9punkt - Die Debattenrundschau
Statt der Städte nur Staub und Ruinen
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Immerhin: am Bebelplatz gab es gestern Kerzen.
Am Bebelplatz in Berlin, wo Nazis einst Bücher verbrannten, trauern heute Juden über ihre Familienangehörigen & Freunde in Israel, die von den Hamas-Terroristen ermordet oder nach Gaza verschleppt wurden. Mögen die über 200 Gefangenen alle gesund zu ihren Familien zurück kommen! pic.twitter.com/pxHXaSZJF3
- Anna Staroselski (@AStaroselski) October 22, 2023
Charlotte Wiedemann, Autorin des Buchs "Den Schmerz der anderen denken", denkt den Schmerz der andern so:
Mahnwache für die Entführten auf dem Bebelplatz in Berlin. "Bring them home" - ich hoffe, die israelische Regierung hört die Forderung. pic.twitter.com/umBCHEPudD
- Charlotte Wiedemann (@chawichawi) October 22, 2023
Vor dem Brandenburger Tor fand nun die erste große Solidaritätskundgebung für Israel statt, bei der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach. Imanuel Marcus berichtet bei der Jüdischen Allgemeinen. "Israelhass, 'der sich auf unseren Straßen entlädt', dürfe nicht geduldet werden, erklärte Steinmeier. 'Von niemandem!' Die Demokratie in Deutschland unterscheide nicht nach Erfahrung, Herkunft und Religion. 'Jeder, der hier lebt, muss Auschwitz kennen und die Verantwortung begreifen, die daraus für unser Land erwächst.' Der Schutz jüdischen Lebens in der Bundesrepublik sei Staatsaufgabe, aber auch Bürgerpflicht, so der Bundespräsident."Wenig später traf sich am Alexanderplatz die islamistische Sekte Hizb ut Tahrir :
Fördern Sie hier ein neue muslimische Weltordnung? grade am Alexanderplatz #Israel #Hamas pic.twitter.com/sCaYbJwvuU
- Iman Sefati (@ISefati) October 22, 2023
Über Paris lesen wir Folgendes:
Der Führer der französischen Linken unterstellt der jüdischstämmigen Chefin der Nationalversammlung, sie "kampiere" in Tel Aviv, um ein "Massaker zu unterstützen". Aus dem "peuple Français" bürgert er sie aus. Lupenreiner, perfider #Antisemitismus. https://t.co/R4XTyHZxb2
- Joerg Lau (@joerglau) October 22, 2023
"Die größte Demonstration in Frankreich zur Solidarität mit Palästina seit Beginn des Konflikts verläuft in Paris friedlich", berichten Christophe Ayad et Richard Schittly in Le Monde erleichtert - organisiert wurde die Demo von der Partei des Linkspopulisten Mélenchon (siehe Tweet oben). Gleichzeitig kam es in Paris zu einem Brandanschlag auf die Wohnung eines jüdischen Rentner-Ehepaars.
PARIS: Anti-Semites targeted an 80-year-old Jewish couple, setting on fire the entrance of their house during the night.
- Hananya Naftali (@HananyaNaftali) October 22, 2023
Jewish people are starting to remove Mezuzahs and other Jewish symbols. They are not safe in Europe. Please don't be indifferent 💔 #Antisemitism pic.twitter.com/XACeNEIAwW
Aus Amsterdam ist diese Szene überliefert:
Ik wilde het met eigen ogen zien. Het is voor mij volstrekt onbegrijpelijk dat dit zich midden in Amsterdam kan afspelen. Dit is propaganda voor islamisme pur sang. pic.twitter.com/SFrpQd3CId
- Elise Steilberg (@EliseSteilberg) October 22, 2023
Und dies ist Stockholm:
Mitten in #Stockholm fordert eine gröhlende Menschenmenge die Vernichtung Israels.
- Olof Brunninge (@Obg1887) October 22, 2023
cred: @drdanielschatz pic.twitter.com/amSGtf8tsC
taz-Autor Klaus Hillenbrand begrüßt die Kundgebung am Brandenburger Tor und hat doch Kritik, denn sie war "nicht von der Zivilgesellschaft geprägt, deren Mattigkeit in dieser Angelegenheit mehr als bedenklich wirkt... Es ist nicht Aufgabe eines Bundespräsidenten, auf einer Veranstaltung der Zivilgesellschaft zu sprechen. So entsteht der Eindruck, als sei eine Demonstration von staatlichen Akteuren gekapert worden. Das hat mehr geschadet als genutzt, denn es weckt Zweifel, ob es wirklich die Zivilgesellschaft in Deutschland ist, die ihre Solidarität ausdrückt."In London demonstrierten am Wochenende gar 100.000 Menschen für den Gaza-Streifen. Währenddessen fühlen sich die Juden in Großbritannienen nicht mehr sicher, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz: "Laut der Organisation CST, die Sicherheitsvorkehrungen jüdischer Einrichtungen koordiniert, ist die Zahl der Angriffe auf jüdische Menschen in der Zeit zwischen dem 7. und 16. Oktober um 581 Prozent höher als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Zu den gemeldeten Fällen gehörten in dem Zeitraum 15 gewalttätige Angriffe, 14 Zerstörungen oder Schändungen jüdischen Eigentums und 46 direkte Drohungen, wie Aufrufe zur Ermordung von Jüdinnen und Juden. Die Londoner Polizei verbuchte zwischen dem 1. und 18. Oktober sogar einen 1350-prozentigen Anstieg an antisemitischen Vorfällen im Vergleich zum Vorjahr."
Natürlich musste sich auch noch Greta Thunberg mit den Palästinensern solidarisieren, stöhnt Philipp Bovermann in der SZ. Zu dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten hatte die Ikone der "Klimagerechtigkeitsbewegung" nichts zu sagen. "Und nun: #FreePalestine." Bovermann versucht sich zu erklären, wie sich der Antisemitismus so ins linke Denken fräsen konnte. Vielleicht liegt es daran, dass ihr ein konkretes materielles Anliegen fehlt, "etwa: mehr Lohn für alle. Linke Anliegen treten deshalb immer häufiger als Bündel auf. Andere Formen der Unterdrückung und Ausbeutung als die jeweils adressierten hat angeblich mitzureflektieren, wer wirklich die Zusammenhänge begreifen will: Wie gegen Rassismus kämpfen, ohne neokoloniale Praktiken in den Blick zu nehmen? Und wurzeln die nicht wiederum in patriarchalen Überlegenheitsfantasien, ebenso wie der kapitalistische Extraktivismus? ... 'Intersektionalität' heißt das böse Zauberwort: Alles hängt mit allem zusammen. Das ist dann von einem bestimmten Punkt an exakt die trübe Brühe, die nach einem etwas leichter zu fassenden Schuldigen verlangt. Es ist wieder, natürlich: der Jude."
Reinhard Müller kommentiert in der FAZ die pro-palästinensischen Demos in deutschen Städten: "Wenn in der Stunde des Massakers und der Trauer um die Opfer Terroristen gefeiert werden, so ist das ein unglaubliches Zeichen von Verrohung und womöglich Vorbote für weitere Gewalt in unseren Straßen. Dem muss der deutsche Staat konsequent entgegentreten. Auch die Unterstützung von Terror, die Verherrlichung von Morden und der Aufruf zu Gewalt sind strafbar. Zudem würde Untätigkeit ein fatales Signal senden. Die Straße würde frei gemacht, der Rechtsstaat hätte sich aufgegeben. Dabei ist klar, dass jederzeit für die Rechte des palästinensischen Volkes demonstriert werden darf." In der taz wendet sich dagegen eine Gruppe in Berlin lebender jüdischer Künstler gegen Verbote von pro-palästinensischen Demos.
Antiisraelische Demonstrationen sind nicht "pro-palästinensisch", sondern einfach nur "pro Hamas", erinnert Alan Posener in der Welt und fordert mehr Achtsamkeit beim Sprachgebrauch. "'Diese Leute sind nicht pro-palästinensisch, sie sind pro-Hamas', sagte mir eine palästinensische Freundin; 'und wenn sie für diese Truppe demonstrieren, die seit 2007 die Palästinenser in Gaza unterdrückt, dann sind sie anti-palästinensisch'. Recht hat sie. Wir würden eine Demonstration von Neonazis auch nicht als 'pro-deutsch' bezeichnen, und wenn sie noch so lauthals die Befreiung Deutschlands vom anglo-amerikanischen und jüdisch-kapitalistischen Joch forderten."
Die Hamas steht in direkter Traditionslinie der Muslimbrüder und des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini - das ist der "Kontext" den die Kontextualisierer meist verschweigen und auf den der Politologe Joachim Krause heute in der FAZ hinweist: "Amin al-Husseini war ein unbelehrbarer Antisemit, und die Muslimbrüder waren es auch. Ihre Argumente bezogen sie in den Dreißiger- und Vierzigerjahren aus dem Dritten Reich. Von dort erhielten sie auch finanzielle und materielle Unterstützung, um die unsäglichen antijüdischen Parolen der Nazis in der arabischen Welt zu verbreiten. Die Muslimbrüder organisierten Hasskampagnen gegen jüdische Kaufleute und lancierten Horrormeldungen über jüdische Verschwörungen, die den Parolen der Nazis abgeschaut waren."
Wann wird Kritik an Israel antisemitisch, möchte Spon von der Politologin Nicole Deitelhoff wissen. Ihre Antwort: "Schon der Umstand, dass der Begriff 'Israelkritik' existiert, zeigt, dass es hier ein Problem gibt. Oder haben Sie schon mal von Frankreichkritik gehört? Kritik an konkreter Politik, wie zum Beispiel am Abbau der Rechtsstaatlichkeit unter der Regierung Netanyahu, ist legitim. Äußerungen, die den Staat als solchen infrage stellen, sind es dagegen nicht, oder gar solche, die Israel mit Nazideutschland gleichsetzen." Dass sich gerade Kulturschaffende so gern für die Palästinenser einsetzen, kann sie jedoch verstehen: "Macht anzustreben oder auszuüben und sich gleichzeitig als Underdog zu vermarkten, das gefällt doch vielen einflussreichen Menschen. Die Attitüde des Unangepassten hat eine enorme Außenwirkung. Das weiß Donald Trump schon lange. Und das wissen auch in der Kulturbranche viele."
In der NZZ sieht Ulrich Schmid eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen Putin und der Hamas: "Putin und die jihadistischen Araber hassen den Westen aus demselben Grund: Sie spüren, wie hoffnungslos unterlegen sie sind. Liberale Demokratien lösen nicht nur politische Probleme besser, sie sind vor allem erfolgreich. Das schreckt Despoten. ... Die Hamas lässt nicht wählen. Rebellionen hat sie grausam niedergeschlagen. Sie kujoniert ihre Untertanen, sie will herrschen. Sie hasst die Freiheit. Dass beide Angreifer, Palästinenser wie Russen, sich nicht als Täter sehen, rundet das Bild ab. Ein Opfernarrativ ist für expansive Staaten unerlässlich. Es eint die Untertanen, es legitimiert die Despotie im Innern und die Aggression gegen außen. 'Der Russe ist nun wie der Jude in Berlin 1940', singt die Band 'Leningrad', sie meint es ernst."