9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn der Verdacht ontologisiert wird

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2023. Einhundert Jahre nach ihrer Gründung ist die türkische Republik an ihr Ende gekommen, schreibt Yavuz Baydar in der SZ. Das Urteil gegen die Linksextremistin Lina E. löst in der taz Unbehagen aus - der Rechtsextremismus sei gefährlicher. Martin Doerry feiert in der Zeit das monumentale Editionsprojekt "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Im Tagesspiegel erklärt die italienische Philosophin Donatella di Cesare, wie Verschwörungstheorien in Demokratien entstehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2023 finden Sie hier

Europa

"Die ein Jahrhundert lang bestehende türkische Republik, die jahrzehntelang von einer Form des autoritären Säkularismus und einer vom Militär dominierten Führung geprägt war, ist vollständig an ihr Ende gekommen", schreibt der türkische Journalist Yavuz Baydar in der SZ: "Nun beginnt eine neue Ära mit einer ultra-zentralistischen Herrschaft unter der strategischen Doktrin der 'türkisch-islamischen Einheit', mit starken Zutaten einer sunnitisch-nationalistisch dominierten kulturellen Hegemonie." Einige bittere Erkenntnisse zieht Baydar aus der Wahl: Erdogan hat sich als" effizienter Autokrat erwiesen", die Abgeordneten werden künftig nicht mehr als ein "Abnickverein" sein - und: Es "werden sowohl auf die Medien als auch auf die akademische Welt noch härtere Zeiten zukommen. Wie bereits von Innenminister Süleyman Soylu angedeutet, werden die Kriterien, um Dissidenten und oppositionsnahe Journalisten als Verräter zu brandmarken, wohl eher großzügiger ausgelegt. Jene Akademiker, die als beseelte Cheerleader für den Oppositionsblock auftraten, könnten ebenfalls von einem rachsüchtigen Erdogan zur Bestrafung vorgesehen sein. Er kann verlangen, dass Privatuniversitäten, die sich im Besitz von Großkonzernen befinden, sie entlassen."

Anders als Putin ist Erdogan ein Nato-Partner, "wenn auch ein unangenehmer", kommentiert Nicolas Richter ebenfalls in der SZ. Konflikte müssen angesprochen werden, Gespräche über den EU-Beitritt sind derzeit sinnlos, aber: "Zugleich ist Europa überzeugt, die Türkei zu brauchen - als strategischen Partner in der Nato und als EU-finanzierten Aufnahmestaat für syrische Flüchtlinge. Etliche deutsche Politiker finden, Erdogan sei doch immerhin ein zuverlässiger Türsteher Europas. So klingt Doppelmoral: Man preist gern die Menschenrechte, reagiert aber hysterisch auf Zuwanderung und ist deswegen heimlich froh, wenn der Autokrat aus Ankara Migranten auf Abstand hält. Es ist nicht neu, dass der Westen Autoritäre und notfalls sogar Diktatoren stützt, solange sie 'Stabilität' garantieren. Aber die EU ist geradezu erpressbar geworden für Erdogan. Der weiß diesen Vorteil auch zu nutzen."
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Medien

Helmut Hartung liest für die FAZ eine Studie des Medienwissenschaftlers Janis Brinkmann über das öffentlich-rechtliche Jugendmedium Funk, das sich vor allem auf Youtube tummelt und immerhin mit 45 Millionen Euro jährlich finanziert wird. Richtig überzeugt scheint Brinkmann, der seine Studie für die Otto-Brenner-Stiftung verfasste, nicht zu sein: "Als häufigste Formen, stellt die Untersuchung fest, treten Personen- (Porträt-), Milieu- und Rollenspiel-Reportagen (Selbstversuche) auf; 95,7 Prozent der untersuchten Reportagen enthalten dazu - genre-untypisch - die explizite Meinung der Reporter vor der Kamera. Protagonisten (zusammen 54 Prozent) und Reporter (31,7 Prozent) sind die häufigsten Akteure: Während beispielsweise Experten oder Bürger nur am Rande vorkommen, ist für die meisten Beiträge eine Kombination aus Reporter und Protagonist charakteristisch... Andere Quellen, insbesondere nonpersonale wie Dokumente, würden dagegen deutlich seltener nachvollziehbar eingebunden."
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Stichwörter: Funk

Kulturpolitik

Hartmut Dorgerloh bleibt bis 2028 Generalintendant des Humboldt Forums, sein Vertrag wurde um fünf weitere Jahre verlängert, meldet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel und fragt: "Wollte die Kulturstaatsministerin nicht die Strukturen im hochkomplizierten Schlosskomplex verändern?" Offiziell heißt es: "Die Vielstimmigkeit sei bereits in der Zusammenarbeit der Partner angelegt, heißt es in der Mitteilung zu Dorgerlohs weiterem Engagement."
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Gesellschaft

Recht unbehaglich ist taz-Autor Konrad Litschko in der taz mit dem Urteil gegen die militant Linksradikale Lina E.: fünf Jahre Gefängnis: "Der Eindruck ist, dass die Justiz auf rechtsextremer Seite keinen derartigen Verfolgungseifer an den Tag legt" (er lässt sich etwa in der neulich empfohlenen RBB-Doku über Rechtsextreme in Südbrandenburg bestätigen, die selbst nach brutalsten Gewalttaten nur zu matten Bewährungsstrafen verurteilt wurden). Lina E. wird vorgeworfen, Rechtsextreme in vermummten Aktionen krankenhausreif geschlagen zu haben. Dennoch, so Litschko, wurde in dem Prozess kaum thematisiert, das rechtsextreme Gewalt immer "noch die größere Gefahr ist, gerade in Ostdeutschland und speziell in Eisenach. Nicht weniger als 219 Todesopfer durch rechtsextreme Täter seit dem Wendejahr 1990 zählt die Amadeu Antonio Stiftung." Hier Litschkos ausführlicher Bericht.

Wie genau die Selbstjustiz Lina E.'s und ihrer Hammerbande funktionierte, schildert Stefan Locke in der FAZ: "Bei den Angriffen waren 15 Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Am schlimmsten traf es einen Kanalarbeiter in Leipzig, der bei der Arbeit überfallen wurde, dabei einen mehrfachen Schädelbruch erlitt, bis heute eine Metallplatte im Gesicht tragen muss, weil er sonst erblinden könnte, der seine Arbeit verlor und aus Angst den Wohnort gewechselt hat. Die Täter hatten ihn spontan ausgewählt, weil er eine Mütze mit einem in der rechtsextremen Szene beliebten Kampfsportlogo trug." Mehr in diesem Twitter-Thread.
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Geschichte

Martin Doerry, ehemals stellvertretender Chefredakteur des Spiegel, lässt für die Zeit das 16-bändige Editionsprojekt "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945" Revue passieren, das jetzt abgeschlossen ist. Das monumentale Projekt wurde unter anderem von Götz Aly mit betreut, der Perlentaucher hat im Lauf der Jahre aus einigen Bänden "vorgeblättert". "Das gewählte Verfahren, die streng chronologisch geordnete Präsentation der Dokumente, verzichtet auf eine Bewertung des Materials", erläutert Doerry. "Die Herausgeber aller Bände beschränken sich jeweils auf eine längere Einleitung und eine beeindruckende Zahl von Anmerkungen zu den historischen Texten. Und so liest sich die Edition wie ein gigantisches Tagebuch voller Hass und Brutalität, Zerstörungswahn und ideologischem Fanatismus, aber auch voller Ängste und enttäuschter Hoffnungen. Jede Leserin, jeder Leser wird hier in ein Wechselbad der Emotionen geschickt, wird Zeuge von Niedertracht und Hilflosigkeit, Verachtung und Verzweiflung. Wer sich darauf einlässt, größere Teile der Edition am Stück zu lesen, wird unweigerlich bedrückt und belastet." Allen Rechten und Linken, die die Erinnerung an den Holocaust heute als leeres Ritual verspotten, empfiehlt Doerry diese Lektüre.

In der NZZ blickt der Sozialwissenschaftler Matthias Messmer zurück auf die Anfänge des Konflikts zwischen China und Taiwan: "Wie bei jedem Konflikt begann auch dieser im Kleinen: Mao Zedong, ein Bauernsohn und Kommunist, hasste Chiang Kai-shek, den Nachfolger des modernen Staatsgründers Sun Yat-sen und Führer der chinesischen Nationalpartei (Kuomintang), aus tiefstem Herzen. Und umgekehrt. Der offene Bürgerkrieg in den vierziger Jahren war die logische Folge. In diesem siegte 1949 bekanntlich Mao, und Chiang musste sich mit seinen Truppen wohl oder übel - aber bis zu seinem Tod 1975 stur an der Vision von der Rückeroberung des Festlands festhaltend - nach Taiwan zurückziehen. Wohlgemerkt auf eine Insel, die bis kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts nur eine sehr geringe Wertschätzung durch die Kaiserdynastie der Mandschu erfahren hatte - und erst nach der fünfzigjährigen Kolonialherrschaft der Japaner (1895-1945) von China als begehrenswertes Territorium entdeckt wurde. Bis zu jenem Zeitpunkt war Taiwan lediglich für Han-Chinesen aus den südlichen Provinzen Fujian und Guangdong (meist Hakka- oder Hoklo-Abkömmlinge) von Interesse. Diese hofften, auf der ursprünglich von austronesischen Ureinwohnern bewohnten Insel ein besseres Leben als in ihrer eigenen Heimat zu haben."

Im mit fünfzehn Minuten Lesezeit angegebenen Welt-Gespräch mit Jan Grossarth erklärt der Historiker Ewald Frie, dessen aktuelles Buch "Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland" für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert ist, wann die bäuerliche Zeit in Deutschland zu Ende ging: "Die Brüche begannen schon im 19. Jahrhundert mit der Verstädterung und Industrialisierung. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg löst sich die bäuerliche Sozialwelt auf: Der Bullenball im November, die monatlichen Zuchtviehmärkte, die Heiratsstrategien: Bauernsöhne heiraten Bauerntöchter, um die Zukunft des Hofes zu sichern. (…) Die 1950er Jahren wirken im Rückblick wie ein letztes Aufblühen, ein 'Indian Summer' der alten agrarischen Epoche. Aber all das fällt in den 1960er Jahren auseinander. (…) Das Wirtschaftswunder bringt neue, attraktivere Betätigungsmöglichkeiten. Vor allem die kleineren Bauern entscheiden sich für andere Berufe. Um einen Lebensstandard zu halten, der der außerbäuerlichen Welt vergleichbar ist, wird immer mehr Land, werden immer mehr Tiere benötigt."
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Ideen

In ihrem aktuellen Essay "Das Komplott an der Macht" versucht die italienische Philosophin Donatella di Cesare Verschwörungstheorien nicht als Ergebnis von Irrationalität abzutun, sondern den Komplottismus als Zustand von Staat und Gesellschaft zu betrachten, "in dem der Glaube an Verschwörung allgegenwärtig ist", wie sie im Tsp-Gespräch mit Oliver Geyer erklärt. Viele Menschen fragen sich: An wen soll ich mich wenden, meint sie: "Rom verweist einen in vielen Punkten an Brüssel, Brüssel verweist auf größere globale Zusammenhänge und Zwänge. Zugleich wirkt sich die reale Macht konkret auf das Leben der Menschen aus. Sie kriegen täglich eine Ökonomie mit empörender Ungleichheit zu spüren. Doch wer die Verhältnisse ändern will, hört: Es gibt keine Alternative. Daher fühlen sich die Leute desorientiert und sehen keinen Fortschritt mehr. Sie empfinden die Demokratie als eine Täuschung. Aus dieser Ohnmacht und Entpolitisierung entsteht ein Komplottismus, der ständig fragt, wer im Hintergrund die Fäden zieht und Vorstellungen von einem 'Deep State' und einer 'Neuen Weltordnung' entwickelt." Dabei sei "Verdacht ist unentbehrlich für die Demokratie. Bürger müssen kritisch sein. Etwas anderes ist es, wenn der Verdacht ontologisiert wird, also unmittelbar als Tatsache betrachtet wird. Dann wird das Verdächtigen zum Selbstzweck entpolitisierter Milieus. Wenn man die Menschen dafür nur verurteilt und stigmatisiert, wird sich die Spaltung immer weiter vertiefen."
Archiv: Ideen