9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Exempel ist statuiert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2023. SZ und NZZ beugen sich über den Tweet der an einer Polizeihochschule "interkulturelle Kompetenz" lehrenden Dozentin Bahar Aslan, die ihrer Angst vor der Polizei und dem "braunen Dreck" in den Sicherheitsbehörden Ausdruck verlieh. Die FAZ wundert sich, dass Claudia Roth sich wundert, dass sie bei der "Jewrovision" ausgebuht wurde. Die SZ möchte deutschen Erdogan-Fans genauso entschlossen gegenübertreten wie AfD-Anhängern. Frauen hierzulande sollten ihre Opferrolle ablegen, um die Emanzipation zu vollenden, fordert die Philosophin Svenja Flaßpöhler in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.05.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

In dem Moment, wo die AfD in den Neuen Ländern Umfrageergebnisse von 25 Prozent und mehr erzielen, erscheinen gleich mehrere Bücher, die die DDR schönreden. Doch die etwa von Katja Hoyer in "Diesseits der Mauer" als neu verfochtene Binsenwahrheit, dass man sich auch in Diktaturen bequem einrichten kann, verwischt nur den Unterschied zwischen  Rechtsstaat und Diktatur, schreibt Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne: "Dass sich Menschen in repressiven Verhältnissen mehr oder weniger bequem einzurichten wissen - unter der Voraussetzung, dass sie sich unliebsamer Aktivitäten oder Meinungsäußerungen enthalten und daher keiner unmittelbaren politischen Verfolgung aussetzen -, ist keine Erkenntnis, die autoritäre Systeme in einem milderen Licht erscheinen lassen könnte. Im Gegenteil: Das Angebot der Staatsmacht an ihre Untertanen, eine relativ komfortable Existenz führen zu können, so lange sie sich dem politischen Absolutheitsanspruch der Mächtigen fügen, stellt ein konstitutives Element diktatorischer Herrschaftstechnik dar."

Frauen sollten ihre Opferrolle ablegen, um die Emanzipation zu vollenden, fordert die Philosophin Svenja Flaßpöhler im NZZ-Gespräch mit Birgit Schmid: "Wenn … zeitgenössische Feministinnen allen Ernstes behaupten, sie seien immer noch Opfer des 'Patriarchats', kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie an ihrem Opfersein um jeden Preis festhalten wollen - auch wenn die Realität längst eine andere ist. Natürlich wohnen in uns noch patriarchale Denkmuster, die wir hinterfragen müssen. Aber rechtlich leben wir doch in keinem Patriarchat mehr. Ehrlich gesagt, verhöhnt eine solche Rede all jene Frauen, die wirklich noch unter dem Joch der Männer leben müssen. Was soll eine Frau in Iran denken, wenn eine junge Feministin aus Berlin, der alle Möglichkeiten offenstehen und die vielleicht sogar durch Frauenförderung ihre Stelle bekommen hat, über das Patriarchat klagt?"

Die an einer Polizeihochschule in Duisburg "Interkulturelle Kompetenz" lehrende Dozentin Bahar Aslan hatte am Wochenende über "braunen Dreck" innerhalb der Sicherheitsbehörden getwittert, der Shitstorm folgte - auch Polizeigewerkschafter, CDU- und FDP-Politiker kritisierten Aslan. Nun kündigte die Polizeihochschule an, Aslans Vertrag nicht zu verlängern, berichtet Ronen Steinke, der in der SZ versichert, dass Aslan nicht die Sicherheitsbehörden "in Gänze" meint: "Rechtlich hat Nordrhein-Westfalen gegen die Dozentin Aslan natürlich nichts in der Hand. Deshalb hat die Hochschule wohlweislich auch nicht ihren aktuellen Lehrauftrag gekappt - 'Sonst hätte ich inzwischen ja einen Anruf bekommen', sagt Aslan am Dienstag am Telefon -, sondern nur angekündigt, ihr im nächsten Jahr keinen neuen Lehrauftrag mehr zu erteilen. Der Effekt ist natürlich trotzdem groß. Ein Exempel ist statuiert. Hat Bahar Aslan mit ihrem Wort vom 'braunen Dreck' einen falschen Ton angeschlagen? Steht es einer Dozentin nicht an, krasse Missstände krass zu bezeichnen?"

In der NZZ kommentiert Marc Felix Serrao, der die Trennung der Hochschule von Aslan gerechtfertigt findet, indes: "Wer im Zusammenhang mit Menschen mehrdeutig von 'Dreck' spricht, stellt sich selbst ins Abseits. Wer sich so äußert, engagiert sich nicht gegen die - realen und ernstzunehmenden, aber zahlenmäßig überschaubaren - rechtsradikalen Vorfälle in den deutschen Sicherheitsbehörden, sondern reproduziert selbst einen braunen Jargon. Dass es vor allem linke Stimmen im Netz sind, die darüber hinwegsehen, würde noch irritieren, wäre es ein neues Phänomen. 'Hass und Hetze' kommen in diesen Kreisen, wenn, dann immer nur aus dem anderen politischen Spektrum. Man selbst wähnt sich immun."
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Ideen

"Wir erleben nahezu global und aus allen politischen Richtungen eine doppelte Ent-Institutionalisierung der Politik", meint Michael Wolffsohn, der in der Welt die Angriffe von Parlamenten auf die Judikative ebenso verurteilt wie die Proteste auf der Straße. Sowohl die Gelbwesten-Proteste, der Sturm aufs Kapitol oder die aktuellen Proteste in Israel seien ein "eindeutiger Regelbruch", schreibt Wolffsohn, ohne zwischen gewaltsamen und friedlichen, von der Demonstrationsfreiheit gedeckten Protesten zu unterscheiden: "Außerparlamentarische Oppositionen präsentierten sich … als Vertreterin des 'Allgemeinen Willens' (volonté générale), dessen Inhalt sie selbst definieren. Sie repräsentieren nicht die Mehrheit. Sie suggerieren, diese zu sein. Mag sein, dass sie zeitweise die Stimmung der Mehrheit, etwa gemessen an Umfragen, repräsentieren. Ihnen fehlt aber die Legalität und Legitimität der Wählerstimmen-Mehrheit. Die indirekte Demokratie basiert auf Regeln und ist - trotz ihrer Mängel - deshalb kalkulierbar und strukturell rational. Die direkte Demokratie kennt nur stimmungsdiktierte Vorgaben. Sie ist irrational, peitscht die Gefühle der Massen auf und ist daher nach innen und außen unkalkulierbar. Genau das haben die Gründer der westlichen, indirekten Demokratie vermeiden wollen, allen voran die Autoren der US-amerikanischen 'Federalist Papers' im späten 18. Jahrhundert."
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Europa

In der SZ ist Deniz Aykanats Verständnis für türkische Erdogan-Fans in Deutschland nach der aktuellen Wahl aufgebraucht: Man sollte ihnen "genauso entschlossen begegnen wie anderen, die ebenfalls nicht ganz so fest auf dem Boden der deutschen Demokratie stehen, AfD-Wählern, Querdenkern oder Verschwörungsanhängern. Dies heißt zum Beispiel, dass Politik und Gesellschaft nicht länger hinnehmen, wie Ankara seit Jahrzehnten Propaganda und Hetze über ein Netzwerk aus Ditib-Moscheen in Deutschland verbreitet. Imame sollten hier ausgebildet werden, Moscheen sollten vom deutschen Staat finanziert werden, nicht vom türkischen."

Im Guardian hat der Ökonom Jonathan Portes kein Problem mit den erhöhten Immigrationszahlen in Britannien, die den Spectator ins Grübeln brachten (unser Resümee). Eigentlich läuft alles prima, meint er, seit nicht mehr so viele unqualifizierte Arbeitskräfte aus der EU kommen: "In der Tat hat das neue Post-Brexit-Migrationssystem seine Hauptziele erreicht. Durch die Beendigung der Freizügigkeit hat es den Zustrom von relativ gering qualifizierten und schlechter bezahlten Arbeitskräften in einige Sektoren verringert. Aber durch die Liberalisierung der Migrationsströme aus dem Rest der Welt hat es die Zahl derer, die in den NHS, den Pflegesektor und in hochqualifizierte und hochbezahlte Positionen in der Informations- und Kommunikationstechnologie, im Finanzwesen und bei den professionellen Dienstleistungen kommen, deutlich erhöht. Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie die Gesamtbilanz aussehen wird - aber der Anstieg der Zuwanderung von Fachkräften hat nicht nur den Druck auf den NHS und die Sozialfürsorge gemildert, sondern auch das BIP pro Kopf erhöht, was der britischen Wirtschaft und den öffentlichen Finanzen zugute kommt. Und vor allem scheint die öffentliche Meinung sehr entspannt zu sein, was die zunehmende Zuwanderung angeht, wenn die wirtschaftlichen Argumente klar sind. Das sind nicht nur gute Nachrichten. Bislang deutet zumindest wenig darauf hin, dass die Beendigung der Freizügigkeit die Löhne in den am stärksten betroffenen Sektoren nach oben getrieben hat; tatsächlich sind die Löhne im Gastgewerbe im Vergleich zu anderen Sektoren gesunken."

Als Claudia Roth kürzlich auf der Frankfurter "Jewrovision" eine Rede halten wollte, wurde sie lautstark ausgebuht. "Nach bürgerlichem Komment hätte man nach dem Eklat um Claudia Roth vonseiten des Veranstalters eine Bekundung des Bedauerns über den Versuch erwartet, eine Rednerin am Reden zu hindern", meinte gestern Patrick Bahners in der FAZ. Möglicherweise reicht es jedoch vielen Juden in Deutschland langsam, nach antisemitischen Vorfällen mit "Begriffen wie 'Demokratie', 'Meinungs- und Kunstfreiheit' und, für Roth besonders wichtig, 'Buntheit' abgespeist" zu werden, meint hingegen heute Edo Reents in der FAZ. "Sie ist nicht allein schuld am jüdischen Unbehagen. Aber sie ist, unter dem verantwortlichen Personal, die Galionsfigur einer Einstellung, für die Vielfalt schon ein Wert an sich ist. So etwas geht, logischerweise, irgendwann zulasten der Urteilsfähigkeit in substanziell wirklich wichtigen Belangen, die keine Unklarheit dulden. Vor lauter Buntheit sieht man nicht mehr, was besser auszuschließen oder als falsches Denken wenigstens klar zu kennzeichnen wäre."
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Wissenschaft

Vor zwei Wochen vergriff sich Boris Palmer, nachdem er von einer Gruppe Studenten als Nazi beschimpft worden war, mit einem "Judenstern"-Vergleich und verfocht später noch ostentativ den Gebrauch des Worts "Neger" (unsere Resümees). Seitdem sieht sich Susanne Schröter, die Veranstalterin des Symposions, an dem Palmer teilnahm, Pressionen ausgesetzt. Der Frankfurter Universitätspräsident Enrico Schleiff hat sich bisher nicht vor die Professorin gestellt, konstatiert Thomas Thiel in der FAZ: "Eine öffentliche Verurteilung der Mobbingkampagne gegen die veranstaltende Ethnologie-Professorin Susanne Schröter hat sich das Präsidium bislang nicht abringen können. Sprachlos steht es vor der Tatsache, dass Besucher und Redner der Konferenz auf dem Frankfurter Campus über Stunden hinweg als Nazis und Rassisten beschimpft wurden. Schleiff will dazu erst eine 'sachorientierte Befassung' vornehmen."
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Geschichte

Die Schweizer Bundesregierung hat bekannt gegeben, dass in Bern ein Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und des Holocaust errichtet werden soll. Das erste dieser Art, das zudem grenzüberschreitend bis ins österreichische Vorarlberg konzipiert werden soll. "Warum erst jetzt?", fragt Catrin Kahlweit in der SZ: "Bereits im Sommer 1938, nach dem sogenannten Anschluss, begann die Schweiz die Grenzen abzuriegeln, im Sommer 1942 verschärften die Behörden die Einreisebestimmungen noch einmal drastisch - für Juden. Deserteure, entwichene Kriegsgefangene und andere Militärpersonen sowie politische Flüchtlinge seien, hieß es in einem entsprechenden Erlass, nicht zwingend zurückzuweisen. Aber: 'Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.' (…) Wie viele Flüchtlinge in jenen Jahren die Grenze im oder am Rheintal überwinden konnten, wie viele abgewiesen, festgesetzt, nach Überwindung der Grenze zurückgeschickt, getötet wurden, ist trotz intensiver Forschung nicht klar. Klar ist, dass auch in der Schweiz die antisemitische Hetze zunahm, eine 'Überfremdung und ganz besonders eine Verjudung' des Landes verhindert, 'jüdische Einflüsse und Machenschaften' unterbunden, 'ausländische Massenemigration' in die Schweiz gestoppt werden sollten."

Das von der polnischen PiS-Regierung vorgeschlagene "Holocaust-Gesetz" wurde nach Protesten zurückgezogen, antisemitische Vorfälle, Verleugnungen und Zensur sind dennoch an der Tagesordnung, schreibt der Publizist Martin Pollack in der NZZ mit Blick auf den Fall der Holocaust-Forscherin Barbara Engelking, die in einem Interview zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto kritisierte, dass die Mehrheit der Polen während der Verfolgung der Juden weggeschaut habe. Eine Hasskampagne folgte, ausgelöst von obersten Regierungsvertretern Polens, so Pollack weiter: "Der Versuch, die Hoheit über die Geschichtsdeutung zu erlangen und kritische Stimmen mundtot zu machen, erweist sich als wichtiges Instrument in dieser Auseinandersetzung, die zunehmend das Ausmaß eines veritablen Kulturkampfes anzunehmen droht. Dazu gehört das häufig verwendete Bild vom ständig an den Rand gedrängten Polen, das sich von den Knien erheben müsse, um die ihm zustehende führende Rolle in Europa einnehmen zu können. Anklänge daran fanden sich in der Aussage des Verteidigungsministers, Polen wolle in den nächsten zwei Jahren die stärkste Armee Europas aufbauen."
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Internet

Unter allen Krisen, die der amerikanische Politologe Ian Bremmer im ZeitOnline-Interview apokalyptisch ausmalt - unter anderem glaubt er, dass sich das Leben in Europa durch die Bedrohung durch Russland bald anfühlen wird wie in Südkorea - hält er KI doch für die größte geopolitische Bedrohung. Künstliche Intelligenz sei ein Mittel, um die Demokratie durch Desinformation zu zerstören, meint er. Und: "Es gibt zwei weitere große Gefahren. Die eine ist, dass viel mehr Akteure in der Lage sein werden, Waffen zu bauen. Es gibt derzeit vielleicht hundert Menschen auf der Welt, die ein Pockenvirus herstellen können. Diese Zahl wird exponentiell steigen. Mit KI können Schurkenstaaten, kriminelle Organisationen und Personen Computerviren und Biowaffen herstellen. Die zweite Gefahr ist, dass demnächst viele Menschen ihre Jobs durch KI verlieren werden. Anders als bei der Globalisierung werden viele dieser Leute aus der Mittelschicht und gut gebildet sein, und anders als bei früheren Strukturbrüchen wird es diesmal sehr viel schneller passieren. Das wird Länder sehr krisenanfällig machen."

Der EuGH hat das Recht auf Vergessenwerden eingeschränkt, berichtet Christian Rath in der taz. Oder besser: konkretisiert. "Die eigentliche Grundsatzentscheidung hat der EuGH bereits im Dezember 2022 getroffen. Danach hat bei unrichtigen Informationen das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen immer Vorrang und die Meinungs- und Informationsfreiheit muss zurückstehen. Dies gelte auch, wenn nur ein Teil der Informationen falsch ist, diese Informationen aber für den Gesamtartikel 'nicht unwesentlich' sind. Bei Fake News muss Google also immer den Link aus seiner Trefferliste zur betroffenen Person entfernen. Die Beweislast für die Unrichtigkeit der Informationen haben allerdings die Betroffenen ... Ist die Unrichtigkeit offensichtlich, muss Google den entsprechenden Text auslisten, so der EuGH. Wenn die Beweise aber nicht offensichtlich sind, muss Google nicht selbst recherchieren. Dann müssen die Betroffenen doch eine gerichtliche Klärung versuchen."
Archiv: Internet