9punkt - Die Debattenrundschau

Eine sehr aktive Diaspora-Politik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2023. Der Ausgang der türkischen Wahlen ist vor allem auch ein Schlag für Tausende politische Häftlinge des Regimes, deren Hoffnung auf Freilassung nun zerstoben ist, konstatiert die FAZ. Die Türkei ist im Grunde nach rechts gerückt, stellt die SZ fest. Und die Türken in Deutschland sind laut Stern so rechts wie immer schon. Der kenianische Präsident William Ruto äußerte sich laut Voice of Africa erstmals zu den 200 verhungerten Sektenmitgliedern der "Good News International Church". Im Iran sind in diesem Jahr bisher 209 Menschen hingerichtet worden, die deutsche Politik sagt nichts, schreibt Gilda Sahebi in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2023 finden Sie hier

Europa

Nicht nur hat Recep Tayyip Erdogan bei den türkischen Wahlen die führende Position errungen, hinzukommt, dass sein Parteienbündnis schon jetzt die absolute Mehrheit im Parlament hat. Und wieder einmal haben die Demoskopen, die Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu gute Chancen eingeräumt hatten, daneben gelegen, berichtet Friederike Böge für die FAZ: "Der Chef von Metropoll, Özer Sencar, meint, die entscheidende Frage sei, warum Erdogan die meisten Stimmen bekommen habe, obwohl die Wirtschaftslage so schlecht sei 'wie in den vergangenen 30 bis 40 Jahren nicht'. Seine Antwort: Die Wähler der AKP machten nicht Erdogan für die Wirtschaftskrise verantwortlich, sondern Amerika und die Europäische Union."

Es gab viel Hoffnung, aber die Mobilisierung auch gegen viele unfaire Hindernisse hat nicht ausgereicht, konstatiert auch Karen Krüger im Feuilleton der FAZ in einem Artikel über die Reaktion von Schriftstellern auf den Ausgang der Wahlen, "Und das ist nicht nur eine niederschmetternde Nachricht für die demokratischen Kräfte und die unzähligen türkischen Exilanten, die hofften, vielleicht schon in dieser Woche in ihre Heimat zurückkehren zu können. Es ist auch ein Schlag für die Tausenden politischen Häftlinge des Regimes, die wie der Kulturmäzen Osman Kavala oder der Politiker Selahattin Demirtas seit Jahren auf ihre Freilassung warten."

"Erstaunlich, wie sich die Dinge über Nacht ändern können", seufzt der türkische Journalist Yavuz Baydar in der SZ. So groß waren die Hoffnungen noch vor wenigen Tagen, Erdogan könne abgewählt werden. Aber jetzt sei quasi sicher, dass er auch die Stichwahl gewinnen wird. "Das Wahlergebnis lässt keine Zweifel darüber, in welche Richtung sich das Land entwickelt. Die Rechte ist im Parlament stärker vertreten als zuvor, über das gesamte politische Spektrum hinweg. Die fundamentalistische 'Neue Wohlfahrtspartei' (YRP) gewann fünf Sitze, ebenso wie die prokurdische dschihadistische 'Partei der gerechten Sache' (Hüda-Par-Partei, ein Ableger der türkischen Hisbollah), die drei Sitze erhielt. Wie mein Freund, der Historiker Alexander Clarkson, auf Twitter schrieb, konsolidiert sich eine Verschiebung nach rechts außen. Er sieht die Gespenster der türkischen Politik der Sechziger- und Siebzigerjahre wieder aufleben, da er eine Schwächung der AKP nach Erdoğan vorhersagt: Alparslan Türkeş, Gründer der ultranationalistischen MHP und 'Führer' der Grauen Wölfe; und Necmettin Erbakan, Vaterfigur der islamistischen "Nationalen Sicht" (Milli Görüş). 'Bei den Wahlen kann man bereits die Umrisse einer Post-AKP-Politik erkennen', schrieb er."

Auf der Meinungsseite ist Tomas Avenarius zwar auch überzeugt, dass Erdogan bei der Stichwahl gewinnen und weitere deprimierende fünf Jahre regieren wird. Aber den türkischen Wählern gratuliert er dennoch: "Die Türkei ist eine trotz aller Eigenheiten erstaunlich gut funktionierende Demokratie, jedenfalls was die Wähler betrifft. Sie - ganz sicher nicht der Staat oder der Apparat des Präsidenten - haben ihre Reifeprüfung bestanden. Sie haben mit der sensationellen Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent überzeugt, es gab keine Gewalt, es gab keine größeren Zwischenfälle. Die Wähler haben ihrer Enttäuschung über Erdoğans vergangene Regierungsjahre Ausdruck verliehen, ihm mit der Stichwahl den Nimbus der Unbesiegbarkeit dann eben doch genommen. Allein das ist schon ein Erfolg der Opposition".

65 Prozent der Türken in Deutschland haben Erdogan gewählt, seinen Opponenten nur 33 Prozent, meldet der Stern. "Erdogan dürfte in Deutschland somit wohl wieder viel besser abschneiden als bei der Wahl insgesamt ... Damit zeichnet sich in Deutschland ein ähnliches Bild wie bei der Wahl 2018 ab. Damals war Erdogan bei den Deutsch-Türken auf 64,8 Prozent - und insgesamt auf 52,6 Prozent gekommen. Türken mit Wohnsitz außerhalb der Türkei können seit 2014 auch im Ausland wählen."

"Wie passt das zusammen", fragt sich in Der Westen Jonas Forster. "Hier die Vorzüge der Demokratie genießen und dort jemanden wählen, der sie abschaffen will? 'Ein Hauptgrund ist, dass Erdogan seit 20 Jahren eine sehr aktive Diaspora-Politik führt', so der Kölner Türkei-Experte und Journalist Eren Güvercin. 'Unsere Politiker haben das nicht so wirklich wahrgenommen oder wollten es nicht wahrnehmen'." Man müsse sich daher hierzulande selbstkritisch die Frage stellen, "warum wir all die Jahre diese Agitation von Erdogan und seiner Strukturen in Deutschland ignoriert und vor allem, warum wir dem nichts entgegensetzt haben".

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Zum Krieg in der Ukraine:

Im Interview mit dem Tagesspiegel kritisiert der Historiker Karl Schlögel scharf die Verfechter von Verhandlungen der Ukraine mit Russland wie beispielsweise den Juristen Reinhard Merkel: "Wer behauptet, dass die Krim jetzt russisches Territorium sei, legitimiert noch einmal den Völkerrechtsbruch. Reinhard Merkel landet bei der ungeheuerlichen These, dass die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine einem Angriff auf Russland gleichkomme. Das ist eine Umkehr der Opfer-Täter-Beziehung. Wir können doch nicht denjenigen, der den Krieg entfesselt hat, definieren lassen, was Recht ist. Insofern ist dieser Jurist bloß eine Stimme Putins. ... Die Ukrainer sind tödlich bedroht. Ihre Antwort ist: Wir beugen uns nicht eurer Gewalt. Jeder Tag der barbarischen russischen Kriegsführung hat ihnen recht gegeben. Auch der Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft ist eine überwältigende Erfahrung. Dieses nationale Zusammengehörigkeitsgefühl kann man bei uns kaum verstehen. Das ist einer der Gründe für die Herablassung deutscher Intellektueller, die sich alle schon im Postnationalen angekommen sehen. Sie halten die Selbstbehauptung der Ukraine als Nation für überholt oder sogar reaktionär."

Spätestens seit 2014 hat die deutsche Politik Putin "zur Fortsetzung seiner Aggression gegen die Ukraine ermutigt", schreibt Reinhard Veser im Leitartikel der FAZ. Zwar setzte Deutschland innerhalb der EU Sanktionen gegen Russland durch, aber waren sie nicht nur vorgeschützt? "Mit der Unterstützung für die Ostseepipeline Nord Stream 2 erweckte die Bundesregierung in Moskau den Eindruck, dass Deutschland bereit sei, die Ukraine zu verkaufen. Während Russland die Minsker Vereinbarungen zum Krieg im Donbass offen missachtete und dort ein blutiges Besatzungsregime errichtete, war Deutschland bereit, mit Russland ein Milliardengeschäft zulasten der Ukraine zu machen (mit dem es zudem seine eigene Energieabhängigkeit von Russland erhöhte)."

Dass die Wirtschaftssanktionen Russland nicht schaden, ist ein Märchen, sagt der Wirtschaftsforscher Gabriel Felbermayr in der taz. Auf den Einwand des Interviewers Felix Lee, dass China die Lücke gefüllt habe und die russische Wirtschaft sogar wachse, antwortet er: "Es ist ja nicht nur China, sondern eine ganze Reihe von Ländern, die in die Bresche gesprungen sind. Dennoch sind die Kosten für die russische Volkswirtschaft hoch. Dass Russlands Wirtschaft leicht wächst, dürfte auch mit den hohen Aktivitäten zu tun haben, die notwendig sind, um den Krieg aufrechtzuerhalten. Die Kriegsindustrie boomt. Russlands Wirtschaft mag jetzt um ein halbes Prozent wachsen, ohne Krieg wäre sie aber wahrscheinlich um dreieinhalb Prozent gewachsen. Damit hat sie schon drei Prozentpunkte verloren."
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Religion

Wenig Interesse haben die Medien bisher an der "Good News International Church" gezeigt. Der kenianische christliche Sektenführer Paul Nthenge Mackenzie hatte seine Gläubigen aufgefordert, sich zu Tode zu hungern, um Gott näher zu sein. Inzwischen wurden "mehr als 200 verhungerte Sektenmitglieder in Kenia exhumiert", meldete der Tagesspiegel am Samstag. "Angesichts der hohen Zahl der Toten sind die Kapazitäten in der Leichenhalle des örtlichen Krankenhauses längst erschöpft. Das kenianische Rote Kreuz hatte einen Kühlcontainer in die Region gebracht, in dem die Toten zunächst gelagert werden können." Laut Voice of Afcica hat sich nun der kenianische Präsident William Ruto  zum ersten Mal geäußert: "Ich übernehme als Präsident die Verantwortung dafür, dass dies nicht hätte passieren dürfen. Und sicherlich werden einige Leute, die für dieses Versagen der Regierung verantwortlich sind, Rechenschaft ablegen müssen." Aber mindestens ebenso wichtig war es ihm, den Kirchen ihre Autonomie zu garantieren: "Ich weiß, dass es Leute gibt, die nervös sind, weil sie fürchten, dass wir die Kirche regulieren. Und das ist richtig - wir sollten die Kirche nicht regulieren. Wir wollen von unseren religiösen Führern erfahren, wie wir uns auf einen Mechanismus einigen können, der sicherstellt, dass Kriminelle und Gauner die Religion nicht ausnutzen." Angehörige von Opfern kritisieren die kenianischen Behörden scharf, sie hätten zu spät eingegriffen. Einigen der Opfer sollen Organe entnommen worden sein, meldete unter anderem Spiegel online.

Archiv: Religion
Stichwörter: Kenia, Sekten

Politik

Im Iran wurden in diesem Jahr bereits 209 Menschen exekutiert, die westlichen Politiker aber halten still, schreibt Gilda Sahebi in der taz. "Stille Diplomatie - die halten deutsche Bundesregierungen seit vielen Jahren für das erfolgreichste Vorgehen, gegen alle Evidenz. Und so gibt sich das iranische Regime seinerseits Mühe, das Aufhebens um die Hinrichtungen so klein wie möglich zu halten. Erstens, weil knapp die Hälfte der Todesurteile wegen 'Drogendelikten' gefällt werden. Sie sind also auf den ersten Blick 'nicht politisch'. Das sind sie aber sehr wohl: Sie dienen der 'Verbreitung von Angst', so schreibt die Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights in einem kürzlich erschienenen Bericht. Soziale Kontrolle durch Hinrichtungen: Das ist die klandestine 'Politik' des iranischen Regimes."

Man muss nicht jede Diplomatie aufgeben, um Druck zu machen auf Despoten, meinen in der Welt Michael J. Abramowitz und Margaux Ewen von Freedom House: "Es gibt Möglichkeiten, in bilateralen und multilateralen Zusammenhängen mehr für die Rechte von Gefangenen zu tun, darunter die explizite Benennung von Fällen. Realistischerweise bedeutet das nicht, dass die Beziehungen zu diesen repressiven Regimen abreißen. Ein solches Vorgehen kann zu bedeutenden Verbesserungen führen, wie wir im Februar gesehen haben, als 222 politische Gefangene in Nicaragua freigelassen wurden. Wer hingegen diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu autoritären Regimen pflegt ohne sich für spezifische Fälle einzusetzen, ihnen damit Öffentlichkeit zu verschaffen, übt Verrat an demokratischen Werten und verschwendet den eigenen politischen Einfluss, den Demokratien auf diese Regime haben."

Unterdessen wird Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen: Brutale Vernichtungspolitik wird also nicht sanktioniert, konstatiert Richard Herzinger in seinem Blog. "Die Rehabilitierung des Schlächters Assad durch die arabische Welt stellt einen Triumph für Putins Russland dar, das zur Sicherung von Assads Herrschaft große Teile Syriens in Schutt und Asche gebombt hat - in enger kriegerischer Allianz mit dem Iran, der jetzt seinerseits den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützt."
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Geschichte

Otto Weidt gehörte zu den wenigen Berlinern, die in der Nazizeit Juden halfen. In seiner ehemaligen Blindenwerkstatt erinnert jetzt ein Museum an ihn und die von ihm geretteten Juden (und auch an die, die er trotz allem nicht retten konnte), berichtet Klaus Hillenbrand in der taz: "Da war Alice Licht, die als Weidts Sekretärin arbeitete. Im Februar 1943 verbarg Weidt sie und ihre Eltern in einem Lagerraum. Doch das Versteck wurde verraten, Alice Licht festgenommen und deportiert. Otto Weidt reiste unter einem Vorwand nach Auschwiz, folgte der Verschleppten nach Groß Rosen und nahm über einen Mittelsmann Kontakt zu ihr auf. Alice Licht gelang die Flucht. Das Kriegsende erlebte sie beim Ehepaar Otto und Else Weidt in Berlin."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Weidt, Otto