9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

2270 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 227

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2024 - Gesellschaft

Seit dem 7. Oktober zeigt sich die Fratze des Antisemitismus wieder in ihrer ganzen Obszönität: von rechts, von links, von religiöser Seite. Im Perlentaucher sucht Richard Herzinger nach den Antrieben dieses hässlichen Sentiments. Einerseits ist es die nie ganz festzulegende Identität des Judentums, die seine Feinde irritiert, so Herzinger. "Andererseits jedoch sind die Antisemiten überzeugt, dass diese Heterogenität des Judentums nur eine perfide Täuschung sei, dass es sich bei ihm in Wahrheit um eine im Geheimen verschworene uniforme Gemeinschaft handele, die diese ihr eigene Geschlossenheit anderen Völkern missgönne und sie daher gezielt zerstören wolle. So projiziert der Antisemitismus die eigene Homogenitätssehnsucht auf das ungreifbare Prinzip 'Jude'. Das so erzeugte Zerrbild von 'dem Juden' als straff organisiertem Weltverschwörer ruft er dann als Rechtfertigung für die Verwirklichung seiner eigenen Gleichschaltungsgelüste auf."
Stichwörter: Antisemitismus, 7. Oktober

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Gesellschaft

In der FR wettert Moritz Post gegen Ahmad Mansour, Anlass ist ein Porträt Mansours in der ARD: An einer differenzierten Debatte sei der Islamkritiker nicht interessiert, behauptet Post, sondern betätige sich nur als "nützlicher Gehilfe des rechten Kulturkampfs": "Er widerspricht zwar auf der Oberfläche den Äußerungen und Wertungen von Rechtspopulisten wie Reichelt. Doch sorgt gleichzeitig dafür, dass die Debatte eindimensional bleibt. Die undifferenzierte Verknappung von Argumenten rund um den Themenkomplex 'politischer Islam' (Was soll das eigentlich sein?) ist dabei ein Stilelement von Mansour, mit dem er sich gerne im Fokus der Aufmerksamkeit hält."

Ende Dezember hatten die Rechtsprofessorinnen Frauke Rostalski ("Die vulnerable Gesellschaft") und Elisa Hoven, in der FAZ für härtere Strafen bei Sexualdelikten plädiert: "Ein Strafurteil ist auch ein kommunikativer Akt gegenüber der Öffentlichkeit. Der Staat tritt dem Rechtsbruch angemessen missbilligend entgegen, macht das Maß des Unrechts deutlich und stabilisiert damit den gesellschaftlichen Konsens über die Einhaltung der geltenden Verhaltensregeln. Weichen die Strafvorstellungen von Bevölkerung und Gerichten zu weit voneinander ab, kann das zu einem Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz als verlässliche Instanz sozialer Kontrolle gegenüber Normverstößen führen", schrieben die beiden. In der SZ fragt jetzt Ronen Steinke, ob damit nicht der "Stammtisch" ermutigt werde: "Natürlich kann man allgemein vor einem 'Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz' warnen, wie es die Professorinnen Hoven und Rostalski tun wollen, wenn der Stammtisch und das Richterzimmer sich allzu sehr entfremden. Aber wenn die Gerichte tatsächlich wieder stärker auf Stimmungen in der - deutschen - Bevölkerung reagieren würden, dann sollte man vielleicht nicht erwarten, dass es dadurch fortschrittlicher wird. Feministisch schon gar nicht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2024 - Gesellschaft

Ein Verband von Frauenärzten und -ärztinnen, der  Berufsverband der Frauenärzte, hat sich gegen eine Legalisierung von Abtreibung in Deutschland ausgesprochen. Bisher wird Schwangerschaftsabbruch nach den Regeln des Paragraf 218 im Strafgesetzbuch ausgeübt. Bremer Ärzte haben sich gegen das Statement der Kollegen gewandt, berichtet Eiken Bruhn in der taz. Unter anderem machen sie darauf aufmerksam, dass Abtreibung schon jetzt in Deutschland mit vielen Hindernissen verbunden ist: "Erst am 10. April werden erstmals gesicherte empirische Daten zur Versorgungssituation veröffentlicht, wenn die Ergebnisse der sogenannten Elsa-Studie vorgestellt werden. Aber bereits jetzt ist durch zahlreiche Recherchen von Journalisten - zuerst 2017 in der taz - bekannt geworden, dass es Regionen gibt, in denen Schwangere 150 Kilometer und mehr für eine Abtreibung fahren müssen. Auch in vielen Großstädten gibt es mittlerweile immer weniger Ärzte und Kliniken, bei denen das möglich ist. Schwangere müssen entweder warten oder längere Wege auf sich nehmen."

Susan Neiman hat sich neulich in der Irish Times beklagt, jüdische Kritiker Israels würde in Deutschland zum Schweigen gebracht (unser Resümee) und in Monopol behauptet, Künstler hätten wegen eines hier grassierenden "philosemitischer McCarthyismus" Angst, nach Deutschland zu reisen. Geht's noch, fragt Alan Posener in der Welt. "Während jüdische Kinder hierzulande nur unter Polizeischutz zur Schule gehen können, während ganze Stadtviertel als No-Go-Area für Kippa-Träger gelten, ist es vielleicht nicht ganz so schlimm, wenn Israelhasser befürchten müssen, hier in den Medien kritisiert zu werden oder mal keinen Preis zu bekommen. Was hier passiert, ist nämlich, dass sich endlich diejenigen zu Wort melden, die jahre- und jahrzehntelang zum Antisemitismus der Linken geschwiegen haben; ein Antisemitismus, den Neiman leugnet. ... Susan Neiman sagt richtigerweise, dass die AfD ihren Philosemitismus vor sich herträgt, um von ihrem Rassismus abzulenken. Freilich gibt es kaum Juden in Deutschland, die darauf hereinfallen. Die Linke jedoch trägt ihren Antirassismus vor sich her, um von ihrem Antisemitismus abzulenken. Darauf fallen leider immer noch zu viele herein."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2024 - Gesellschaft

Die Diversität der britischen Elite ist einmalig, keine Regierung in Großbritannien wird mehr von einem weißen Mann geführt - und niemand macht viel Aufhebens darum, hält Eva Ladipo in der FAZ fest: "Der wichtigste Grund für diese britische Gelassenheit und für die Durchlässigkeit der Elite liegt wahrscheinlich in der Vergangenheit. Ohne den relativ farbenblinden britischen Pragmatismus hätte das Empire niemals funktioniert. Das vergleichsweise kleine Königreich in der Nordsee hätte kein Weltreich regieren können, wenn es die Machthaber der Kolonien nicht auf besonders perfide und effiziente Weise für sich gewonnen hätte. Natürlich basierte das Empire auch auf Gewalt und Unterdrückung. Entscheidend aber war die Kooperation der fernen Eliten - und die gewannen die Briten, indem sie schon vor Jahrhunderten Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer Kultur und anderer Religion in ihr ureigenes Klassensystem aufnahmen. Die Sprösslinge der kolonialen Eliten wurden auf den besten britischen Schulen und Universitäten ausgebildet und dadurch mit großer Selbstverständlichkeit Mitglieder der Upper Class. Was zählte, war der familiäre Hintergrund, das soziale Prestige, Bildung und Reichtum."

Als wohltuend empfand Rüdiger Schaper im Tagesspiegel die Rede von Meron Mendel in der Berliner Akademie der Künste anlässlich einer Tagung unter dem Motto "The Climate we live in". Mendel betonte, so Schaper, die Verantwortung beider Seiten: "In der internationalen Kunstwelt sieht Meron Mendel 'ein hohes Maß an Arroganz und Ignoranz'. Er beschreibt, wie die Freiheit der Kunst von zwei Seiten bedroht wird. Von den radikalen pro-palästinensischen Aktivisten, die kritische Stimmen aus Israel unterdrücken. Und von deutschen Amtsträgern, die 'mit guter Absicht völlig falsch handeln'. Beide Seiten, sagt Mendel, bedienen die Logik des Boykotts. Dies sei antidemokratisch und ein fataler Fehler."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2024 - Gesellschaft

Die Westdeutschen haben den "Jammerossi" aus Neid erfunden, glaubt die in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Katja Lange-Müller im Gespräch mit der Berliner Zeitung, und zwar "weil sie sich selbst sehr gut wiedererkannten, in dem, was sie da vernahmen. Unsicherheiten, Abstiegsängste und Verwirrungen in der kapitalistischen Praxis, das kennt der Westler natürlich genauso und schon länger - er durfte und darf es aber nicht zeigen, weil man damit seine Schwäche zur Schau stellen und seine Souveränität als angreifbar markieren würde. Dieser Zwang, sich gut zu verkaufen, war im Osten weitgehend unnötig, und entsprechend ungeübt war der Ostler in derart überlebenswichtigen Verlogenheitstechniken. Stattdessen kommt er und jammert völlig hemmungslos rum. Dann wechselt der Wessi den Waggon wie eine Mutterveteranin, die von fremdem Säuglingsgeplärr genervt ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2024 - Gesellschaft

Im Anschluss an Frank-Walter Steinmeiers am Rande von "Palästina"-Brüllern gestörte, literarisch grundierte Rede auf der Leipziger Buchmesse zum Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland diskutierten die Schriftsteller Ingo Schulze, Anne Rabe und Marcel Beyer zum Thema - und langweilten damit offenbar eher. Es ging um "Gerechtigkeit, Kapitalismus, Landflucht, Rechtsradikalität, den Volksbegriff, die Verfassung, Zivilcourage, Freiheit, also everything everywhere all at once", schreibt Jan Wiele auf FAZ.net. "Das wirkt dann an diesem ohnehin schon strapaziösen Abend wirklich etwas viel. Und es bleibt, bei allem Verständnis für Anekdoten-Empirie, einfach zu disparat." Alexander Cammann von Zeit Online musste schon bei Steinmeiers Rede mehrfach gähnen, deren "realitätsferne, sonntagspredigthafte Rhetorik" auch nur in etwa dem entspricht, wie seit 1990 zum Thema gesprochen wird. "Steinmeier ist nicht der einzige Spitzenpolitiker, Ost wie West, der ein bestimmtes ritualisiertes, mittlerweile einschläferndes Sprechen über Ost und West nicht durchbrechen kann. Ähnlich erging es dem Schriftstellertrio, das nach der Rede eher ratlos diskutierte" und "recht unkoordiniert durch die deutschen Zustände ruderte. ... Kein Fanal also, der Weckruf blieb aus bei dieser Rede, an diesem Abend. Auch Frank-Walter Steinmeier wird uns nicht retten."

Die beschwichtigende bis pädagogische Rhetorik, mit der Steinmeier und Scholz bei ihren Leipziger Reden auf Zwischwnrufer reagierten, mag staatsmännisch und demokratisch besonnen wirken, aber demokratisch ist sie eigentlich nicht, sondern vielleicht am ehesten noch bieder repressiv, meint Julia Encke in der FAS. "Denn Demokratie bedeutet auch Störung und Provokation - und gegebenenfalls eben auch Spaltung. Natürlich war das laute Dazwischenrufen in Leipzig dem Bundeskanzler und den meisten Zuhörern lästig, aber selbstverständlich lag es im demokratischen Rahmen, auch wenn die Störer damit rechnen mussten, von Ordnern aus dem Gewandhaus gewiesen zu werden. Dass Demokratie auch offen ausgetragener Dissens ist, führen die aktuellen gesellschaftlichen Debatten ja leb- und oft auch schmerzhaft vor Augen."

Constanze von Bullion hat für die SZ Lahav Shapira besucht, der sich immer noch von der Prügelattacke eines Kommilitonen erholt, der ihn krankenhausreif geschlagen hatte, vermutlich aus antisemitischen Motiven. Shapira geht mittlerweile mit einem Bodyguard in die Universität, berichtet Bullion: "Anderthalb Monate sind seither vergangen, zwei Leben sind aus der Bahn geraten. Lahav Shapira will jetzt zurück ins Studium, irgendwie. Der Tatverdächtige soll exmatrikuliert werden, findet er, und die Universität soll die Sicherheit jüdischer Studenten garantieren. Ein Verein hat ihm jetzt einen Personenschützer zur Seite gestellt, ein freundlicher Kerl mit einem wilden Tatoo. Angst? Lahav Shapira schüttelt den Kopf. Nicht vor denen."

Warum sind Maskulinisten wie Andrew Tate eigentlich so erfolgreich, will Joshua Schößler in der FAS wissen. Gerade für Jugendliche sind die Identitätsangebote gefährlich, der ausgestellte finanzielle Erfolg und die vermeintliche Unverletzbarkeit sind für sie verlockend, sagt die Publizistin Veronika Kracher und betont, dass die Misogynie auch eine antidemokratische Tendenz hat: "Männer wie Andrew Tate behaupten, der Mensch befinde sich mit allen anderen Menschen in einem permanenten Kriegszustand. Demnach denken sie Beziehungen zu anderen Menschen ausschließlich instrumentell und zelebrieren daher hemmungslos ihre eigene Rücksichtslosigkeit.' Kracher betont, dass dieses Ideal starke antidemokratische Tendenzen hat: 'Innehalten, Reflexion und Selbstzweifel haben hier keinen Platz. Das ist auch eine Gefahr für unsere Demokratie.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 - Gesellschaft

Um Punkt 12 versammelten sich viele Russen am Präsidentschaftswahltag in Russland, aber auch weltweit dem Aufruf Alexej Nawalnys folgend vor den Wahllokalen, um zu protestieren, nicht selten wählten sie die Form der Schlange, beobachtete der Schriftsteller Alexander Estis, der sich in der SZ fragt, warum gerade diese Relikt aus Sowjetzeiten als Protestform gewählt wurde: "Defizit und Personalmangel in der Planwirtschaft sorgten dafür, dass der 'Homo sovieticus' einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Lebens mit dem Warten verbrachte; in den Hochphasen konnten Schlangen aus Tausenden Menschen bestehen, und insgesamt konnten in Moskau an einem Tag Zigtausende anstehen. Für Essen musste man in der Regel sogar dreifach anstehen: Zunächst zum Abwiegen, dann zum Bezahlen und schließlich zum Abholen. Die Schlange war ein Institut, eine Konstante der sowjetischen Existenz: Man stand immer an, ob fürs Bier, vor der Post oder ins Mausoleum." Estis fragt sich dann aber auch, "inwieweit die Warteschlangenmentalität mit ihrer unterwürfigen Trägheit, ihrem überlebenssichernden Ein- und Unterordnungsprinzip, ihrem Fatalismus und Opportunismus aus der Sowjetzeit ins heutige Russland hineinragt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2024 - Gesellschaft

In einem Porträt Derek Scallys für die Irish Times kündigt Susan Neiman zwar nicht direkt an, Deutschland zu verlassen, aber irgendwie doch ein bisschen: "Ein Jahr vor dem Ende ihres Vertrags am Einstein Forum wird Neimans Häuschen in Kerry von Tag zu Tag attraktiver. 'Ich möchte Irland weniger als Zufluchtsort fernab von allem sehen', sagt sie, 'sondern eher als einen Ort, an dem ich am intellektuellen und kulturellen Leben teilhaben kann.'" In Deutschland herrsche eine Atmosphäre des McCarthyismus, sagt sie vorher in Scallys Porträt. "Wie zur Zeit der Kommunistenangst im Amerika der 1950er Jahre, sagt sie, muss jeder, der die extremistische israelische Regierung und ihre Politik kritisiert, beweisen, dass er kein Antisemit ist und auch nie einer war. Deutsche beschuldigen Juden wie Neiman, Antisemiten zu sein? Was sich wie ein Scherz anhört, ist durch ihre Brille betrachtet, nicht zum Lachen."

taz-Autor Daniel Bax hat sich im "Meinungskorridor" kräftig den Kopf gestoßen. Es geht natürlich um Israel: "'Das Ghetto wird liquidiert', schrieb Masha Gessen mit Blick auf Israels Kriegsführung in Gaza. Hierzulande sorgte dieser Satz in einem Essay, der im Magazin New Yorker erschien, für einen Eklat. Denn in Deutschland hat man sehr weitreichende Vorstellungen davon, was man in Bezug auf Israel alles nicht sagen darf. Der Meinungskorridor wird deshalb immer enger - und es könnte noch schlimmer kommen, wenn Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor dem Druck einknickt, der nach der Berlinale wieder zugenommen hat." Uwe Tellkamp, der sich zuerst durch einen immer engeren "Meinungskorridor" hatte pressen müssen, wird sich für diese kulturelle Aneignung bedanken.

Jonathan Guggenberger berichtet außerdem in der taz, dass die Berliner Kulturpolitik immer noch um eine "Antisemitismusklausel" ringt, während Kulturinstitutionen Angst haben, dass sie sich mit Bekenntnissen gegen Antisemitismus vor der internationalen "Strike Germany"-Fraktion blamieren sollen. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo, notiert Guggenberger, äußert sich einfach weiter proisraelisch: "In den sozialen Medien teilt der ehemalige Sprecher des Berliner Kultursenats und Vertrauter Joe Chialo nicht erst seit dem 7. Oktober proisraelische Inhalte. Darunter auch Statements der israelischen Streitkräfte, Fotos israelischer Geiseln und viel Kritik an propalästinensischen Aktivisten aus Kunst und Kultur. Der sich propalästinensisch positionierende Berliner Kurator Edwin Nasr und die Performerin Nomi Sladko werten diese Posts als 'zionistische Propaganda'."

Berliner Behörden erwägen ein Verbot eines demnächst geplanten "Palästina-Kongresses", berichtet Alexander Fröhlich im Tagesspiegel. Die rechtlichen Hürden dafür seien allerdings hoch: "Nach dem Willen der Veranstalter sollen Namen der prominentesten Redner bis zuletzt geheim bleiben, um Einreiseverbote zu verhindern. Wo genau der sogenannte 'Palästina Kongress' vom 12. bis 14. April in Berlin stattfinden soll, ist ebenfalls noch geheim. Organisiert wird er von radikalen Gruppen wie 'Palästina Spricht', der trotzkistischen Gruppe 'Arbeiterinnenmacht' sowie dem 'BDS Berlin'."

Nach der taz (mehr hier) porträtiert ein Autorenteam der SZ den offenbar überaus charmanten und lange nicht als Rechtsextremen bekannten Düsseldorfer Zahnarzt Gernot Mörig, der das "Remigrations"-Treffen von AfD und Co. in Potsdam maßgeblich mit organisiert hat. Auch in allen rechtspopulistischen bis -extremen Parteien hat er gute Kontakte: "Sogar Sahra Wagenknecht, die mit ihrer Partei BSW ebenfalls nach Abgehängten, Unzufriedenen und Ampelmüden fischt, hat Mörig offenbar schon umgarnt. Wagenknecht legte den Kontakt vor einigen Wochen selbst offen und sagte im ZDF, dass sie jahrelang 'nette Mails' von ihm bekommen habe. Die Wagenknecht-Partei, die Werteunion, die AfD: als hätte Mörig drei Asse gegen das Establishment im Ärmel, von denen eins schon stechen wird."

Vor allem im Osten müssen sich Lokalpolitiker inzwischen vor vor gewalttätigen Angriffen fürchten. Im Interview mit der SZ erklärt der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, wie es dazu kommen konnte, und warum die AfD, obwohl sie offiziell Gewalt ablehnt, zu der Atmosphäre der Gewalt beigetragen hat: "Ganz entscheidend waren Normalisierungsgewinne: Auch wer nicht mit rechten Positionen einverstanden ist, wagt es nicht mehr, deutlich Widerspruch dagegen zu erheben, sondern zieht sich zurück - oder ganz weg, zum Beispiel in eine größere Stadt. Das fing alles in den 1990er Jahren an und hat den Boden bereitet für die heutige Situation. Die aktuellen Statistiken zeigen zunehmende Angriffe gegen politische Akteure. Man muss konstatieren, dass inzwischen auch AfD-Politiker Opfer von Übergriffen werden, was ebenfalls die demokratische Kultur beschädigt." Aber die AfD trag daran Mitschuld, weil sie "mit einer Gewaltmembran" hantiere. "Eine Membran hat etwas Trennendes: Prominente Akteure der AfD rufen nicht selbst zur Gewalt auf. Aber eine Membran ist auch durchlässig. Die AfD trägt zur Legitimation von Gewaltakten bei, indem aufheizend mit Begriffen wie 'Umvolkung' oder 'Bevölkerungsaustausch' gearbeitet wird."

Buch in der Debatte

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In der Welt unterhält sich Andrea Seibel mit dem Historiker Andreas Petersen über dessen neues Buch "Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand", das den Umgang mit der Tiefenpsychologie in den Gesellschaften Ost- und Westeuropas vor und nach den großen Diktaturen vergleicht. In Russland wurde "ab Ende der 1920er-Jahre durch Stalin alles Tiefenpsychologische ausgelöscht" und das hat Folgen bis heute, meint er. Ganz so weit scheint er mit seinem Buch nicht zu gehen: "Es sollte in Sachen Psyche erst einmal der historische Rahmen abgesteckt werden. Was ist in Ost und West überhaupt passiert, bis hinein in die Familien? Stichwort: gesellschaftlicher Sozialcharakter. Was bedeutet es, wenn langfristig Wissen über das Unbewusste aus der Gesellschaft draußen gehalten wird. Wir können noch lange über Renten und Erbe streiten, aber das immaterielle Erbe weiter ausblenden. Was also ist der missing link in dieser Frage zwischen Ost und West? Dabei geht es nicht um besser oder schlechter, schwarz oder weiß, sondern ums Klären der Differenzen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.03.2024 - Gesellschaft

Eine deutsche Szene beobachtet FAZ-Autor Reinard Bingener im niedersächsischen Vechta. Ins dortige Frauengefängnis soll die mutmaßliche RAF-Terroristin Daniela Klette verlegt worden sein. Ein kleines Grüppchen Sympathisanten, organisiert von der Bremer Krankenschwester Ariane Müller, hat sich eingefunden, um für sie zu demonstrieren: "Müller erklärt auf Nachfrage der FAZ, zu den Opfern der RAF 'müsste ich jetzt länger ausholen', und dafür habe sie leider keine Zeit. Ein Demonstrant erklärt, er finde Morde zwar 'nicht so sympathisch', aber die tödlichen Schüsse auf den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder im Jahr 1991 seien ja 'nicht aus heiterem Himmel gefallen'. Es wäre 'perfide' zu behaupten, dafür hätte es keine Gründe gegeben."

Eine Gruppe linksradikaler Organisationen plant für 12. bis 13. April einen Hamas-freundlichen Kongress unter dem Titel "Palästina Kongress", berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel. Unter anderem seien Greta Thunberg oder die israelfeindliche UN-Funktionärin Francesca Albanese eingeladen (ob sie zugesagt haben, ist ungewiss): "Die Planungen zu dem Kongress begannen bereits im Dezember. Dafür schlossen sich diverse radikale Kleingruppen aus Berlin zusammen. Zum Beispiel die Splittergruppe 'Revolutionäre Linke', die sich nach dem Massaker der Hamas mit den Terroristen solidarisch erklärte. Oder das Netzwerk 'Palästina Spricht', das en 7. Oktober als Tag sieht, der gefeiert gehört. Sprecher Ramsis Kilani hält die am 7. Oktober ermordeten israelischen Zivilisten für 'Kriegsverbrecher'."


Buch in der Debatte

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Es gibt allen Ernstes ein "Berliner Register", das zu Folgendem aufruft: "Melde Diskriminierung und extrem rechte Aktivitäten an uns." Dort ist jetzt auch ein Buch von Henryk Broder und Reinhard Mohr gelandet, "Durchs irre Germanistan", berichtet Jan Fleischhauer in seiner Focus-Kolumne. Gemeldet wird in dem Register, dass sich die Autoren gegen das Gendern wenden. Fleischhauer zitiert aus dem Register: "Geschlechtergerechte Sprache wurde als Ausdruck von Kleingeist und Konformität dargestellt. Beispielsweise wurde einem Radiomoderator, der einem der Autoren durch seine geschlechtergerechte Ausdrucksweise aufgefallen war, unterstellt, hätte er im Nationalsozialismus gelebt, hätte er auch mit 'Heil Hitler' unterschrieben. Diese Analogie kann zudem als NS-verharmlosend interpretiert werden." Das Berliner Register, so Fleischhauer, wird vom Berliner Senat finanziert.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2024 - Gesellschaft

Neue Berichte belegen ein weiteres Mal, dass der Sexualpädagoge Helmut Kentler "im Namen progressiver Pädagogik" Kinder und Jugendliche zu Pädosexuellen schickte, die sie mit seiner stillen Billigung - und der der Behörden - missbrauchten. Das ganze geschah in Berlin in den achtziger Jahren. Nina Apin berichtet in der taz. "Kentlers Grundthese dabei: Da sie Interesse an einer sexuellen Beziehung mit den Jungen hätten, würden sich die Pädosexuellen besonders viel Mühe mit ihnen geben. Die Pflegestellen wurden unter der Zuständigkeit und, davon muss man ausgehen, mit dem Wissen zumindest einiger Verantwortlicher des zuständigen Jugendamtes eingerichtet. In den folgenden Jahrzehnten verstand es Kentler, solche sexuellen Ausbeutungsverhältnisse als progressive Pädagogik zu verkaufen. Unkonventionelle Ansätze in der Jugendhilfe waren in Mode und Kentler besaß Renommee, unter anderem durch sein Engagement in der evangelischen Jugendarbeit." Die taz hatte vor Jahren zum ersten Mal über Kentler berichtet, hier unsere Resümees. Neuer Aspekt bei der Sache. Kentlers Aktivitiäten gingen weit über West-Berlin hinaus: "Vom Berliner Jugendamt betreute Kinder wurden regelmäßig an die hessische Odenwaldschule geschickt, in die Familie des pädosexuellen Schulleiters Gerold Becker. Dieser hatte mit Kentler am Pädagogischen Zentrum in Göttingen studiert, man war befreundet."

Der in San Francisco lehrende Sozialwissenschaftler Jan Voelkel hat für eine große Studie Ideen gesammelt, die gegen die grassierende Polarisierung helfen. Einige stellt er im Gespräch mit Antje Lang-Lendorff von der taz vor. "Ein Video, das von einem Bierunternehmen vor einigen Jahren gedreht wurde, hatte den größten Effekt. In dem kurzen Film sieht man sechs Menschen, die sich nicht kennen und die mithilfe einer Anleitung jeweils zu zweit eine Bar aufbauen sollen. Sie verstehen sich gut. Erst am Ende erfahren sie, dass sie komplett andere Meinungen vertreten, zu Feminismus, Klimawandel, transgender. Trotzdem entscheiden sie sich dafür, an der Bar ein Bier miteinander zu trinken und über ihre Meinungen zu diskutieren. Sie reden sehr respektvoll miteinander."

Über ähnliche Themen spricht die Philosophin Romy Jaster mit Lea De Gregorio, ebenfalls von der taz. Sie betrachtet klassisch habermasianisch das Internet als verantwortlich, da die "Gatekeeper" -Medien nicht mehr die Macht haben, die Schäfchen zu hüten: "Es gibt natürlich immer noch Medien, die hohe Zugangshürden und Qualitätsstandards haben, aber man kann sie heute auch umgehen."

Auch der Historiker Norbert Frei beklagt in seiner SZ-Kolumne "die Konsequenzen jener Kommunikationsrevolution, die in den frühen Neunzigerjahren mit der Einführung des World Wide Web einsetzte und die vor kaum zwanzig Jahren mit medienrechtlich völlig unregulierten sogenannten Plattformen ihre heutige Missgestalt anzunehmen begann". Und "derweil versteht sich die AfD perfekt darauf, den vor unser aller Augen sich vollziehenden Strukturbruch der Öffentlichkeit - das Wort vom 'Strukturwandel' trifft es nicht mehr - für ihre demokratieverachtenden Zwecke zu nutzen." Die Geschichte zeigt, das schon Hitler ohne Facebook gar nicht möglich gewesen wäre!