9punkt - Die Debattenrundschau

Erhebliches Berichterstattungsinteresse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2023. Morgen sind Wahlen in der Türkei: Nicht nur die taz macht sich Hoffnungen auf einen Sieg der Opposition - aber sie warnt auch vor Erdogans massivem Machtapparat. In der FAZ ruft die belarussische Autorin Eva Viežnaviec: "In Europa ist 2023 nicht ein Krieg im Gange, es sind zwei", denn auch gegen Belarus führe Putin einen stillen Krieg. Im Merkur-Blog geht Philipp Oswalt der Gesinnung des Stadtschloss-Spenders Ehrhardt Bödecker auf den Grund. In der FR wünscht sich die Soziologin Shalini Randeria eine globale Demokratiebewegung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.05.2023 finden Sie hier

Europa

Es gibt Chancen, dass Erdogan die morgigen Wahlen in der Türkei verliert. Das hängt auch mit der grundsätzlich veränderten Soziologie der Türkei zusammen, erläutert Jürgen Gottschlich in der taz. Als Erdogan vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gewählt wurde, dominierte noch eine ländlich geprägte, konservative Bevölkerung, die gerade erst in die Städte migriert war. Deren Kinder und Enkel "sind heute selbstverständlicher Teil der städtischen Gesellschaft. Sie haben sich modernisiert und stellen andere Ansprüche als ihre Eltern und Großeltern. Blinde Gefolgschaft für einen politischen Führer ist nicht mehr selbstverständlich, und auch die 'religiöse Generation', die Erdogan vom türkischen Bildungssystem gefordert hatte, sind sie nicht geworden. Der ganz überwiegende Teil der ErstwählerInnen und WählerInnen unter 30 lehnt Erdogans autoritären Stil, sein patriarchales Gehabe und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit heute ab. Hinzu kommt, dass Erdogan seit der Niederschlagung des Gezi-Aufstands 2013 und der folgenden Stagnation der Wirtschaft immer weniger zu verteilen hat." Auch der Oppositionspolitiker Mustafa Yeneroglu äußert sich im Gespräch mit Gottschlich zuversichtlich.

Ömer Seven fragt allerdings, ebenfalls in der taz: "Ob Tayyip Erdogan eine Niederlage überhaupt anerkennen würde? Innenminister Süleyman Soylu gab bereits kund, verlorene Wahlen seien ein 'politischer Putschversuch, um die Türkei zu zerstören'." Erdogan, erinnert Seven, hat einen massiven Machtapparat aufgebaut: "Er weiß eine politische Justiz hinter sich, die unliebsame Oppositionelle und Journalisten im Zweifelsfall wegsperren lässt. Ein Tweet, ein Facebook-Eintrag kann schon zur Hölle werden. Gegen 200.000 Menschen, unter ihnen Minderjährige, wurde in der Vergangenheit wegen Beleidigung des Staatspräsidenten ermittelt. 50.000 Menschen mussten sich deswegen vor Gericht verantworten. Viele mussten Gefängnisstrafen absitzen."

"Achtung, Europa!" ruft Durs Grünbein mit Thomas Mann in der virtuellen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten". Er warnt davor, vor Russland weiche Knie zu bekommen. Und mit Gerd Koenen mahnt er, dass es um Entscheidungen geht, "denen wir nicht länger ausweichen können und die uns - oft in betont undiplomatischer Weise - von den Angegriffenen auch abverlangt werden". "Denn Putins blutiges Abenteuer in der Ukraine hat auch uns in eine Welt der politischen Erpressung hineingerissen, in eine trübe Sphäre der Geschichtsfälschung, der lügenhaften Rhetorik, des verordneten Gedächtnisschwunds. Die Gefahr ist groß, dass wir Europäer uns in der neuen Absurdität einrichten, die uns die Herren im Kreml diktieren. Putin zwingt uns mit seiner Reise in die Vergangenheit ein Leben nach absurden Maßstäben auf, vollkommen unpassend für die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts."

Wie ein Ruf aus einem Kellerloch bestätigt ein Text der belarussischen Autorin Eva Viežnaviec ("Was suchst du, Wolf?") Grünbeins These. Sie erzählt, ebenfalls in "Bilder und Zeiten", wie Belarus seit 200 Jahren Opfer eines stillen Kriegs Russlands ist: "Obwohl Belarussisch eine von zwei Staatssprachen meines Landes ist, ist das belarussischsprachige Bildungssystem dort längst vernichtet. Vom Kindergarten bis zur Universität ist Russisch als alleinige Unterrichtssprache verblieben. Buchverlage werden unterdrückt, Zeitungen und Zeitschriften als 'extremistisch' abgestempelt." Und sie appelliert: "In Europa ist 2023 nicht ein Krieg im Gange, es sind zwei. Einer von beiden ist für alle sichtbar: der brutale und niederträchtige Krieg Russlands gegen die Ukraine. Den zweiten führt Russland gegen Belarus. Russland will die Ukraine mit heißem Tode vernichten, einem Genozid mit Feuerwaffen, Belarus aber stirbt den kalten Tod - durch einen Ethnozid und beispiellose Repressionen. Belarus wird von Alexandr Lukaschenkos Regime beherrscht, das nichts anderes als eine Kolonialverwaltung mit materieller und militärischer Unterstützung der Russischen Föderation ist."

Fast schön höflich kritisiert der russische Soziologe Grigori (Greg) Judin in der SZ die zynische Gasrentenpolitik der SPD (und aller anderen), die über Jahrzehnte die russischen Machthaber und Oligarchen stärkte und entscheidend zur Genese des jetzigen blutigen Schlammassels beitrug (mehr hier). Diese Politik hat auch ihre intellektuellen Verfechter: "Der Philosoph Jürgen Habermas hat kürzlich dafür plädiert, mit Wladimir Putin zu verhandeln und ihm zu garantieren, dass man Versuche, seine Tyrannei zu stürzen, niemals unterstützen werde. Genau diese Vision zeigt, dass nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wurde: Man will mit Mördern verhandeln, während die Opfer der Unterdrückung vom Verhandlungstisch gejagt werden. Einer solchen Politik wird es nicht gelingen, den Krieg zu beenden, wieder Frieden in Europa zu schaffen und gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu etablieren."
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Kulturpolitik

Nicht erst die Debatte um die Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung (unsere Resümees) zeigt, dass Rechtsextremismus es sich in der besten Gesellschaft Deutschlands doch behaglicher machen konnte, als man lange vermutete - auch in Berlin und Potsdam bringen die Debatten um Stadtschloss und Garnisonkirche immer neue Details hervor.  

Der Architekturhistoriker Philipp Oswalt hatte die Diskussion um den Berliner Stadtschloss-Spender Ehrhardt Bödecker 2021 durch einen Artikel im Tagesspiegel angestoßen (unser Resümee). Die Stiftung Humboldtforum gab ein Gutachten über Bödecker in Auftrag, das nun nach monatelangem Gezerre freigegeben wurde und Oswalts Vorwurf einer rechtsradikal bis rechtsextremen Gesinnung Bodeckers bestätigt. Der Tagesspiegel hat jüngst berichtet (unser Resümee). Jetzt äußert sich Oswalt selbst im Blog des Merkur und attackiert den Anwalt Peter Raue, der die Familie Bödecker vertritt und ihn gegen alle Vorwürfe verteidigt (unser Resümee). Raue habe anlässlich der Veröffentlichung des Gutachtens behauptet, der "angebliche" Antisemit Bödecker habe erst in seinen letzten Lebensjahren problematische Texten verfasst, "von denen 'bis zu seinem Tode niemand wusste'. Doch das Gutachten, dessen Veröffentlichung Raue mit rechtlich nicht haltbaren Einwänden monatelang blockierte, stellt fest, dass derartige Äußerungen bis in das Jahr 1978 zurückreichen und zwei seiner Bücher aus den späten Lebensjahren noch in Auflagen von über 40.000 Exemplaren verbreitet worden waren. Offenkundig geht es Raue nicht um Aufklärung, sondern um die Verteidigung der Interessen seiner Mandaten. Umso unerklärlicher ist es, dass die Stiftung Humboldtforum ihn als Gewährsmann für die Prüfung der ihr gegenüber geheim gehaltenen Großspender der Schlossfassaden akzeptierte." Oswalt äußert sich heute auch in einem Spiegel-Interview.

Hermann Parzinger, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, antwortet auf die Frage von Susanne Lenz in der Berliner Zeitung, ob er wusste, dass die Benin-Bronzen dem Oba von Benin übereignet werden würden: "Das wussten wir nicht. Wir hatten von dem Dekret des Präsidenten aber schon vor der Berichterstattung in Deutschland gehört und waren dazu mit den Kollegen in Nigeria in Kontakt. Zunächst muss man sagen, dass wir die Eigentumsrückübertragung vorgenommen haben, weil es völlig unbestritten ist, dass diese Artefakte in einem klaren Unrechtskontext erworben worden sind. Deshalb kann man bei der Rückgabe auch keine Bedingungen stellen. Wir haben sie in Nigeria an die staatliche Seite übergeben, an die National Commission for Museums and Monuments, die NCMM." In der Welt hofft Matthias Busse, dass zumindest die in Sachsen und Bayern verwahrten Benin-Bronzen nicht den gleichen Weg gehen werden.
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Ideen

Michael Hesse unterhält sich für die FR mit der amerikanisch-indischen Soziologin Shalini Randeria, Rektorin der Central European University. Sie verteidigt einen universalen Begriff der Menschenrechte, auch gegen woke Angriffe, die im Gespräch aber nur kurz gestreift werden. Wichtiger ist ihr eine ökonomische Fundierung der Menschenrechte, eine Politik der "Commons" in Bezug etwa auf Saatgut und eine Internationaliserung von Deomkratiebewegungen: "Trotz gravierender Einschnitte bei den Frauenrechten, insbesondere im Hinblick auf das Recht auf Abtreibung, unter anderem in den USA, gibt es noch keine internationale Frauenbewegung, wie wir sie zu Zeiten der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo oder der Weltfrauenkonferenz in Peking vor dreißig Jahren beobachten konnten. Gegenwärtig gibt es beispielsweise bei Themen wie dem Klimawandel sowie bei der Black-Lives-Matter-Bewegung Solidarität auf transnationaler Ebene. Aber die Fragen des Umgangs mit begrenzten Ressourcen und ihrer gerechten Verteilung können letztlich nicht von einer einzigen, lokalen Bewegung realisiert werden, genauso wenig wie eine nachhaltige Klimapolitik."
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Medien

Eine #MeToo und Mobbing-Geschichte über die heutige Spiegel-Redakteurin Anuschka Roshani hat vor ein paar Wochen Aufsehen erregt (unsere Resümees). Sie warf in einem Spiegel-Artikel ihrem ehemaligen Chef im Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers, Finn Canonica, vor, sie krass eingeschüchtert und belästigt zu haben. Das Landgericht Hamburg hat den Spiegel nun verdonnert, neun Passagen aus dem Artikel zu unterlassen, berichtet Isabel Pfaff in der SZ: "Das Gericht bezeichnet Roshanis Beitrag vom Februar nun als grundsätzlich ausgewogen und hält fest, dass an Vorwürfen des Mobbings und Machtmissbrauchs in Medienunternehmen 'ein erhebliches Berichterstattungsinteresse' bestehe. Allerdings reiche bei gleich mehreren Passagen der 'Mindestbestand an Beweistatsachen' nicht aus. Die Autorin und der Spiegel konnten demnach für mehrere Aussagen nicht genügend Belege vorlegen."
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Geschichte

Der britische Historiker Peter Frankopan hat mit "Zwischen Erde und Himmel" eine monumentale Menschheitsgeschichte des Klimas verfasst, die in diesen Tagen auf Deutsch erscheint. Im Gespräch mit Jürgen Kaube von der FAZ erklärt er, wie alles mit allem zusammenhängt, vor allem aber mit Religion: "Viele Dinge kamen vom Himmel: übermäßige Sonne, riesige Mengen von Regenwolken, Kometen. Also waren die Götter im Spiel. Die ganze Schöpfungsgeschichte der Erde dreht sich darum, dass Gott eine perfekte Umgebung geschaffen hat. Wenn gegen sein einziges Gebot verstoßen wird, ist die Strafe eine ökologische. Adam und seine Nachkommen haben ein Land zu bearbeiten, das nicht freigiebig ist. Es gibt manche Ähnlichkeit mit den heutigen Klimabewegungen, in denen es Propheten gibt, die eine sehr ähnliche Botschaft haben, nämlich dass schlechtes Benehmen und unmoralisches Verhalten Strafen nach sich ziehen, und es gibt fast heilige Texte, die einem sagen, wie man leben, essen, reisen soll."
Archiv: Geschichte