9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht gelockt, sondern gezwungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2024. In der FAZ lehrt Herta Müller die Pro-Palästina-Demonstranten eine Redewendung aus dem Iran: Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen. In der NZZ fragt die indische Politikwissenschaftlerin Manali Kumar: Wie demokratisch ist Indien noch? Die FAZ sucht eine Religion namens Hinduismus und findet sie nicht. Die SZ beobachtet den Personenkult um Narendra Modi. Die taz warnt: Die Anti-Klimabewegung könnte das neue Europaparlament aggressiv dominieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2024 finden Sie hier

Ideen

"Ich habe über dreißig Jahre in einer Diktatur gelebt. Und als ich nach Westeuropa kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Demokratie jemals so infrage gestellt werden könnte. Ich dachte, dass man in der Diktatur planmäßig verblödet wird", in der Demokratie hingegen das Denken lernt, erklärt Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in einem Essay, den sie vor gut einer Woche auf dem October 7 Forum in Stockholm vortrug und den die FAZ heute abdruckt. Angesichts der vielen propalästinensischen Studentenproteste und Hetze in den sozialen Medien kann sie das kaum noch glauben. Wie kann man die Kriegsbesessenheit der Hamas, ihren mörderischen Antisemitismus, die Verachtung für das Leiden des eigenen Volks, für andere Meinungen, Lebensweisen und vor allem für das Leben von Frauen ausblenden? Denkt überhaupt noch jemand? "Gaza ist eine einzige Militärkaserne, ein deep state des Judenhasses unter der Erde. Lückenlos und dennoch unsichtbar. Im Iran gibt es die Redewendung: Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen. Diese Redewendung ist die kürzeste Beschreibung des Dilemmas, dass man in Gaza das Zivile nicht vom Militärischen trennen kann. Und das gilt nicht nur für die Gebäude, sondern auch für das Personal der Gebäude. In diese Falle wurde die israelische Armee bei ihrer Antwort auf den 7. Oktober gezwungen. Nicht gelockt, sondern gezwungen. Gezwungen, sich zu verteidigen und sich durch die Zerstörung der Infrastruktur mit all den zivilen Opfern schuldig zu machen. Und genau dieses Unvermeidliche wollte und nutzt die Hamas. Seither führt sie Regie über die Nachrichten, die in die Welt gehen. Der Anblick des Leids verstört uns täglich. Aber kein Kriegsreporter kann in Gaza unabhängig arbeiten. Die Hamas steuert die Auswahl der Bilder und orchestriert unsere Gefühle. Unsere Gefühle sind ihre stärkste Waffe gegen Israel."
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Gesellschaft

Hamas-Verteidiger sollen morgen am Heidelberger Centrum für Transkulturelle Studien, einem großen Institut der Uni Heidelberg, Vorträge halten, berichtet Nils Kottmann in der Jüdischen Allgemeinen. Es handelt sich um die Aktivisten "Mahmoud O.", der auf Berliner Demos mit dem Spruch "Die Hamas wird verboten und keiner weiß wieso" auffiel und Hebh Jamal, die noch am 7. Oktober auf TikTok ihren spontanen Gefühlen Ausdruck gab: "Dekolonialisierung ist schmutzig, Dekolonialisierung ist hässlich, Dekolonialisierung ist nicht hübsch anzusehen. Sie ist furchterregend, aber sie ist absolut notwendig." Jüdische Studenten machten einen Professor des Instituts und die Uni-Leitung auf die problematischen Figuren aufmerksam: "Die Reaktion des Professors war herablassend. ... Es sei 'grundsätzlich nachvollziehbar, dass in einem Seminar zu '#Islam: Religious Dynamics in Online Spaces' (so der Name der Lehrveranstaltung, Anm. d. Red.), auch Social Media-Aktivisten zu Worte kommen', so der Professor." Von der Uni-Leitung ist bisher keine Reaktion überliefert. Das Seminar wird auf den Seiten der Uni Heidelberg so angekündigt: Man werde "untersuchen, wie Technologie den muslimischen Diskurs und die muslimische Praxis in verschiedenen Kontexten verändert, neu belebt und erweitert: von Halal-Dating-Apps und gezoomten Freitagsgebeten bis hin zum Mediatisieren von Islamophobie, 'muslimischer KI' und queer-muslimischem Instagram."
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Medien

Das KI-generierte Bild von einer Zeltlandschaft mit der Aufschrift "AllEyesonRafah" wurde auf Instagram 40 Millionen Mal geteilt. Nadine A. Brügger geht in der NZZ dessen Ursprung auf den Grund und stößt auf den User @shahv4012. "Die Adresse auf seiner Website verortet Chaa in Malaysia, einem Land, das die islamistische Hamas seit Jahren unterstützt. Selbst nach dem Terrorangriff auf Israel blieb Malaysia der Hamas treu. Malaysias Haltung scheint auch jene von Chaa zu sein. Der Fotograf generierte mittels KI nicht nur das Bild der Zeltstadt, sondern auch weitere Bilder. Eines zeigt den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu mit blutverschmierten Händen und der Überschrift 'Terrorist. Kindermörder'. Ein anderes Bild zeigt Netanyahu in einer Gefängniszelle, 'Kriegsverbrecher' und 'Kindermörder, Genozid, Satanyahu' steht darüber. Die Bilder bedienen sich eines alten antisemitischen Stereotyps, wonach Juden rituelle Kindermorde begehen würden."
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Stichwörter: Hamas, Instagram

Politik

Indien, die zahlenmäßig größte Demokratie der Welt, hat gewählt. Zeit auf den jetzigen Stand der Demokratie in Indien zu schauen, schreibt die indische Politikwissenschaftlerin Manali Kumar in der NZZ. "Wie demokratisch ist die 'Mutter der Demokratie' (Modi) nach zehn Jahren BJP-Regierung? Die Eigentumsrechte sind gesichert, je nachdem, wer man ist. Die Regierungen in den von der BJP geführten Gliedstaaten haben nach Protesten und Vorfällen von religiöser Gewalt die Enteignung von Land in muslimischem Besitz veranlasst. Kritiker der Regierung, darunter führende Denkfabriken wie das Centre for Policy Research, internationale NGO wie Oxfam India und ausländische Medien wie die BBC mussten Razzien der Steuerbehörde über sich ergehen lassen. Obwohl die Kleinkorruption im letzten Dezennium deutlich zurückgegangen zu sein scheint, zeigt der Skandal um die Wahlanleihen, der Wochen vor den diesjährigen Parlamentswahlen ausbrach, dass von staatlicher Seite auf Unternehmen Zwang ausgeübt wurde, um 'Spenden' zu erpressen." Modis Herausforderer, Arvind Kejriwal, wurde übrigens vor der Wahl in Untersuchungshaft gesteckt.

In der SZ blickt David Pfeifer auf der Seite Drei auf den Personenkult um den BJP-Führer Narendra Modi. "Das Selbstbild des Narendra Modi konnte die Welt schon beim G-20-Gipfel im vergangenen September in Delhi bestaunen. Überall in der Stadt waren Modi-Porträts plakatiert. Zig Motive mit ihm und seinem akkuraten weißen Vollbart, man konnte sie nur an den Farben seiner Weste unterscheiden. Die eher unübliche Zuspitzung auf seine Person ließ es so wirken, als wäre Modi der Führer der freien Welt. So gab er sich dann auch in seinen Reden. Es ist eine bewährte Modi-Technik: Erfolge immer für sich reklamieren, niemals über Fehler reden, erst recht keine zugeben."

Von Narendra Modi kann man allerdings lernen, wie man seinen eigenen Nationalismus - in diesem Fall Hindunationalismus - erschafft, liest man den Artikel der Medienanthropologin Christiane Brosius und des Indologen Axel Michaels in der FAZ. "Hinduismus ist eigentlich eine Fremdbezeichnung. Der Begriff wurde anfänglich von den Persern für die am Indus-Fluss lebende, nichtmuslimische Bevölkerung gewählt. Die Hindus selbst hatten lange Zeit keine Bezeichnung für die Vielfalt der Kasten, Bewegungen und Religionen. Das macht bis heute die Schwierigkeit einer Definition dieser Religion aus, der etwa achtzig Prozent der Bevölkerung zugerechnet werden. Es gibt fast keine Gemeinsamkeiten unter den zahlreichen Traditionen, Philosophien und Bewegungen. Anders als in den meisten monotheistischen Religionen findet sich auch kein Religionsstifter oder religiöses Oberhaupt, das verkünden könnte, was zum Hinduismus gehört. Es gibt nicht einen einzigen Hochgott, nicht einmal eine allseits anerkannte Göttergruppe. ... Kein Wunder, dass die Briten bei ihren Volkszählungen große Schwierigkeiten hatten, die Hindus zu erfassen. Wenn diese nach ihrer Religion gefragt wurden, nannten sie meist ihre Kaste oder die Götter, die sie verehren, oder eine der vielen Traditionen, denen sie folgten. Die Briten halfen sich bisweilen, indem sie Hindus als eine Art Restkategorie auffassten, in die alle kamen, die nicht eine andere anerkannte Religion wie Islam, Buddhismus oder Jainismus nannten."
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Europa

In der NZZ fragt sich die Wiener Russlandexpertin Anna Schor-Tschudnowskaja, ob zwischen den Inszenierungen auf dem Roten Platz der Sowjetunion und der des heutigen Russlands zum 9. Mai überhaupt noch eine Ähnlichkeit besteht. "Die zynischen mafiaartigen Clans an der Staatsspitze, die grenzenlose Geldgier der Bürokraten, die eklatanten sozialen Ungleichheiten in einer boomenden Konsumgesellschaft, eine riesige mediale Unterhaltungsindustrie und eine geschickt mit der neuesten Technik hantierende Jugend, die den neuesten globalen Trends in Kosmetik, Kleidung und Musik nachjagt - nichts davon erinnert an die Sowjetunion. Umso befremdlicher wirkt die eigenartige militaristische Verzahnung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen bei der diesjährigen Parade auf dem Roten Platz. Neben beispiellosen Sicherheitsvorkehrungen in Moskau fiel auf, dass die Vorführung von Militärtechnik drastisch verringert wurde. (...) Diese eigenartige Absenz von Militärtechnik vermittelte zugleich - gewollt oder ungewollt - eine Botschaft: Die Parade soll auch und gerade als Teil des laufenden Krieges gegen die Ukraine verstanden werden. Sie ist schon längst keine reine Gedenkveranstaltung mehr, sondern Teil der Realität. Das seinerzeitige Heldentum des Sowjetvolkes wird jetzt vom russischen Volke fortgeschrieben."

Das neue EU-Parlament, das demnächst gewählt wird, könnte von der Anti-Klimabewegung geprägt werden, warnt Barbara Junge in der taz. "Das Pendel ist zurückgeschlagen. Die Anti-Klimaschutz-Bewegung ist groß, sie ist grenzüberschreitend und sie wird mutmaßlich das neue Europaparlament aggressiv dominieren. ... Die rechtsextreme Erzählung von der 'Großen Transformation', einem kosmopolitischen Elitenprojekt, das dem Volk fossilen Wohlstand und kulturelle Identität stehlen will, ist ein Angebot an echte oder vermeintliche Transformationsverliererinnen und an jene, die dem 'grünen' Projekt nicht trauen. Und das Narrativ greift umso besser, je konsequenter der Klimaschutz umgesetzt wird. Das haben auch die Parteien von konservativ bis, ja, grün längst begriffen. Aus Angst vor der Mobilisierungsmacht der Bauern wurden klimapolitische EU-Gesetze wie das zur Renaturierung gestutzt. Die europäischen Konservativen versprechen, Klimaschutz nach den EU-Wahlen zurückzufahren."
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Religion

Im Februar hatte sich die Deutschen Bischofskonferenz gegen die AfD positioniert und diese als "nicht wählbar" für Katholiken bezeichnet. Diese Einstellung bekräftigt der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr im Zeit-Interview auf den Christ&Welt-Seiten. "Die AfD sieht und präsentiert sich immer in der Opferrolle, das ist nichts Neues. Wir hatten eher Bedenken, ob wir Bischöfe, wenn wir uns so klar positionieren, Brücken abbrechen und signalisieren: Jetzt sind wir zu einem Dialog nicht mehr bereit. Die Situation verlangte es jedoch, deutlich zu machen, dass ein Dialog wie mit anderen politischen Parteien hier nicht mehr möglich ist. (...) Aber wir gehen nicht so weit, zu sagen: Ein Katholik kann nicht Mitglied der AfD sein. Von daher haben wir nicht alle Brücken abgebrochen. Obwohl wir sehr entschieden betonen, dass völkischer Nationalismus mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild unvereinbar ist."
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Stichwörter: AfD