. Gewiss gibt es auch Merkmale in den Kolonialverbrechen, die sehr besonders sind und einer weitergehenden Erforschung bedürfen. Ich kann nicht erkennen, warum es für das Interesse, genaue Forschung zu betreiben, einer Hierarchisierung der historischen Gewaltphänomene bedürfen sollte."

In der FAZ blickt Helmut Mayer missmutig auf den Exzellenzcluster "Africa Multiple" an der Universität Bayreuth, der die Tagung des an der Frankfurter Universität angesiedelten "Forschungszentrums Globaler Islam", auf der Boris Palmer neulich sein Schlechtestes gab, zum Anlass nahm, gleich das ganze Zentrum zu diskreditieren: "Fehlgriffe nüchtern festzuhalten, auch und gerade dann, wenn politische Konsequenzen gefordert werden, genügt nicht mehr. Tief sitzender Rassismus muss es schon sein oder eben gleich 'weiße deutsche Nekropolitik'. ... Wir lesen das so, dass Bayreuth durchaus bereit ist, das Frankfurter Forschungszentrum zu übernehmen und politisch in die richtige Richtung zu lenken."
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Kulturpolitik

Im vergangenen Jahr hatte der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt im Tagesspiegel kritisiert, dass unter den Spendern des Berliner Stadtschlosses einige Rechtsextreme gewesen sein könnten, die anonym blieben. (Unser Resümee) Über dieses Thema unterhalten sich heute im Tagesspiegel Christiane Peitz und Rüdiger Schaper mit dem Anwalt Peter Raue, der im Namen der Stiftung Humboldt Forum die Spender überprüfte. Raue findet es völlig unverständlich, dass "die Öffentlichkeit unbedingt wissen will, wer die wenigen anonymen Spender sind". Ehrhardt Bödeckers Aussagen aus seinen letzten Lebensjahren seien "indiskutabel", aber da "davon bis zu seinem Tode niemand wusste, ist der Vorwurf der Annahme der Spenden geradezu absurd", fährt er fort: "Wirft man dem Nobelkomitee vor, Günter Grass geehrt zu haben, der ein SS-Mann war, auch wenn das damals noch keiner wusste?" Geradezu "infam" nennt er den Vorwurf der Einflussnahme: "Die Verwendung der vom Förderverein eingeworbenen 117 Millionen Euro gingen an die Stiftung Humboldt Forum ohne konkrete Bauwünsche und haben ausschließlich den Zweck verfolgt, dass das Schloss seine historische Fassade zurückbekommt. Dabei hat der Förderverein Spenden nie einzeln, sondern nur en bloc weitergereicht. Es ist deshalb ein durch nichts belegter Unsinn zu behaupten, Geldgeber hätten Einfluss auf die Gestaltung des Schlosses genommen oder gar ein einzelner Großspender hätte für den Bau der Kuppel Geld gegeben. Nur Philipp Oswalt durfte im Tagesspiegel schreiben: Ehrhardt Bödecker habe mit einer Million Euro die Kuppel finanziert."
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Politik

In der Welt rät der Politologe Klaus Schlichte von einer militärischen Intervention im Sudan ab, unter anderem, weil "gerade der Ruf Westeuropas und der USA in den Ländern des Sahel denkbar schlecht" sei: "Eine militärische Intervention würde wegen des schon etablierten Ressentiments unweigerlich Partei werden. Daran ist nicht nur eine neue Politisierung der kolonialen Vergangenheit Schuld. Einen wichtigen Anteil daran haben auch die jüngeren Engagements besonders Frankreichs, Großbritanniens und der USA auf dem afrikanischen Kontinent. Von außen betriebene Regimewechsel, unabgestimmte militärische Alleingänge von Interventionstruppen und der verbreitete Verdacht, es gehe letztlich doch nur um die Sicherung von Rohstoffquellen und die Unterbindung von Migration, speisen das Ressentiment ebenso."
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Gesellschaft

Wenn es um Israel oder um das Gedenken an den Holocaust gehe, hätten die Deutschen nichts als "schöne, leere Worte" parat, sagt der Historiker Michael Wolffsohn im epischen NZZ-Interview, in dem er auch sonst ordentlich gegen Deutschland austeilt. Grundsätzlich sei das Meinungsbild der Deutschen gegenüber Israel "kontinuierlich negativ", meint er und wirft auch Olaf Scholz vor, die "antiisraelische Haltung" der Achtundsechziger weiterzutragen: "Seit dem Sechstagekrieg von 1967, als Israel ums Überleben kämpfte, wurde die Staatsgründung von 1948, die auf den Uno-Beschluss erfolgte, als Kolonialismus bezeichnet. Und dann kommt eben hinzu, dass die Politiker egal welcher Parteien ihr Angebot stark der Nachfrage anpassen. Und eine Nachfrage in Deutschland in Bezug auf Israel gab es seit 1967, spätestens seit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 nicht. Die Achtundsechziger waren israelfeindlich eingestellt. Das kann man an allen Umfragen belegen, ich habe das systematisch erforscht. Hier lässt sich die Brücke von Olaf Scholz zurückschlagen zu 1973. Damals hatte die sozialliberale Brandt-Scheel-Regierung den USA die Genehmigung verweigert, Waffennachschub an Israel zu liefern, als Israel kurz vor der Auslöschung stand." Zudem sei "eine zunehmende Politisierung gerade in Bezug auf die Nahost-Wissenschaften festzustellen, es gibt Seilschaften, und Karrieren hängen davon ab. Wenn man das falsche Lied singt, dann kriegt man nicht das Brot."

In der FAZ wird es Eva Ladipo ganz schön unbehaglich angesichts der Tatsache, dass Frauen in der Politik vor allem am rechten Rand erfolgreich sind. Und das gilt nicht nur für die bekannten Namen wie die Amerikanerin Marjorie Taylor, die britische Innenministerin Suella Braverman, Frankreichs Marine Le Pen, Deutschlands Alice Weidel und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni: "Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen: In Finnland hat Riikka Purra gerade für ein spektakuläres Comeback ihrer rechtsnationalen Finnenpartei gesorgt. In Rumänien führt Adela Mirza die rechtsextreme Partei 'Die rechte Alternative' an. In Polen regierte Ministerpräsidentin Beata Szydło jahrelang für die nationalistische Partei 'Recht und Gerechtigkeit'. In Ungarn ist Katalin Novak Staatspräsidentin von Viktor Orbáns Gnaden. ... In Norwegen hat Siv Jensen die rechtspopulistische Fremskrittspartiet aufgewertet, in Dänemark gelang das Pia Kjærsgaard mit der Dänischen Volkspartei, in Holland Marjolein Faber mit der Freiheitspartei." Offenbar lohnt es sich für Frauen, "Politik gegen die eigene Identität zu betreiben. Es zahlt sich aus, die Widersprüche auszuhalten. Dafür, dass sie ihren Parteien als leibhaftige Schutzschilde gegen den Vorwurf dienen, frauenfeindlich oder rassistisch zu sein, werden sie mit bemerkenswert viel Macht und Einfluss belohnt."
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Medien

In der FAZ ist der Produzent Günter Rohrbach entsetzt, wie die ARD mit ihrem verstorbenen Intendanten Hans Abich umgeht. Sicher, Abich, 15 Jahre alt als die Nazis an die Macht kamen und von seiner Kinderlähmung geprägt, wurde mit 19 Mitglied der NSDAP und schrieb für rechte Medien. Und er verschwieg diese Episode später. Aber: "Wie absolut fehlerfrei muss ein Leben verlaufen sein, das am Ende als ein gelungenes bezeichnet werden kann", fragt Rohrbach.
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Stichwörter: Abich, Hans, ARD