9punkt - Die Debattenrundschau

Ich kann die Gefahr spüren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2023. Der Guardian überlegt, warum die Konservativen in Griechenland so erfolgreich sind bei den Wählern, trotz der Proteste in den letzten Monaten. Nie gab es so viel Immigration in Britannien wie nach dem Brexit - jetzt sind nur kaum noch Europäer dabei, stellt der Spectator fest. Die FAZ erzählt, wie der Iran das Kopftuchtragen überwacht. In zehn, zwanzig Jahren könnte es vorbei sein mit Israel, fürchtet in der NZZ Richard C. Schneider.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.05.2023 finden Sie hier

Europa

In Griechenland hat die Nea Dimokratia, die konservative Partei von Premierminister Kyriakos Mitsotakis, die Parlamentswahlen mit 40 Prozent der Stimmen deutlich gewonnen. Eigentlich erstaunlich, gibt Marina Prentoulis im Guardian zu, wo doch fast ein Drittel der Bevölkerung von Armut bedroht sei. Die linke Syriza-Partei von Alexis Tsipras kam gerade mal auf 20 Prozent. Woran liegt's? Zum einen hat Mitsotakis viel Zuspruch erfahren für seinen restriktiven Umgang mit Flüchtlingen, auch wenn der gegen internationales Recht verstößt, meint Prentoulis. Die Syriza-Wähler wiederum haben Tsipras noch immer nicht seine Zustimmung zum Rettungspaket der EU vergessen, obwohl eine Volksbefragung dagegen war. Und zum anderen konnte sich die Linke nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen: "Vielleicht sind diese Ergebnisse ein Weckruf für die fortschrittlichen Parteien Griechenlands, wie wichtig es ist, miteinander zu kooperieren. Um auch nur in die Nähe eines Wahlsieges zu kommen, müssen sie jedoch lernen, mehr zu bieten als nur eine Möglichkeit, den schlimmsten Fall zu vermeiden."

Ein Hauptversprechen der Brexiter war es, die Immigration in Britannien einzuschränken. Daraus wurde nichts, im Gegenteil, nie war die Einwanderung höher als heute, schreibt Fraser Nelson im Spectator: 250.000 im Jahr, Ukrainer und Hongkongchinesen nicht mitgerechnet. Gleichzeitig gibt es überall offene Stellen: 40.000 allein in Manchester. Die Torys verteilen inzwischen großzügig Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitsvisa: "Diese Woche wurde ein Meilenstein erreicht, als bekannt wurde, dass 20 Prozent der britischen Arbeitskräfte im Ausland geboren sind - damit sind wir ein größeres Einwanderungsland als sogar die Vereinigten Staaten. Der Brexit hat eine andere Mischung von Migranten ins Land gebracht. Indien hat Polen als wichtigstes Herkunftsland für neue Arbeitskräfte abgelöst, gefolgt von den Philippinen, Nigeria, Simbabwe, Australien und den Vereinigten Staaten. ... Brexit Großbritannien kann für sich in Anspruch nehmen, eines der gastfreundlichsten Länder der Welt zu sein, mit einer Genehmigungsquote für Arbeitsvisa von etwa 96 Prozent. Bei den Amerikanern liegt sie bei fast 100 Prozent (12 382 Anträge wurden gestellt und nur 47 abgelehnt). Nicht-EU-Bürger werden nicht mehr als Menschen zweiter Klasse behandelt: Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass jemand aus Kirgisistan ein Arbeitsvisum erhält als jemand aus Deutschland." Warum das so ist, warum die Briten eine solche Abneigung gegen europäische Arbeitnehmer haben, sagt uns Nelson leider nicht.

Heute bringt auch noch die FR ein knapp zweiseitiges Interview mit Timothy Garton Ash. Er spricht über den Übergang in eine "postwestliche Welt" und Putins an Hitler erinnernde "genozidale Absicht", außerdem fordert er eine Aufarbeitung von Deutschlands verfehlter Russland-Politik und verurteilt den "Revisionismus", mit dem das DDR-Regime positiv umgedeutet wird: "Und im Übrigen, auch wenn ich solche Gefühle verstehe, denn es gab eine Art neokoloniale Haltung der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen, muss ich sagen, dass es wichtigere Themen in Europa gibt als diese Befindlichkeit der Ostdeutschen."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Wenn Klimakleber auch an Feiertagen den Urlaubs- und Ausflugsverkehr behindern, ist das ein Bruch mit der deutschen Protestgeschichte, notiert Gustav Seibt in der SZ. Denn bisher ging es nie in erster Linie gegen beliebig angetroffene Mitbürger. "Auch Aktivisten wissen, dass Handwerker nicht die S-Bahn nehmen können, dass das Taxi zum Flughafen mindestens dann nötig ist, wenn der Regionalzug zum BER wieder einmal in Reparatur ist und dass der Behindertentransport schlicht unumgänglich bleibt, was immer die Verkehrsbetriebe sonst hergeben."

Dennoch ist die "Letzte Generation" keine "kriminelle Vereinigung", wie es in etwa in Brandenburg oder von Berlins neuer Justizsenatorin Felor Badenberg diskutiert wird, meint Wolfgang Janisch, ebenfalls in der SZ: "Die Sache wird nicht besser dadurch, dass man die Absicht dahinter erkennt. Gegen mutmaßlich kriminelle Vereinigungen können die Ermittler alle Register ziehen: Telefonüberwachung, Durchsuchung, Observation. Selbst wenn all die Überwachung nichts zutage fördert, macht sie doch Eindruck - und schüchtert ein. Ein vermutlich erwünschter Nebeneffekt ist die Kriminalisierung des Umfelds. Die 'Letzte Generation' hat bisher offenbar Sponsoren, die bei den Geldstrafen aushelfen. Daraus könnte in der neuen Straflogik die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung werden. Da würde der Geldfluss rasch versiegen."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

"Die Kapitalisierung menschlicher Körper, wie der Historiker Michael Zeuske treffend die Sklaverei zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt umschreibt, hat auch in Afrika eine uralte Geschichte", sagt der Kulturwissenschaftler Klaus Keuthmann im ZeitOnline-Gespräch mit Thomas Schmoll: "Vermutlich sind im Inneren Afrikas mehr Menschen in Sklaverei gehalten worden, als jemals den Kontinent als Sklaven im sogenannten Dreieckshandel verlassen haben. Ob im System der Sklavenhaltung, des Frondienstes oder der Leibeigenschaft oder anderer Formen der Ausbeutung von Menschen: Nutznießer waren immer und überall auf der Welt Eliten, Klassen von Menschen mit Vorrechten, Herrschende also, zu denen eben auch Königsfamilien wie die des Oba in Benin gehörten. Sie versklavten aus unterschiedlichsten Gründen eigene, unliebsame Untertanen, politische Gegner oder Konkurrenten, Kriegsgefangene oder Opfer systematischer Menschenjagden." Die Restitution hält er für richtig, aber die deutsche Politik habe "sich die Sache einfach gemacht und die Verantwortung an den nigerianischen Staat weitergereicht."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

In der FAZ beschreibt Sara Taimouri wie die iranischen Regierung Frauen mit Kameras und SMS unter den Hijab zwingen will: "Arezou fühlt sich permanent beobachtet. 'Diese Augen sind überall', sagt die junge Iranerin. In Teheran ist sie auf Schritt und Tritt umgeben von den Kameras des Regimes. Für gewöhnlich fährt Arezou mit der Metro zur Arbeit. Um möglichst unerkannt zu bleiben, trägt die 30 Jahre alte Lehrerin eine Maske und einen bunten Schal. So schildert sie es in einem Videotelefonat. Wenn Arezou sich besonders bedroht fühlt, setzt sie den Hijab auf, und sei es nur für zehn Minuten. 'Ich kann die Gefahr spüren', sagt Arezou, die eigentlich anders heißt. Sie möchte anonym bleiben. Zu groß ist ihre Angst vor dem Regime der Islamischen Republik. Für Gespräche mit ausländischen Medien könnte sie festgenommen werden, doch sie will unbedingt über die Situation in ihrem Heimatland sprechen."

In einem langen FR-Interview zum 75. Jahrestag der Gründung des Staates Israel spricht Daniel Cohn-Bendit über den Antisemitismus in Europa ("Cohn-Bendit nach Dachau!" forderten Gaullisten und Kommunisten 1968 in in schönster Eintracht), sein Verhältnis zu Israel als säkularer Jude, den BdS und warum er nach wie vor auf eine Zweistaatenlösung hofft: "Eine Lösung wird es nur geben, wenn beide Seiten die legitimen Ansprüche des anderen anerkennen. Das Tragische ist: Je mehr Zeit verstreicht, desto weniger wird eine Lösung möglich sein. Die arabischen Staaten haben kein Interesse an einem starken Palästina. Die Palästinenser sind die großen Verlierer der Geschichte. Wenn 1948 die arabischen Staaten dem Existenzrecht Israels in den damals von den UN gezogenen Grenzen zugestimmt hätten, gäbe es heute zwei Staaten. Die arabischen Staaten wählten aber den Krieg und das war der Beginn vieler Niederlagen für sie. ... Ich verstehe die Trauer der Palästinenser über das historische Drama. Für viele Juden aber ist ein demokratisches Israel eine Hoffnung - eine Hoffnung, die ich akzeptiere, auch wenn sie nicht die meine ist. Aber diese Hoffnung darf nicht blind machen für das Leiden der Palästinenser. Eine Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung ist eine Hoffnung, für die es sich zu kämpfen lohnt. Das Ende dieser Geschichte ist noch nicht geschrieben."

"Wenn die Entwicklung linear verläuft, dann muss man sagen: Ja, in zehn, zwanzig Jahren ist es vorbei mit Israel", befürchtet Richard C. Schneider, langjähriger Israel-Korrespondent der ARD, im NZZ-Gespräch mit Andreas Scheiner: "Angenommen, Netanjahu lenkt endgültig ein, die Justizreform würde gekippt, die Protestbewegung hätte gewonnen: Das würde nichts daran ändern, dass in etwa zwei Jahren rund 50 Prozent aller Erstklässler in Israel entweder Araber oder ultraorthodoxe Juden sind. Kinder, die zumeist eine von Haus aus schlechtere und für die moderne Welt nicht geeignete Erziehung haben. Natürlich ist das für die Entwicklung eines Landes, das ein Hightech-Land ist, verheerend. Und in etwa zwanzig Jahren ist jeder Vierte in Israel ultraorthodox. Wirtschaftlich dürfte es den Bach runtergehen."
Archiv: Politik

Internet

"Facebook und Instagram dürfen Daten ihrer Nutzer künftig nicht mehr in die USA übertragen - das ordnen die EU-Datenschutzbehörden an", berichtet Alexander Fanta bei Netzpolitik. "Alle personenbezogenen Daten aus Europa, die derzeit auf US-Servern lagern, müssen in EU-Rechenzentren übertragen werden. Eine entsprechende Anordnung machte heute, Montag, der Europäische Datenschutzausschuss öffentlich. Meta muss außerdem 1,2 Milliarden Euro Bußgeld zahlen - eine Rekordstrafe. .... Laut geleakten internen Dokumenten ist jedoch das Datenmanagement bei Meta chaotisch, eine Trennung der europäischen Daten vom Rest der Welt schwierig. Der Konzern hat in der Vergangenheit immer wieder gewarnt, er werde Facebook und Instagram in Europa abschalten, falls europäische Behörden die Datentransfers in die USA stoppen."
Archiv: Internet
Stichwörter: Meta, Datenschutz, Facebook, Instagram