9punkt - Die Debattenrundschau

Eine gewagte und riskante Siegestheorie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2023. In Berlin lud gestern die russische Botschaft zum "Tag des Sieges", berichtet die Berliner Zeitung. Gerhard Schröder, Klaus Ernst, Alexander Gauland und Tino Chrupalla feierten in trauter Eintracht. Für einen wirklichen Sieg der Ukraine gibt es nur einen Schlüssel, meint Timothy Garton Ash im Guardian, die Krim. In Zeit online plädiert Christian Bangel dafür, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen, weil wir für die meisten Fluchtgründe verantwortlich und deshalb zur Hilfe verpflichtet seien. Es gibt keinen Nullpunkt der Geschichte, lernt Harry Nutt in der Berliner Zeitung aus der Diskussion um die Restitution der Benin-Bronzen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2023 finden Sie hier

Europa

Gestern fand in der russischen Botschaft in Berlin ein Empfang zum 9. Mai statt, dem Michael Maier von der Berliner Zeitung offenbar als Journalist beiwohnen konnte. Botschafter Sergej Netschajew warnte laut Maier, "es würden 'Versuche unternommen, die Geschichte zu verfälschen, um sie der aktuellen politischen Agenda anzupassen, um die Opfer und die Schlächter, die Sieger und die Besiegten gleichzusetzen'. In manchen Ländern würden 'Nazis und ihre Handlanger als Nationalhelden gepriesen, die Heldentat der Roten Armee diskreditiert, sowjetische Kriegsgräber geschändet, Denkmäler zerstört und die Symbole des Landes, das für den Sieg über den Nationalsozialismus den höchsten Preis bezahlt hat, verboten'... Aus der deutschen Politik waren Altkanzler Gerhard Schröder mit seiner Frau So-yeon Schröder-Kim, der frühere SED-Generalsekretär Egon Krenz, Klaus Ernst von der Linkspartei sowie die AfD-Politiker Alexander Gauland und Tino Chrupalla erschienen. Chrupalla überreichte Botschafter Netschajew ein Geschenk als Ausdruck der Dankbarkeit für die Befreiung von der Naziherrschaft. Klaus Ernst sagte der Berliner Zeitung, er sei 'trotz der komplizierten Situation wegen des Krieges' gekommen, weil 'Russland entscheidenden Anteil an der Niederwerfung des Faschismus' gehabt habe."

Es gibt sehr konkrete Anhaltspunkte, dass der Gazprom-Konzern russische Milizen finanziert und teilweise sogar mit Männern ihrer Sicherheitsdienste ausstattet, die im Krieg gegen die Ukraine kämpfen, berichten Victor Jack und Gabriel Gavin bei Politico. In die EU-Sanktionen ist Gazprom dennoch nicht einbezogen: "Vor dem Krieg lieferte Gazprom etwa 45 Prozent der Gasimporte der EU. Nach Angaben der Denkfabrik Bruegel sank dieser Anteil bis Ende April auf etwa 7 Prozent... Mehrere EU-Länder - allen voran Ungarn, aber auch Österreich und die Slowakei - erhalten jedoch weiterhin Gas von Gazprom. Auch die griechische DEPA und die italienische Eni haben laut Aura Sabadus, einer leitenden Analystin des Marktforschungsunternehmens ICIS, laufende Verträge mit Gazprom. Da die EU-Sanktionen einstimmig beschlossen werden, gibt es kaum eine Chance, einen Konsens über die Bestrafung von Gazprom zu finden. Im Gegensatz dazu haben sowohl die USA als auch das Vereinigte Königreich Sanktionen gegen Gazprom-Chef Alexey Miller verhängt."

Welches sind historischen Beispiele für russische Niederlagen, fragt Timothy Garton Ash im Guardian. Richtig: die Niederlagen von 1905 und 1917, die zu einem Regime Change führten. Es gehe um "eine Niederlage, die selbst Putins staatliche Lügenmaschine nicht verbergen" könnte. Und er zitiert eine ukrainische Theorie des Sieges, die viele im Westen nicht gern hören: "Die Krim ist der Schlüssel zu diesem Szenario. Die Ukrainer wollen die Halbinsel anvisieren (aber nicht sofort versuchen, sie zu besetzen), und zwar aus genau dem Grund, aus dem viele westliche Politiker sie davon abhalten wollen: weil die Krim das ist, was für Russland wirklich wichtig ist. Sie fügen hinzu, dass die Ukraine niemals langfristig sicher sein kann, solange die Krim ein riesiger russischer Flugzeugträger ist, der auf ihr Herz gerichtet ist. Das ist eine gewagte und riskante Siegestheorie, aber hat jemand im Westen eine bessere?"

Am Wochenende wird in der Türkei gewählt. Da Erdogan keine Erfolge vorweisen kann, operiert er vor allem mit der Diskreditierung seiner Gegner, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Und er macht Wahlgeschenke, baut ein Atomkraftwerk auf der Erdbebenlinie, vergisst aber die fossilen Brennstoffe nicht: "Bei einer Zeremonie am Ufer des Schwarzen Meeres verkündete Erdogan kürzlich: 'Wir haben angefangen, das gefundene Erdöl ins System zu pumpen. Im Mai zahlen Sie keine Gasrechnung.' Was für eine Bestechung für den Wahlmonat, nicht wahr? Nun, tatsächlich importieren wir die Bestechung. Da noch kein heimisches Erdgas in Sicht ist, beschloss Erdogan, Gas von Putin zu kaufen, um die Wähler zu wärmen. Und das im Monat Mai, in dem es hierzulande um die 25 Grad warm wird."

Kurz vor dem Klimagipfel von Bund und Ländern plädiert Christian Bangel auf Zeit online dafür, mehr Flüchtlinge aufzunehmen: Weil wir Arbeitskräfte brauchen, aber vor allem, weil wir - beziehungsweise der Westen - für die meisten Fluchtgründe verantwortlich und deshalb moralisch zur Hilfe verpflichtet seien: "Der Westen - das hat sich seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wieder gezeigt - wird vielerorts nicht mehr als demokratisches Vorbild bewundert, sondern als illegitimer Machtpol wahrgenommen, dessen wirtschaftliche und militärische Stärke vor allem ein Erbe des Kolonialismus und bis heute andauernder Ausbeutung ist. Viele Regierungen in Lateinamerika, Afrika und Asien können sich der Unterstützung ihrer Bevölkerungen nach wie vor sicher sein, wenn sie den Westen als raffgierigen Hegemonen beschreiben, dessen angebliche Moral immer nur für die anderen gilt. Es wird für Deutschland nicht reichen, die Staaten des Globalen Südens jenseits der Entwicklungszusammenarbeit erst dann ernst zu nehmen, wenn sie als Unterstützer gebraucht werden, wie jetzt gegen Russland. Es geht auch darum, einen Ausgleich zu schaffen für die Folgen einer westlichen Wachstums- und Ausbeutungspolitik, die auf der Welt lastet, sei es durch die Verursachung der Klimakatastrophe oder die Folgen, die der Kolonialismus bis heute zeitigt."
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Geschichte

Der Nationalsozialismus war auch eine Studentenbewegung. Daran erinnert eine  Ausstellung am Schauplatz der Bücherverbrennung vor neunzig Jahren am Berliner Bebelplatz, über die Susanne Messmer in der taz berichtet. Goebbels war nicht der Erfinder der Aktion, resümiert sie Befunde von Historikern. Maßgeblich war die "Deutsche Studentenschaft": " Dieser antisemitische Dachverband der Studentenschaften hatte parallel zum Aufstieg der NSDAP schon 1930 die Mehrheit in fast allen Studentenparlamenten errungen. Die Presse heizte die antiintellektuelle Stimmung an den Hochschulen weiter an. Es ist die tragende Rolle der Studierenden bei der Berliner Bücherverbrennung, die in der Ausstellung 'Wer weiter liest, wird erschossen...' eine der Hauptrollen spielt. Die Deutsche Studentenschaft verstand sich - 'inspiriert vom Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Geschäftsleute' - als eine Art geistige SA und organisierte mit großem Eifer und aufwendigem bürokratischem Formalismus die Kampagne unter dem Titel 'Aktion wider den undeutschen Geist'."
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Ideen

Überraschende Kritik an der Restitution geraubter Kunst kommt in der taz von der Pasionara des Postkolonialismus, Charlotte Wiedemann. Die Kunstdiskussionen lenkten von weit schlimmeren Untaten wie dem Genozid an den Herero ab, schreibt sie: "Das Unrecht wurde feuilletonisiert: Als hätten sich die Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus in Kunstraub erschöpft, wird lieber von entwendeten Gegenständen gesprochen als von Genozid, von Rückgabe statt von Reparationen. Museen haben eine weichgespülte Dekolonisierung als Geschäftsmodell entdeckt, eine softe zeitgeistige Progressivität, die übrigens perfekt in die Ära grünen Regierungshandelns passt: Machthierarchien nicht antasten, aber sie mit feinen Gesten verzieren."

Wollen deutsche Politiker mit Restitutionen "historisch quitt" werden oder streben sie eine neue gleichberechtigte Zusammenarbeit an, fragt derweil Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Für den Oba von Benin bietet die Rückkehr der Bronzen auch die Gelegenheit, die Deutungshoheit über die Opfergeschichte des von den Briten zerstörten Königreichs zu erlangen und die Tätergeschichte des Regimes seiner Vorfahren, die von einem systematisch betriebenen Sklavenhandel profitiert haben, zum Verschwinden zu bringen. Dass dies nicht gelingen wird, ist auch das Verdienst der in den USA agierenden Restitution Study Group, die als Nachfahren der von Benin verschleppten Sklaven zumindest Teile der Bronzen für sich beanspruchen. Was zunächst als schwer zu durchschauende Gemengelage erschient, macht deutlich, dass es keinen Nullpunkt der Geschichte gibt, an den man glaubt, zurückkehren zu können, um einmal begangenes Unrecht zu heilen."

Im Interview mit der SZ spricht der israelische Schriftsteller Etgar Keret über Kunst und Politik. Und über das Risiko, das man eingeht, wenn beides zusammenfällt: "Ich erinnere mich, gar nicht so lange her, dass ich in Debatten Angst bekam. Weil ich fürchtete, die andere Person könnte meine Meinung ändern. Ich dachte, oh, das ist ein Argument! Ah, er will, dass ich etwas Bestimmtes denke! Heute geht es gar nicht mehr darum. Fakten sind potenzielle Waffen. Die Frage ist: Kann ich jemanden damit demütigen? Abwerten? Ich glaube, das passiert gerade weltweit. Israel reiht sich nur in eine größere Entwicklung ein. ... Als der Schriftsteller Meir Shalev starb, weigerte sich Benjamin Netanjahu in den ersten 24 Stunden, Trauer zu bekunden. Weil Shalev Netanjahu-kritisch war. Als Premier musst du deine Arbeit machen. Wenn du Kellner bist, musst du auch die Gäste bedienen, die du nicht magst. Es ist scheinbar unmöglich geworden zu sagen: Dieser Mann war ein großartiger Schriftsteller - und ein komplettes Arschloch."

Außerdem: In der Welt erinnert Tilman Krause an den Soziologen Nicolaus Sombart, der vor hundert Jahren geboren wurde.
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Gerade hat der "Exzellenzcluster Africa Multiple" der Universität Bayreuth die Schließung des von der Ethnologin Susanne Schröter geleitete Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI) angeregt (unser Resümee). Jetzt haben 600 Wissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Schröter in einem Aufruf unterstützt, berichtet Susanne Gaschke in der NZZ. Empörung löste bei den Unterzeichner vor allem die unterschiedliche Behandlung der Wörter Neger und Nazis aus: "'Es wundert mich schon, mit welch unterschiedlichem Maß hier zwei sogenannte N-Wörter behandelt werden', sagte die Ex-Ministerin Kristina Schröder gegenüber der NZZ: 'Politische Gegner immer wahlloser als Nazis zu beschimpfen, ist offenbar in Ordnung.'"
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Kulturpolitik

Faire Arbeitsbedingungen am Theater? Davon kann derzeit keine Rede sein, weshalb die Gewerkschaften für einen neuen Tarifvertrag kämpfen, berichtet Peter Laudenbach in der SZ. "Allen Beteiligten, den Bühnengewerkschaften wie der vom Deutschen Bühnenverein vertretenen Arbeitgeberseite, ist inzwischen klar, dass dieser Zustand unhaltbar ist: Theater sollten halbwegs faire Arbeitsstätten sein, keine sektenartigen Organisationen, die ihre Mitglieder mit Leib und Seele aufsaugen. Dass das Bundesarbeitsgericht im September vergangenen Jahres entschieden hat, dass Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten systematisch erfassen müssen, erhöht den Druck, die Arbeit auch an den Bühnen stärker zu verregeln." Zu einer Einigung kam man aber nicht, weshalb jetzt, hofft Laudenbach, Streiks anstehen.
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