9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht einmal als Foto

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2023. Wenn Erdogan bei den Wahlen in die Bredouille geriet, dann wegen seines Flüchtlingsdeals mit der EU, schreibt Bülent Mumay in seiner jüngsten FAZ-Kolumne. Außerdem geht es auch viel um China: Peter Sloterdijk fragt sich in der Rheinischen Post, wie man die Chinesen davon abbringen kann, vier Milliarden Tonnen Kohle pro Jahr zu verfeuern. Der Tagesspiegel zweifelt, ob die Chinesen zu künstlicher Intelligenz fähig sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.05.2023 finden Sie hier

Europa

Auf zehn Millionen schätzt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne vor der zweiten Runde der Wahlen die Zahl der Flüchtlinge in der Türkei. Erdogan geriet auch durch den Flüchtlingsdeal mit der EU in die Bredouille, erklärt er. Allerdings hat er den Machtapparat nach wie vor in festen Händen, wie sein Wahlkampfstil zeigt: "Der Wahlzettel für die Stichwahl, auf dem beide Kandidaten abgebildet sind, wurde in einem regimenahen Fernsehkanal ohne Kilicdaroglus Foto gezeigt. Der Herausforderer darf in den loyalen Medien also nicht einmal als Foto auf dem Wahlzettel auftreten. Die komplett aus Steuermitteln finanzierte Propagandaeinheit des Palastes verprasst unterdessen weiter Millionen Lira für Erdogan. Im April gab das Amt für Kommunikation 283 TL (umgerechnet rund 13 Millionen Euro) aus. Behörden, Autobahnen, Außenfronten von Flughäfen wurden mit gigantischen Erdogan-Plakaten überzogen. Die geringste Kritik wird mit Polizeigewalt oder dem Knüppel der Justiz unterdrückt."

Mit den moralischen Standards, die Merkels Migrationspolitik zugrunde lagen, lässt sich heute keine europäische Politik mehr machen, warnt Josef Kelnberger im Feuilleton der SZ und fordert einen notwendigen "Zynismus", sonst gewinnen die Rechten: "Mittlerweile tun Länder wie Belgien und die Niederlande ihre Überforderung kund, haben sich Schweden und Dänemark von einer migrationsfreundlichen Politik verabschiedet. In Italien regiert eine Postfaschistin, in Österreich führt die FPÖ die Wahlumfragen an, in Frankreich Marine Le Pen." Da hilft alles Beschwichtigen nichts, so Kelnberger: Innenministerin Nancy Faeser "muss vielmehr ausreichend Binnenstaaten der EU dazu bewegen, Italien und Griechenland anerkannte Asylbewerber abzunehmen. Die Hauptlast wird ohnehin Deutschland tragen müssen. Anders wird eine Einigung nicht zu haben sein. Und nein, nicht alle Staaten werden Asylbewerber aufnehmen, man kann sich auch freikaufen. So etwas nennt man 'freiwillige Solidarität' - ein Prinzip, das Viktor Orbán schon 2016 vorgeschlagen hat, wofür er damals große Empörung erntete. Sieben Jahre ist das her, sieben verlorene Jahre."

Auf ZeitOnline schildert die Politikwissenschaftlerin Lena Reiner am Beispiel von zwei jungen Frauen aus Afghanistan, was der derzeitige Aufnahmestopp für Afghanen bedeutet. Lina E., eine junge Afghanin hatte sich für das Bundesaufnahmeprogramm registriert und bekam eine Zusage, um nach Deutschland auszureisen. Aber: "Ihre Geschwister hatten keine gültigen Reisepässe und die Passämter waren unter Kontrolle der Taliban. Das bedeutet, dass sie zwar offiziell geöffnet sind und man online einen Termin beantragen kann. Aber sowohl bei der Terminvergabe, der Ausstellungsdauer und den Passgebühren herrscht Willkür. 'Obwohl die zuständigen Mitarbeiter des Programms von den Zuständen auf den von den Taliban kontrollierten Passämtern wussten, bestanden sie darauf, dass wir Pässe brauchen', sagt sie." Die Frauen mussten alles verkaufen für den Pass und dann verhängten die Deutschen einen Ausreisestopp.

Henry Kissinger wird übermorgen hundert und gibt im Gespräch mit Matthias Naß und Heinrich Wefing von der Zeit seine geopolitischen Weisheiten zu bedenken: "Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt. Der Krieg selbst und die Kriegführung sind höchst rücksichtslos, der Angriff muss zurückgeschlagen werden, und ich befürworte den Widerstand der Ukrainer und des Westens. Aber ich habe schon 2014 in einem Aufsatz ernste Zweifel an dem Vorhaben geäußert, die Ukraine einzuladen, der Nato beizutreten."
Archiv: Europa

Politik

Wer hat in Sachen KI die Nase vorn - China oder die USA, fragt Malte Lehming im Tagesspiegel. "Neun der zehn größten KI-Forschungseinrichtungen, gemessen an der Zahl der Veröffentlichungen, befinden sich in China. (…) Doch China hat zwei Nachteile. Da ist, erstens, die Sprache. Mehr als die Hälfte aller Webseiten sind auf Englisch, nur 1,5 Prozent auf Mandarin. Die im Internet verfügbare Datenmenge reflektiert folglich stark eine Art angelsächsische Weltanschauung. Die fähigsten KI-Experten zieht es daher immer noch eher ins Silicon Valley als nach Shenzhen, einer KI-Hochburg am Delta des Perlflusses. Da ist, zweitens, das politische System. In einer offenen Gesellschaft, mit Meinungsfreiheit und Pluralismus, können KI-Maschinen schneller lernen als in einer geschlossenen Gesellschaft mit einem Zensurapparat. Ernie, so heißt der Chatbot von Chinas führender Suchmaschine Baidu, wurde zwar mit englischsprachigen Informationen aus Wikipedia und Reddit gefüttert, die aber sind in China gesperrt."

Derweil wird die Lage für Künstler in China immer prekärer, schreibt Qin Mu im Tagesspiegel mit Blick auf den chinesischen Stand-up-Comedian Li Haoshi, gegen den nun die Sicherheitsbehörden ermitteln, weil er bei einem Live-Auftritt in Peking einen zweideutigen Witz über seine Hunde machte, der angeblich Xi Jinping und das chinesische Militär beleidigte: "Li und der Veranstalter Xiaoguo Culture Media entschuldigten sich umgehend, doch ihre Beschwichtigungsversuche konnten die Situation nicht retten. Seine Internetaccounts wurden gesperrt; unklar ist auch, wo er sich aufhält. Beobachter befürchten das Schlimmste und halten eine Festnahme für möglich. Die staatlich kontrollierten Propagandamedien kritisierten Li und Xiaoguo Culture Media in ihren Beiträgen scharf und richteten sogar einen Hashtag auf Weibo ein, der lautete: 'Die Volksbefreiungsarmee darf nicht beleidigt, sondern muss respektiert werden.' Die Pekinger Stadtverwaltung für Kultur und Tourismus verhängte eine Geldstrafe in Höhe von 13,35 Millionen RMB (umgerechnet 1,75 Millionen Euro) und verbot Xiaoguo auf unbestimmte Zeit alle weiteren Veranstaltungen in Peking. Dann zogen sämtliche Stellen und Institutionen in anderen chinesischen Großstädten nach."
Archiv: Politik

Ideen

Peter Sloterdijk beschäftigt sich in seinem neuen Buch "Die Reue des Prometheus - Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung" mit dem Energiehunger der Menschheit und also auch mit der Klimakatastrophe. Dabei kommt es, wenn wir den drohenden "Großbrand" eindämmen wollen, vor allem auf einen Faktor an, erklärt er im Gespräch mit Lothar Schröder von der Rheinischen Post: "Um eine Milliarde Chinesen halbwegs ruhig zu machen, ist eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die Wohlstandssteigerungen verspricht. Darum bewirkt das wahnhafte Programm der nachholenden Halbverwestlichung im Modus der Industrialisierung mit schwerindustriellen Mitteln, dass dort jährlich vier Milliarden Tonnen Kohle verbrannt werden - aufgrund eines angeblichen Rechts auf Umweltzerstörung durch den Spätankömmling. Daneben liegen die aktuellen deutschen Emissionen in kaum noch wahrnehmbaren Dimensionen. Das macht unsere eigenen so gut gemeinen Anstrengungen natürlich ein wenig lächerlich."

Außerdem: Bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war "Masse" ein zentraler Begriff in den gesellschaftspolitischen Debatten, schreibt Wolfgang Krischke in der Welt. Aber: "Mit dem Ausklingen der 68er-Bewegung gelangten neben der Masse auch die Massen aufs politische Abstellgleis. Die Öko- und die Friedensbewegung, die sich jetzt herausbildeten, mobilisierten zwar große Menschenmengen, aber die sahen sich nicht als Massen. Darin stimmten sie mit der soziologischen Bewegungsforschung überein, die sich seit dem Ende der Sechzigerjahre mit den unterschiedlichen Protestformen beschäftigte. Auch diese Wissenschaftler sahen in den Initiativen, Bündnissen, Aktionsgruppen und ihren Menschenansammlungen keine Massen, sondern rational handelnde Kollektive."
Archiv: Ideen

Geschichte

Andrea Böhm kommt in der Zeit auf  die eher unrühmliche Einigung der deutschen und der namibischen Regierungen zum Völkermord an den Herero und Nama zurück, die vor allem bei Nachfahren der Herero und Nama auf scharfe Ablehnung stößt. Die Bundesregierung legt in dem Text der Einigung Wert auf Formulierungen, die das Prinzip der "Intertemporalität" berücksichtigen, erläutert Böhm: "Demnach muss über Rechtsfragen nach den Normen und Gesetzen geurteilt werden, die in der jeweiligen Zeit gültig waren. Grundsätzlich ist das eine sinnvolle Regel. Was aber, wenn diese Normen und Gesetze rassistisch, menschenverachtend oder völkerrechtswidrig waren?" In anderen Kontexten, werde aber durchaus angenommen, "dass im Fall von 'Kernverbrechen' wie Völkermord oder Sklaverei spätere Entwicklungen des Rechts berücksichtigt werden müssen. Deutsche Gerichte sind dieser Auslegung beim Umgang mit Gräueltaten der NS-Zeit und Unrecht des DDR-Regimes wiederholt gefolgt. Nicht aber im Fall des Völkermords an den Ovaherero und Nama. Deutschland glaube offenbar bis heute, 'dass sich seine Gewalt nicht gegen Menschen gerichtet hat', sagt Kambanda Veii von der 'Ovaherero/Ovambanderu Genocide Foundation' (OGF), eine der namibischen Vorkämpferinnen für Aufarbeitung und Reparationen. In den Augen der deutschen Völkerrechtlerin Karina Theurer reproduziert die Bundesregierung mit ihrer Haltung 'den Rassismus, der damals die koloniale Gewalt rechtfertigen sollte.'"
Archiv: Geschichte

Medien

Die NZZ-Autoren Rewert Hoffer und Lucien Scherrer widmen Holger Friedrich, dem Verleger der Berliner Zeitung mit Stasi-Vergangenheit, ein ausführliches Porträt, in dem Friedrich selbst zu Wort kommt.  Vorwürfe gegen ihn findet er "slightly unfair", wie er immer wieder betont: "Mit seiner Übernahme sei ein prosperierendes, interessantes Blatt entstanden: Nicht länger verdorben durch 'westdeutschen Opportunismus', dafür mit viel mehr als bloßen 'Spurenelementen von ostdeutscher Renitenz'. Die Frage, was Holger Friedrich unter 'ostdeutscher Renitenz' versteht, wird nicht ganz klar. Er wirkt oft ähnlich widersprüchlich wie seine Zeitung. Die DDR jedenfalls will er im Gegensatz zu anderen Ost-Zeitungen wie der Jungen Welt auf keinen Fall zurück, 'Gott sei Dank' sei dieser Staat untergegangen, mitsamt dem 'ganzen Stasi-Scheiß'. Gleichzeitig lobt er Bücher, in denen die SED-Diktatur verharmlost wird, oder er schwärmt von Egon Krenz, dessen geschichtsklitternde Memoiren in der Berliner Zeitung ausgiebig gelobt wurden. Und auch wenn er den Westen 'total cool' findet, stört ihn die Selbstgerechtigkeit der Westdeutschen. Was die eigene Vergangenheit betrifft, sei man 'sehr viel sorgsamer mit sich umgegangen' als mit dem Osten, 'da hat man zumindest aus meiner Perspektive viel überkompensiert'."

Mit dem Verkauf von Vice und der Einstellung von BuzzFeed "deutet vieles darauf hin, dass die Ära der hochgepowerten digitalen Medienmarken vorbei ist", schreibt Christian Meier in der Welt: "Heißt nun was? Einen Weg zurück in eine analoge Medienwelt gibt es natürlich nicht. Die lange totgesagten Medienmarken könnten sich aber als beständiger erweisen als gedacht. Nicht nur die New York Times ist dafür ein Beispiel, die Ende 2022 etwa 8,5 Millionen Digitalabonnenten hatte. Einen anderen Weg geht gerade das Time Magazine, das sein Bezahlsystem wegräumt und wieder komplett auf Reichweite geht, also auf Werbeerlöse setzt. Was zeigt, dass es nie ein einziges Rezept für die Medienbranche gab, ihr Geschäft zu digitalisieren. Das auch in Deutschland teilweise blinde Vertrauen in Facebook und Co. hat sich als Fehler erwiesen."

Außerdem: Die Intendanten-Gehälter der Öffentlich-Rechtlichen hält der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm im FR-Gespräch mit Ursula Knapp zwar nicht für zu hoch, dennoch könne man über die Festlegung einer Höchstgrenze im Staatsvertrag nachdenken, meint er: "Ein rechtliches Hindernis besteht nicht, solange die Deckelung nicht die Erfüllung des Rundfunkauftrags gefährdet. Wenn es den Rundfunkgremien nicht gelingt, mit dem Problem fertig zu werden, müssen externe Lösungen gefunden werden."
Archiv: Medien