9punkt - Die Debattenrundschau

Gewaltvolle Zustände

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2023. "Es ist niederschmetternd": Welt-Autor Deniz Yücel klingt in einem ersten Kommentar zu den türkischen Wahlen verzweifelt: Erdogan scheint zu gewinnen und wird sich nach dem zweiten Wahlgang womöglich noch mehr mit rechtsextremen und islamistischen Parteien verbünden. Zwei Autoren machen sich völlig unterschiedliche Gedanken über die Erosion der Fakten: Alain Finkielkraut fürchtet in der Welt ein Zeitalter der "Austauschbarkeit der Individuen". Peter Pomerantsev fragt im Observer, warum Autokraten, die die Wahrheit einst fürchteten, heute ihre Lügen stolz und offen verkünden. Aber er hofft auf ein Gegenmittel: die juristische Sanktion.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.05.2023 finden Sie hier

Europa

Fast verzweifelt klingt Welt-Autor Deniz Yücel nach der noch nicht abgeschlossenen Auszählung zu den türkischen Wahlen: "Es ist niederschmetternd". Erdogan kratzt an der absoluten Mehrheit, in Stichwahlen wird er als Favorit gehen, "ein großer, überraschender Erfolg für Erdogan". Von der durchaus vorhandenen Unzufriedenheit im Erdogan-Lager haben rechtsextreme und islamistische Parteien profitiert. Nun wird Erdogan koalieren "mit Kräften, die bereits dafür gesorgt haben, dass die Türkei die einst in Istanbul beschlossene Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgekündigt hat. Und die noch radikalere Forderungen stellen: Man will Gesetze zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch schleifen, sodass schariakonform auch Kinder verheiratet werden können, man will Homosexualität strafrechtlich verfolgen etc. Es ist ein Bündnis gegen die Frauen und gegen den Laizismus, das die absolute Mehrheit im Parlament errungen hat."
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Ideen

Im Interview mit der Welt spricht der französische Philosoph Alain Finkielkraut, dessen Buch "Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung" gerade erschienen ist, über den Niedergang des Humanismus, den Nihilismus des Westens und die Auflösung des Individuums im Allgemeinen: "Ich muss mich aber auch auf einen heiklen, wenngleich unvermeidlichen Denker beziehen: Heidegger. Technik ist für ihn die Art und Weise, wie die Welt sich uns enthüllt. Alles in unserer Welt ist heute produzierbar, formbar und letztlich austauschbar. Besonders zeigt sich das beim Gendern und bei der Trans-Thematik. Menschen, die ihr Geschlecht wechseln möchten, werden zu Idolen, da mit ihnen sogar die Geschlechterdifferenz, die letzte Zone der Unverfügbarkeit, verschwindet. Alles wird zum Objekt einer Wahl. Alles ist formbar und manipulierbar. ... Vom umfassenden Begriff des Humanismus in der Renaissance verbleibt derzeit nur der humanitäre Aspekt. Man eilt in einer totalen Verblendung allen zu Hilfe, den Mittellosen und Benachteiligten, an erster Stelle den Migranten. Die kalkulierende Vernunft und die humanitäre Leidenschaft gehen von einer gemeinsamen Überzeugung aus: der Austauschbarkeit der Individuen. Individuen aber sind nicht austauschbar. Ein Volk hat auch ein kulturelles Erbe. Will man das nicht wahrhaben, erzeugt man gewaltvolle Zustände."

Einst wollten autokratische oder diktatorische Politiker wie Putin oder solche, die es werden wollen, wie Trump, ihre Verbrechen verstecken - sie hatten Angst vor der Wahrheit. Heute lügen sie stolz, offen und scheinbar straflos, konstatiert Peter Pomerantsev in einem Essay für den Observer. Der Antwort auf die Frage, warum das so ist, kommt er zwar nicht auf die Spur. Aber er hofft, mit seinem "Reckoning Project" immerhin ein Gegenmittel finden zu können: Juristen und Journalisten tun sich da zusammen, um Kriegsverbrechen möglichst schnell zu dokumentieren und justiziabel zu machen. Er schlägt außerdem Gerichtshöfe vor, wo als Urteil Geld aus sanktionierten Unternehmen an Opfer verteilt wird: "Hinzu kämen (milliardenschwere) Bußgelder gegen westliche Unternehmen und Unterstützer, die Putins Kriegsmaschinerie trotz Sanktionen weiter unterstützen. Ein solches Tribunal würde sowohl die Opfer spürbar entschädigen als auch das korrupte, globale System untergraben, das Putin geschaffen hat und dessen Existenz er nutzt, um zu beweisen, wie gefestigt seine Macht ist."
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Politik

2023 ist nicht nur das 75-jährige Jubiläum israels, sondern auch der "Nakba". Junge arabischstämmige Israelis nehmen das Gedenken selbst in die Hand, so etwa das "Haifa Youth Movement", berichtet Quynh Tran für die FAZ aus Haifa. "Die Studentin Reham Saleh erklärt das so: 'Als Palästinenserin in Israel hat man nicht den Raum, sich die Frage zu stellen: Wo komme ich her? Was ist meine Familiengeschichte? Was bedeutet es, Bürgerin zweiter oder dritter Klasse zu sein?' In der Schule darf nicht über die Nakba gesprochen werden, in der Gesellschaft wird die Konversation oft sozial und ökonomisch sanktioniert. Das Palästinensersein, so Saleh, soll vergessen gemacht werden."
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Stichwörter: Nakba

Urheberrecht

"Es ist dringend nötig, dass Kulturschaffende eine Haltung zur künstlichen Intelligenz entwickeln", meint in der SZ Michael Moorstedt, der in der New York Times gelesen hat, dass Netflix etwa Synchronsprechern bereits Verträge vorgelegt hat, die dem Streamingdienst die Verwertungsrechte an deren Stimmmustern sichern: "Wie es auch gehen kann, macht die kanadische Sängerin Grimes vor. Die kündigte an, jeden, der ihre Stimme für eigene Produktionen benutzen wolle, mit der Hälfte der potenziellen Einnahmen zu beteiligen. Sogar eine eigene Software namens elf.tech hat sie entwickeln lassen, um die Kollaborationen mit der Maschine möglichst reibungslos zu gestalten. Ist das eher eine vorauseilende Kapitulation oder ein cleveres Verwertungsmuster, das sich an die veränderten Umweltbedingungen angepasst hat?"
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Gesellschaft

Die Demografin C. Katharina Spieß und der Finanzwissenschaftler Marcel Thum kriegen es hin, in der FAZ eine ganze Gegenwart-Seite über den demografischen Wandel in Deutschland zu füllen, ohne das Thema dringlich zu machen. Das liegt unter anderem daran, dass sie so sehr in die Details gehen, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Aber viele interessante Aspekte werden gestreift. So machen sich die beiden etwa Sorgen um den Öffentlichen Dienst: "Aktuell hat die öffentliche Verwaltung im Mittel deutlich niedrigere Nichtbesetzungsquoten als das Verarbeitende Gewerbe und die Dienstleistungssektoren. Dies legt nahe, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Jobs im staatlichen Sektor wegen der Höhe der Löhne, der Arbeitszeit und der Sicherheit im Beruf attraktiv finden. Dringend benötigt wird aber ein Digitalisierungsschub, der auch im öffentlichen Sektor Arbeitskräfte einspart." Dies gelte eben deshalb, weil es in bestimmten Bereichen, etwa Kitas oder Pflege, eben doch Bedarf gibt: "Wenn der Staat in diesen Bereichen Fachkräfte beispielsweise durch bessere Bezahlung gewinnen will, dann muss er erst recht in anderen Bereichen Effizienzgewinne erzielen, indem er auf Digitalisierung setzt."

In der Welt wundert sich Rainer Haubrich nicht über das Ergebnis einer YouGov-Umfrage, die ausgesprochen geringe Sympathiewerte für die Klimakleber ausweist: Drei Viertel der Teilnehmer lehnen Straßenblockaden ab. Noch schmerzhafter: Auch "53 Prozent der Grünen-Anhänger lehnen Straßenblockaden ab; und selbst in der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren haben nur 36 Prozent Verständnis für Straßenblockaden zum Wohle des Klimas. Dabei ist den Bürgern der Klimaschutz nicht egal, ganz im Gegenteil: 47 Prozent finden, dass die Bundesregierung auf diesem Feld immer noch zu wenig tut."
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Religion

Tariq Ramadan galt lange als Beweis, dass ein gemäßigter Islamismus möglich sei und war auch in deutschen Medien ein gern gesehener Interviewgast. In Oxford wurde er mit Geldern aus Katar zum Professor gemacht. Dann erhoben in Frankreich und der Schweiz immer mehr Frauen Vergewaltigungsvorwürfe, über die in den Medien eher selten berichtet wurde. Auch in der Schweiz findet zur Zeit ein Prozess statt, das Urteil wird in den nächsten Tagen erwartet. Saïda Keller-Messahli, Präsidentin eines Schweizer Forums für einen fortschrittlichen Islam, kommentiert im Blick: "Noch ist die Politik zögerlich, wenn es um die Muslimbruderschaft und ihre Vertreter geht. Ihre Financiers treten als Investoren auf, mit denen man es sich nicht verscherzen will. Wie auch immer das Urteil am 24. Mai in Genf ausfallen wird, es wird hoffentlich eine Diskussion auslösen, welche Rolle der politische Islam in einer demokratischen Gesellschaft spielen soll."

In der taz unterhält sich Ute Löhning mit dem chilenischen Ermittler Luis Henríquez Seguel, der Ende der neunziger Jahre half, die Vorgänge um die rechtsextreme, mit Pinochet verbundene Colonia Dignidad aufzuklären - sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen war auch hier eines der düsteren Themen. "Was in den Jahrzehnten der Colonia Dignidad geschehen ist, war schrecklich, auch für die vielen deutschen Opfer, die in der Siedlung gelitten haben. Natürlich ist Chile verantwortlich, weil diese Dinge auf chilenischem Boden geschehen sind. Aber auch die deutsche Botschaft in Chile kannte die Berichte derjenigen, die aus der Siedlung fliehen konnten wie Wolfgang Kneese 1966."
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Kulturpolitik

Klaus Hillenbrand erzählt in der taz die Geschichte der Kostümbildnerin Aviva (Name geändert), die in einem deutschen Theater angeheuert hatte. Sie ist Jüdin und staunte nicht schlecht, dass sie bei Dienstantritt, wie in Deutschland wegen der Kirchensteuer üblich, als erstes ihre Religionszugehörigkeit angeben sollte. Die Bühne hatte das Intendantenpapier unterschrieben, das unter dem Namen "Weltoffen", BDS-Positionen zulassen will und das zu den Themen einer Konferenz im Haus der Wannseekonferenz gehörte. "Aviva fühlte sich unwohl bei der Arbeit. Sie soll Künstlern eine Bühne bereiten, die ihrerseits eine Nähe zu BDS demonstriert hatten. Sie soll ein Video verbreiten, dessen Protagonist Demonstrationen gegen Israel unterstützt hat. Antisemitismus dagegen sei nie ein Thema bei diesem Theater gewesen, sagt sie. Nach einem halben Jahr reichte Aviva ihre Kündigung ein. Sie sagt: 'Aufgrund meines Jüdischseins war ich dazu gezwungen, meinen Job aufzugeben.' Am Ende sei sie noch inquisitorisch nach ihrer Meinung zur israelischen Besatzung des Westjordanlands befragt worden."

In Köln explodieren die Kosten für die Sanierung der Zentralbibliothek: Ursprünglich war sie auf knapp 16 Millionen Euro angelegt, jetzt werden sie inoffiziell auf knapp 140 Millionen geschätzt, berichtet Alexander Menden in der SZ. Woran das liegt, erfahren wir aus seinem Artikel leider nicht. Doch soll die Sanierung trotzdem besser sein als ein Neubau. Das meint auch der niederländische Designer Aat Voss, der die neue Gestaltung des Innenraums entworfen hat. "Eine technische Sanierung, keine Kosmetik ist das Ziel. Ein 'Dritter Ort' soll aus der aus drei übereinander gelagerten Kuben bestehenden Bibliothek werden. Und zwar in Abgrenzung zum 'ersten Ort', dem eigenen zu Hause, und dem 'zweiten Ort', der Schule oder dem Arbeitsplatz. Ein öffentlicher Platz, der wie Parks oder Museen ein Freizeitangebot macht. Das Kölner Gebäude sei dafür ideal, so Voss, denn die Architekten Franz Löwenstein und Franz Lammersen hätten die Grundstruktur flexibel und effizient geplant".

Rückgabeforderungen von Raubkunst haben die Briten bis jetzt von sich abperlen lassen. Aber das wird auf Dauer nicht funktionieren, erkennt im Guardian Harry Tayler. Den inzwischen fragen nicht nur politische Leichtgewichte, sondern auch Großmächte an, lernt er von dem britischen Autor Sathnam Sanghera und aus dem Daily Telegraph. Indien zum Beispiel hätte gern ein paar Diamanten zurück, darunter den Koh-i-noor, der eine der britischen Kronen schmückt: "Sanghera sagte: 'Unsere Museen und die königliche Familie sind im Besitz von indischem Raubgut im Wert von Milliarden von Pfund. Das war ein systematischer Teil der Kolonialherrschaft. Die königliche Familie erhielt den königlichen Anteil an dieser Beute.' ... Die Forderungen Indiens sind Teil eines umfassenderen Überdenkens der Rolle des Landes als ehemalige Kolonie. Premierminister Modi hat sich dafür eingesetzt, dass Schulklassen in Hindi und anderen Sprachen statt in Englisch unterrichtet werden, das indische Parlament wird umgebaut und die Abgeordneten sollen aus dem von Edwin Lutyens entworfenen Gebäude aus der Kolonialzeit ausziehen, und Straßen, die nach ehemaligen britischen Monarchen benannt sind, wurden geändert."
Archiv: Kulturpolitik