9punkt - Die Debattenrundschau

Charterflug nach Astana

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2023. Trotz der Verwüstungen nach den Angriffen auf den Staudamm von Kachowka fürchtet die SZ ein Nachlassen der Solidarität mit der Ukraine. In der NZZ zieht Sonja Margolina eine Bilanz des Exodus aus Russland: 1,3 Millionen Menschen sind gegangen - und hoffen, sie seien "Relokanten". Berlins neuer Kultursenator Joe Chialo möchte in der Postkolonialismus-Debatte den Blick nach vorne wenden, sagt er dem Tagesspiegel. Golem.de und heise.de melden: Google Street View macht erstmals seit 13 Jahren neue Bilder in Deutschland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.06.2023 finden Sie hier

Europa

Für die SZ hat sich Oxana Matiychuk bei Freunden erkundigt, die in der Nähe des gesprengten Staudamms leben: "Zu Mittag bin ich bei Freunden aus dem besetzten Wassyliwka in der Region Saporischschja eingeladen, die wieder in Tscherniwzi sind. Saporischschja liegt oberhalb des Staudamms. 'Wir hören von unseren Freunden in Saporischschja, dass der Wasserpegel schnell sinkt', sagt M., 'Das Wasser soll bereits zehn Meter vom Ufer zurückgewichen sein. Das AKW muss wohl komplett stillgelegt werden. Es bedeutet für viele Orte im Süden einen Trinkwassermangel, Dürre und eine völlige Zerstörung der natürlichen Ökosysteme.' Und es bedeutet ein Massensterben von Tieren, weil nicht alle in Sicherheit gebracht werden können."

"Die Täter - und man muss hier mit Verbrechenskategorien sprechen! - haben in Kachowka ein uraltes Tabu der Kriegsführung gebrochen", kommentiert Nikolaus Bernau im Feuilleton des Tagesspiegels: "Es gilt seit dem Bau der ersten Stauanlagen in Mesopotamien, China oder Ägypten, offenbar als Ausweitung des strikten Berührungs-, Verdreckungs- und Zerstörungstabus, das die Förderung und den Gebrauch des lebenswichtigen Guts Wasser beherrscht. Selbst im Mittelalter wurden zwar Mühlen abgebrannt, die aufgestauten Mühlteiche und -kanäle aber nach allem gewinnbaren Überblick meistens in Ruhe gelassen. Dass die britische Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg in einem berüchtigten Einsatz die Ruhr-Talsperren bombardierte und damit eine Talflut auslöste, wird heute selbst in Großbritannien als Kriegsverbrechen betrachtet."

"Angesichts der fast biblischen Szenen von verwüsteten Leben, Städten, Feldern aus Cherson bleibt die Frage, ob dem Bilder-Zauberer Selenski noch einmal eine ähnliche Solidarisierungswelle in der westlichen Öffentlichkeit gelingt wie im ersten Kriegsjahr", kommentiert Sonja Zekri ebenfalls in der SZ: "Danach sieht es nicht aus. Er sei schockiert über die Untätigkeit der UN und des Internationalen Roten Kreuzes, hatte Selenski nach dem Dammbruch gesagt; kurz darauf forderten junge Ukrainerinnen vor dem UN-Büro in Kiew den Rauswurf des 'Terror-Staates' Russland aus der Organisation. Und während Deutschland sich für die europäische Sicherheit mit Waffenlieferungen in präzedenzloser Höhe engagiert, drehen sich doch die hingebungsvollsten Debatten um Heizungen, Klimakleber, Rammstein."

Die Repression in Russland wird immer grausiger. Friedrich Schmidt erzählt in der FAZ von mehreren Fällen. Es reicht ein Plakat hochzuhalten, um mehrere Jahre im Lager zu landen. Krimtataren werden unter dem Vorwand des islamistischen Terrorismus ins Gefängnis gesteckte. Alexej Nawalny drohen weitere Jahrzehnte Haft. "Schon vorher, am kommenden Mittwoch, soll ein Gericht in Ufa das Urteil gegen Lilija Tschanyschewa verkünden, Nawalnys frühere Vertreterin in der Teilrepublik Baschkortostan. Sie sagte in ihrem Schlusswort, Präsident Wladimir Putin stehe für 'Korruption, niedrige Löhne und Renten, eine schrumpfende Wirtschaft und steigende Preise. Putin ist Krieg!' Ihr drohen zwölf Jahre Haft wegen 'Extremismus'."

Einen solchen Braindrain wie im Kontext des Ukraine-Kriegs hat Russland noch nie erlebt, schreibt Sonja Margolina in einer Bestandsaufnahme der jüngsten russischen Emigration für die NZZ. Auf 1,3 Millionen schätzt sie die Zahl der Russen, die ihr Land verlassen haben, gern in die klassischen Auswanderungsländer USA, Israel und Deutschland, aber zur Not auch nach Georgien oder Kasachstan. Noch verstehen sich viele als "Relokanten", also Emigranten auf Abruf. Es sind natürlich besonders die Eliten, die abhauen: "Das Beispiel von 250 führenden Medizinern, die ihrer Einberufung in die Armee entgehen wollten und die eine Woche nach der Verkündung der Teilmobilisierung einen Charterflug nach Astana buchten, spricht Bände über den Aderlass in der Elite. Dabei ist Kasachstan für Klinikleiter und Chefärzte - die Crème de la Crème der russischen Medizin - keineswegs Endstation. Sie werden sich den Tausenden von ausgewanderten Medizinern beigesellen, die ihren Beruf schon länger in Israel, in den USA oder in Deutschland ausüben."

Vor einigen Wochen verteidigte Josef Kelnberger in der SZ den "Zynismus" der europäischen Migrationspolitik - vor allem mit Blick auf das Erstarken der Rechten in Europa. (Unser Resümee) Heute legt er ebenda nochmal nach: "Angesichts der wieder stark gestiegenen Flüchtlingszahlen ist es höchste Zeit, sich die Hände schmutzig zu machen", schreibt er: "Derzeit fühlen sich die Staaten an den Außengrenzen im Stich gelassen; was stimmt. Sie schicken die Mehrzahl der Migranten einfach weiter, was wiederum Länder wie Deutschland oder die Niederlande empört. In einer idealen Welt würden Länder wie Italien und Griechenland alle Asylverfahren bearbeiten, wie es ihre europäische Verantwortung ist - im Gegenzug würden die anderen sich solidarisch zeigen, indem sie ihnen Asylbewerber abnehmen. Weil die EU aber keine ideale Welt ist, sollen nun sowohl Verantwortung als auch Solidarität 'flexibel' werden. So kommt es dazu, dass Asylbewerber mit einem Preis versehen werden sollen. Rund 20 000 Euro müsste ein Staat für jeden Flüchtling zahlen, den er ablehnt, obwohl er verpflichtet wäre, ihn aufzunehmen."

Brandenburgs Verfassungsschutzchef Jörg Müller erklärt im Interview mit der FAZ, was eine Einstufung der AfD im Bundesland als extremistisch bedeutet: "Die Bewertung als gesichert extremistische Bestrebung führt dazu, dass die Hürden für den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln sinken." Gegenüber Beamten kündigt er einen "Verfassungstreue-Check" an: "Verfassungstreue bedeutet mehr als Neutralität, nämlich bewusstes und aktives Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Mitglieder einer extremistischen Gruppierung können das nicht von sich behaupten. Sie können deshalb nicht Soldaten, Polizisten, Justizvollzugsbeamte oder Lehrer werden. Das setzt allerdings voraus, dass die Einstellungsbehörde weiß, dass ein Bewerber Mitglied ist."

Ach, und nur eine Kleinigkeit: Der Spatenstich fürs Kanzleramt fällt aus, meldet turi2 unter Bezug auf Gabor Steingarts Newsletter The Pioneer. Dabei handelt es sich immerhin um eine Verdoppelung des Kanzleramt-Volumens, die mindestens 777 Millionen Euro kosten wird. Termingründe werden genannt.
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Kulturpolitik

"Wir drucken hier E-Mails aus und dann bearbeiten wir sie. Und dann kommen sie in eine Ablage. Das finde ich schon … verblüffend", bekennt Joe Chialo nach seinen ersten Arbeitstagen als neuer Senator für "Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt" im Tsp-Gespräch mit Rüdiger Schaper und Anna Thewalt, die ihn auch zu Sparplänen, Personalfragen und zur aktuellen Restitutionsdebatte befragen: "Beutekunst muss zurückgegeben werden. Es steht uns auch nicht zu, Vorschriften zu machen, was der rechtmäßige Besitzer dann damit tut. Wir können nicht mit erhobenem Zeigefinger in Richtung Afrika kommunizieren. Ich war im Februar in Tansania und habe den ehemaligen Sitz der deutschen Kolonialherrschaft besucht, und da war der Baum, wo die Delinquenten damals aufgehängt wurden. Ich fragte Studenten, wie die ganze Debatte rund um die Aufarbeitung von Kolonialismus und Erinnerungsorte auf sie wirkt. Dabei habe ich gespürt, dass viele Menschen sich neben der Aufarbeitung auch den Blick nach vorne wünschen. Wie sollen die Wunden heilen, wenn wir immer nur zurückschauen?"

Für die SZ haben Peter Laudenbach und Jan Heidtmann ebenfalls ein großes Gespräch mit Chialo geführt, in dem sie ihn unter anderem zur Barenboim-Nachfolge befragen. Einen Namen will Chialo nicht verraten: "Die Staatsoper hat ihre Vorstellungen vom Anforderungsprofil ihres Chefdirigenten, das Vorschlagsrecht liegt bei der Intendantin des Hauses. Die Kriterien sind klar, finde ich: Exzellenz, Musikalität, aber zum Beispiel auch gute Menschenführung. Es muss natürlich ein Name von Gewicht sein."

Außerdem: Sandra Kegel schildert in der FAZ das Hickhack um eine Renovierung und Neugestaltung des Goethe-Hauses in Weimar.
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Überwachung

Seit ziemlich genau zehn Jahren muss Edward Snowden bei Wladimir Putin ausharren. Das Wesen von Überwachung hat sich seit seinen Enthüllungen von Grund auf verändert, schreibt Patrick Beuth beim Spiegel: "Der Überwachungstrend geht weg vom unterschiedslosen Mitschneiden riesiger Datenströme (also der Suche von Nadeln in digitalen Heuhaufen) und hin zum Kompromittieren einzelner Geräte von Verdächtigen und deren Kontakten (also gezielteren Nadelstichen). Der große Vorteil: Wer Smartphones oder Computer heimlich kontrolliert, kann Kommunikation auch dann mitlesen, wenn sie über verschlüsselte Kanäle läuft."

"Nach 13 Jahren aktualisiert Google die Straßenfotos für Street View", berichtet Daniel Ziegener bei golem.de unter Bezug auf eien Blogbeitrag von Google. Tatsächlich hat Google das Bildmaterial in den letzten Jahren kaum aktualisiert, weil es in Deutschland im Jahr 2010 Hunderttausende Einsprüche gegen die Abbildung von Adressen gegeben hatte. Nun sind die Autos wieder unterwegs: "Damit einher gehe auch die Entfernung des bisherigen Bildmaterials, erklärte das Unternehmen: 'Vor der Veröffentlichung der neuen Street View-Bilder werden wir die mehr als 13 Jahre alten Street View-Bilder inklusive der Unkenntlichmachungen entfernen.' Der Rückkehr gingen längere Verhandlungen mit Datenschützern voraus. Man befinde sich in enger Abstimmung mit dem Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, erklärte Google." Gesichter und Autokennzeichen werden ohnehin unkenntlich gemacht, erläutert Daniel Herbig bei heise.de.
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Ideen

Im  Juni jährt sich der 300. Geburtstag von Adam Smith. Mit der Staatsfeindlichkeit des Neoliberalismus, der den Staat auf Legislative, Exekutive und Landesverteidigung beschränken will, habe Smith nichts am Hut, erklärt Smith-Biograf Gerhard Streminger im Gespräch mit hpd.de: "Nach Smith hat der Staat darüber hinaus weitere zentrale Aufgaben zu erfüllen, wovon einige der wichtigsten erwähnt sind: Errichtung einer volkswirtschaftlich notwendigen - aber betriebswirtschaftlich unprofitablen - Infrastruktur; Aufbau eines allgemeinen Bildungssystems, um die negativen Folgen der Arbeitsteilung zu mildern; die Sicherung des Marktes durch Verhinderung von Kartellbildungen sowie eine gerechte Besteuerung aller Marktteilnehmer, wobei Reiche kräftiger zur Kasse gebeten werden sollen als andere."
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Stichwörter: Smith, Adam