9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Politik

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2024 - Politik

"Die UN-Sonderberichterstatterin für die Palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, sieht 'vernünftige Gründe' für die Annahme eines israelischen Völkermords im Gazastreifen", berichtet tagesschau.de im Ton der Neutralität. Hört man sich Albaneses Rede bei der Präsentation ihres Berichts an, hört man auch, wie sie die Formel "From the River to the Sea", die eine Auslöschung Israels verlangt, provokant einflocht. Die Hamas wird in Albaneses Präsentation kaum erwähnt. Eine offizielle UN-Funktionärin wird damit zur Verkörperung einer Tendenz, die in der ganzen westlichen Welt zu verspüren ist, schreibt Maria Ossowski in der Jüdischen Allgemeinen: "Überall in der westlichen Welt lässt sich diese beunruhigende Erosion des Mitgefühls in Kombination mit Blindheit beobachten. Es begann direkt nach dem Massaker, als Medien und Politik zwar aufschreckten, die Mehrheit der Deutschen jedoch dem kollektiven Schweigen verfiel. Zwar demonstrierten in Berlin 20.000 Menschen für Israel - als zwei Jahre zuvor Russland die Ukraine überfallen hatte, waren es aber eine halbe Million. Statt Mitgefühl machte ein schrecklich abstrakter Begriff die Runde, und zwar Kontextualisierung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2024 - Politik

Gestern war ein historischer Tag. Der UN-Sicherheitsrat fordert eine sofortige Waffenruhe im Gaza-Krieg - und die USA haben kein Veto eingelegt, sondern sich enthalten. Die Resolution fordert die Entlassung der Hamas-Geiseln, aber eben auch eine Einstellung der Kampftätigkeiten - hier der ganze Text. Dass die Bilder aus Gaza immer unerträglicher werden und dass es auch Israels Freunden immer schwerer fällt, sie auszuhalten und Israel zu verteidigen, weiß auch FAZ-Redakteur Alexander Haneke, der Israels Kriegsführung durchaus in vielen Punkten kritikwürdig findet. Aber er fordert auch, sich in die Lage israelischer Soldaten zu versetzen: "Wer über den Krieg urteilen will, muss sich bewusst machen, welche Mechanismen dort wirken - ganz egal, wie man sie ethisch bewertet. Und wer Israels Kriegsführung mit den Armeen anderer Demokratien vergleicht, darf nicht vergessen, dass kein anderes westliches Land in den vergangenen Jahrzehnten in einen ähnlich existenziellen Kampf verwickelt war gegen einen Feind, der, nur durch einen Grenzzaun getrennt, fortwährend Raketen auf Städte und Dörfer feuert und der planmäßig seine Uniformen abgelegt hat, um sich im urbanen Dickicht unter Zivilsten zu verbergen."

Interessant ist, wie etwa die "Tagesschau" über die UN-Resolution berichtet: "Durch den völkerrechtlich bindenden Beschluss steigt der internationale Druck auf die Konfliktparteien Israel und die Hamas weiter. Es ist jedoch fraglich, ob oder inwieweit die Resolution Einfluss auf Entscheidungen der israelischen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu oder der Hamas zum weiteren Kriegsverlauf haben wird. Die Hamas begrüßte die Resolution und bekräftigte, zu einem sofortigen Austausch der israelischen Geiseln gegen palästinensische Gefangene bereit zu sein." Äh, von "Austausch" ist in der Resolution aber nicht die Rede, sondern von der "sofortigen und bedingungslosen Freilassung aller Geiseln".

In der SZ erinnert Daniel Brössler die propalästinensischen Demonstranten noch einmal daran, was die deutsche Staatsräson eigentlich bedeutet: "Die deutsche Sonderrolle manifestiert sich nicht in Kritiklosigkeit, sondern im Beharren auf dem grundsätzlichen Recht Israels, sich gegen die Hamas zur Wehr zu setzen. Weltweit ist das fast schon ein Alleinstellungsmerkmal. Das wird in Israel wahrgenommen und sorgt zumindest dafür, dass Kanzler und Außenministerin Gehör finden. Schon aus diesem Grund wäre den Palästinensern nicht geholfen, würde sich Deutschland in die Gruppe derer einreihen, die Israel durch ein Waffenembargo oder gar Boykottmaßnahmen unter Druck setzen wollen."

In der NZZ wirft der deutsche Schriftsteller Hans Christoph Buch einen Blick auf die von Völkermord und Sklaverei geprägte Geschichte der Insel Hispaniola, die vor allem Haiti in eine Gewaltspirale führt: "Als Erben dieser Geschichte gibt es in Haiti heute nicht bloß Hungerleider, sondern Millionäre, die wenig oder keine Steuern zahlen und, wie kriminelle Familienclans in Europa, von rechtsfreien Räumen profitieren. Politiker und Polizisten sind bestechlich, Korruption gilt als Kavaliersdelikt, Waffen- und Drogenschmuggel sind so verbreitet wie Folterungen und Vergewaltigungen vor den Augen der Angehörigen. Wie einst die 'Tontons Macoutes' von Papa Doc terrorisieren bewaffnete Banden die Armenviertel; allen voran Cité Soleil, eine von vielen No-go-Areas mit Waffenlagern und Geiselgefängnissen, in denen Entführungsopfer wochenlang, oft vergeblich, auf Freikauf hoffen."
Stichwörter: Israel, Staatsräson, Haiti

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2024 - Politik

Am 7. April ist es 30 Jahre her, dass in Ruanda das große Morden der Hutu an den Tutsi begann. Seither ist der Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen nicht kleiner geworden, sondern weitet sich vielmehr auf die Nachbarländer aus, warnt Dominic Johnson in der taz. Die Hutumilizen zogen sich dreißig Jahren vor allem in den benachbarten Kongo zurück: "Mehrfach hat Ruanda dort gegen sie eingegriffen, aber bis heute sind Reste der einstigen Völkermordarmee unter dem Namen FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) im Ostkongo präsent, geduldet von Kongos Staat, und träumen von der Rückeroberung Ruandas. Das ist längst auch ein kongolesischer Konflikt, denn auch in Kongo gibt es ruandischsprachige Bevölkerungen, geteilt in Hutu und Tutsi. Kongos Tutsi trauen Kongos Staat nicht, da dieser sich mit Ruandas Völkermordtätern verbündet hat, und unterhalten eigene bewaffnete Gruppen. Kongos Staat traut Ruandas Staat nicht, da dieser kongolesische Tutsi-Rebellen unterstützt, und rüstet gegen Ruanda auf. Ruandas Staat traut Kongos Staat nicht, da dieser die flüchtigen ruandischen Völkermordtäter unterstützt, und unterstützt die kongolesischen Tutsi-Kämpfer. Aktuell verlieren alle Akteure in diesem ewigen Teufelskreis die Geduld." Dazu gehört auch das Nachbarland Burundi, in dem ehemalige Hutu-Rebellen regieren. "Burundis Präsident Évariste Ndayishimiye traf im Januar in Kinshasa Wazalendo-Führer und rief zum Regimewechsel in Ruanda auf; Burundi könnte zum Sprungbrett für Kongos Krieg gegen Ruanda werden."

Achtung, Populismus schadet der Wirtschaft. Eine Forschergruppe des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) stellt auf den Wirtschaftsseite der FAZ die Ergebnisse einer Studie zu Populismus und Wirtschaft vor und findet heraus: Es hat noch nie einen Populisten gegeben, der sein Land nicht heruntergewirtschaftet hat. Eines der Beispiele der Forscher ist der Brexit. Und von Venezuela (ja, es gibt auch Linkspopulismus!) gar nicht zu reden. Mit das interessanteste Ergebnis der Forscher klingt aber noch deprimierender: "Populisten sind politische Überlebenskünstler. Anders als oft angenommen wird, verschwinden sie selten schnell wieder von allein. Stattdessen tun sie oft alles, um die Chancen auf Machterhalt und Wiederwahl zu erhöhen, sei es durch ihre Kernstrategie von Polarisierung und Hetze oder durch neue Wahlgesetze, eine Übernahme der Medien und die Einschüchterung von Justiz und Opposition. ... Populisten sind im Schnitt sechs Jahre an der Macht, gegenüber nur drei Jahren bei nichtpopulistischen Regierungschefs. Sie werden auch viel häufiger wiedergewählt, mit einer Wahrscheinlichkeit von 36 Prozent gegenüber nur 16 Prozent bei nichtpopulistischen. Die Idee einer Entzauberung an der Macht lässt sich in den Daten klar widerlegen. Berlusconi zum Beispiel ist oft als 'Clown' bezeichnet worden, aber er ist in Sachen Machterhalt der mit Abstand erfolgreichste italienische Regierungschef der Nachkriegszeit."

Die israelische Regierung ließ eine Chance auf eine Offensive auf Rafah verstreichen, die von den USA gebilligt worden wäre, jetzt ist die Offensive praktisch zum Erliegen gekommen, konstatiert der Militärexperte Edward Luttwak in der NZZ. Das sei vor allem auf Benjamin Netanjahus fehlende Entschlossenheit zurückzuführen, die auch sein Verteidigungsminister Yoav Gallant monierte. "Der ehemalige Generalmajor sagte, die Fähigkeit zu führen erfordere drei Dinge: Verpflichtung der Sache gegenüber, persönliche Vorbildfunktion und die Einsicht, dass Verantwortlichkeit Quelle von Autorität sei. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wen er damit gemeint hat. (...) Obwohl Netanjahu darauf beharrt, dass es 'passieren wird'", der Sieg über die Hamas, "ist das noch 'mehrere Wochen' entfernt. Bis dann kann sich die Lage allerdings verändern. So oder so ist wahrscheinlich, dass Joe Biden bald bekommen wird, was ihm politisch entgegenkommen würde und wonach sich viele Israeli sehnen: Netanjahus Rückzug aus der Regierung und der Politik."

In der Welt empört sich der Philosoph Jörg Phil Friederich über den Soziologen Heinz Bude, der kürzlich erzählte, wie er während der Corona-Zeit der Bundesregierung erklärte, wie man der Bevölkerung die Corona-Maßnahmen am besten erklären könne (das nennt Friedrich Herstellung von "Folgebereitschaft"). Dies soll sich, so Friedrich, nicht mehr wiederholen: "An den informellen Rändern des politischen Systems, auf den Straßen, in den sozialen Medien, werden in einer Demokratie die Leute mit bürgerlicher Kreativität aktiv, um denen, die meinen, Folgebereitschaft verlangen zu können, zu zeigen, wer in einer Demokratie schlussendlich der Souverän ist." Die bürgerliche Kreativität klingt ja richtig friedlich.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2024 - Politik

Buch in der Debatte


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Im taz-Interview mit Till Schmidt spricht der israelische Historiker Benny Morris über seine Forschungen zum arabisch-israelischen Krieg 1948, die er in einem Buch zusammengefasst hat. Als Teil der "Neuen Historiker" war er einer der ersten, die die offizielle zionistische Darstellung kritisch aufarbeiteten und das "klassische" Narrativ ("Die Araber griffen an, die Juden verteidigten sich. Die Araber waren böse, wir waren nett und agierten heroisch.") in Frage stellten. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit der Verklärung des Konfliktes von arabischer Seite: "Die Behauptung, die Palästinenser und die Araber seien jederzeit nur 'Opfer' fremder Aggressionen gewesen und hätten keine Handlungsmacht gehabt, ist absoluter Unsinn. Denn in jeder Phase des Krieges, aber auch schon vor 1948, erhoben sich Palästinenser und griffen Juden an. In den 1920ern verübten sie eine Reihe von Pogromen. Die arabische Seite lehnte die Peel-Kommission und deren Empfehlungen für eine Zweistaatenlösung von 1937 ab; genauso die von der UN-Generalversammlung 1947 vorgeschlagene Zweistaatenlösung. Schließlich begann die arabische Seite den Bürgerkrieg und griff Israel in Folge seiner Unabhängigkeitserklärung 1948 an, um den jüdischen Staat ungeschehen zu machen."

Trotz erdrückender Beweislast werden die Sexualverbrechen, die die Terroristen der Hamas am 7. Oktober begangen haben, weiter geleugnet oder zumindest heruntergespielt, ärgert sich Birgit Schmid in der NZZ. Unter anderem drehen sich die Diskussionen nun darum, ob die Gewalt gezielt als Kriegswaffe eingesetzt wurde: "Wenn nun darüber gestritten wird, ob die Gewalt 'zufällig' oder 'systematisch' war, ist das zynisch. So wird Leid relativiert. Entsprechend fragwürdig ist das Vorgehen der Uno. Die Uno ist jene Organisation, die zwei Monate brauchte, um die sexualisierte Gewalt durch die Hamas zu verurteilen. UN Women, ihrer Frauenrechtskommission, lag von Beginn des Kriegs an mehr am Leid der Palästinenserinnen in Gaza als daran, das Massaker der Hamas an israelischen Frauen und Mädchen auch nur zu erwähnen. Das eine soll nicht gegen das andere abgewogen werden. Aber es bleibt augenfällig, wie offenbar nicht jedes Opfer gleich viel Mitgefühl verdient."

Israels Regierung sind die zivilen Opfer im Gaza-Streifen egal, sagt der Nahost-Experte Olivier Roy im FR-Interview mit Michael Hesse. Die Bodenoffensive in Rafah wird stattfinden, prophezeit er außerdem, auch, weil eine "echte Gegenreaktion" der internationalen Gemeinschaft ausbleiben wird. Eine zumindest kurzfristige israelische Besatzung nach dem Krieg hält er für unausweichlich: "Solange die derzeitige Regierung in Israel an der Macht ist, wird die Besatzung andauern. Die Politik der rechten Regierung besteht darin, die Zivilbevölkerung zu erschöpfen und zu zermürben, um einen Exodus auszulösen. Die israelische Seite hat nicht die Absicht zu verhandeln, denn die einzig mögliche politische Lösung ist die Zweistaatenlösung, und die israelische politische Rechte ist völlig gegen diese Idee. Das erste Problem ist also ein Regierungswechsel in Israel, aber das könnte nicht ausreichen."

Justus Bender benennt in der FAS das Dilemma der liberalen Demokratie in Bezug auf den Umgang mit demokratiefeindlichen Parteien wie der AfD. Nur mit viel Bedacht kann eine Demokratie gegen solche Kräfte vorgehen, so Bender, denn oft spielt die Empörung über extremistische Aussagen ihren Urhebern lediglich in die Hände: "Man muss das einmal mit den Augen eines Extremisten betrachten: Kaum sagt er, was er denkt, zerlegt sich die Gesellschaft vor seinen Augen. Das bestätigt natürlich jedes Vorurteil über eine schwächliche Staatsform, die Minderheiten nur schützt, wenn sie ihr in den Kram passen." Gegenmaßnahmen müssten mit Vorsicht getroffen werden: "Wer in der liberalen Demokratie repressive Härte gegenüber der AfD fordert, darf also nicht vergessen, wie viel Genauigkeit und Klarheit dafür notwendig sind. Sonst wird die Republik von denen mitbeerdigt, die sie eigentlich verteidigen wollen. Das ist die Misere der wehrhaften Demokratie."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 - Politik

In der SZ wirft ein Autorenteam einen weltweiten Blick auf Länder, die wenig Verständnis für die deutsche "Staatsräson" aufbringen. Nicaragua reichte Klage beim Internationalen Gerichtshof ein, Autoren aus Ägypten und Südafrika gaben ihre Goethe-Medaillen zurück und das äußerst pro-palästinensische Spanien quittiert die deutsche Haltung zumindest mit einem Achselzucken: "Nicht wenige Katalanen und Basken fühlen sich als Volk ohne Staat, unterdrückt von der spanischen Zentralregierung, und erkennen darin ein mit den Palästinensern geteiltes Schicksal. Doch die Unterstützung Palästinas reicht weit über die Autonomieregionen hinaus. Für Palästina und gegen den Krieg in Gaza sind mindestens alle Parteien links der Mitte, Gewerkschaften und viele zivile Organisationen. Regierungschef Pedro Sánchez fordert ein Ende der israelischen Bombardements und einen Palästinenserstaat. Auf Demos wie auch von linken Parteien ist das Wort 'Genozid' zu hören. Die proisraelische Haltung Deutschlands stößt weniger auf Kritik oder Empörung als auf schulterzuckendes Bedauern."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2024 - Politik

Judith Miller erzählt im Tablet Magazine die superfinster faszinierende Geschichte Yahya Sinwars, Hamas-Chef und Gott des Gemetzels vom 7. Oktober. Er saß jahrelang in israelischen Gefängnissen, weil er eigenhändig vier palästinensische "Kollaborateure" ermordet hatte. Die Israelis hatten Sinwar im Gefängniskrankenhaus vor einem Hirntumor gerettet, und er hatte sich bei ihnen in perfektem Hebräisch bedankt. Aber das änderte nichts an seinem festen Vorsatz, das gesamte "palästinensische" Gebiet von Juden zu "befreien". Sinwar wurde im Rahmen des Austauschs gegen den israelischen Soldaten Gilat Shalit 2006 aus dem Gefängnis entlassen, zu seinem Leidwesen: Es waren tausend Hamas-Terroristen gegen Shalit getauscht worden, er aber wollte, dass alle Terroristen befreit werden: "Drei Wochen nach dem 7. Oktober schlug Sinwar erneut vor, alle Palästinenser in israelischen Gefängnissen im Austausch für die Geiseln freizulassen… Benjamin Netanjahu lehnte dies schnell und heftig ab. Sinwar sei ein 'lebender Toter', sagte Netanjahu und beteuerte, Israels Ziel Nr. 1 in seiner massiven Offensive zu töten. Israel setzte ein Kopfgeld von 400.000 Dollar für Informationen über seinen Aufenthaltsort aus. Doch Sinwar ist Israels Zorn bisher entgangen."

Sehr interessant liest sich ein ausführlicher Twitter-Post des französischen Politologen und Publizisten Ferghane Azihari, der auf die propalästinensische Politikerin Rima Hassan antwortet, die wiederum im französischen Fernsehen eine Einstaatenlösung für Israel fordert, um die "Apartheid" abzuschaffen (ihr Video ist in dem Tweet eingebettet). "Wenn man über das Zusammenleben von Juden und arabischen Muslimen spricht, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wie Minderheiten (nicht nur jüdische) heute in Ländern behandelt werden, in denen arabische Muslime die Mehrheit stellen, dann ist das nicht nur eine Verhöhnung der Welt. Es zeigt, dass einem das Wohlergehen der arabischen Welt und der Frieden innerhalb dieser Welt völlig egal sind."

In der NZZ zeichnet der Sozialwissenschaftler Matthias Messmer die "unheilvolle Allianz" zwischen Russland und China nach, die im schlimmsten Fall zum dritten Weltkrieg führen könnte, wie einige Experten befürchten. Allerdings zieht Russland gegenüber China inzwischen den Kürzeren: "Fast siebzig Jahre lang war Moskau der große Bruder ('gege'), mittlerweile ist Russland längst zum kleinen Bruder ('didi') degradiert. Das ist, wohl oder übel, mittlerweile auch Putin klar, so dass er sich bei Xi mittlerweile unterwürfig anbiedert. Der Kremlchef weiß, dass sein Land China gegenüber nicht viel mehr zu bieten hat als natürliche Ressourcen, Waffentechnologie und ideologische Rückendeckung für Pekings Ringen mit den USA. Folglich wäscht eine Hand die andere: So wie China sich weigerte, russische Militäraktionen in Tschetschenien, Georgien, Syrien und, im jüngsten Fall, in der Ukraine zu verurteilen, unterstützte Russland voll und ganz die chinesischen Positionen in Bezug auf Taiwan, Hongkong, Tibet und Xinjiang. Selbst im Südchinesischen Meer demonstriert Moskau stillschweigende Unterstützung für Pekings Position."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2024 - Politik

Bei Tablet, aus dem Englischen übersetzt von der NZZ, hat Abraham Wyner, Professor für Statistik und Datenwissenschaft an der Wharton School der University of Pennsylvania, starke Zweifel an den palästinensischen Opferzahlen, die die Hamas herausgibt. "Die Hamas selber hat am 15. Februar erklärt, sie habe bisher 6.000 ihrer Kämpfer in diesem Krieg verloren. Damit wären mehr als 20 Prozent der bisher Getöteten Angehörige der Hamas gewesen. Dies ist nicht möglich - es sei denn, Israel tötet keine Männer, die nicht Kämpfer der Hamas sind. Oder die Hamas behauptet, dass fast alle Männer in Gaza Hamas-Kämpfer sind. ... Einige Kommentatoren haben eingeräumt, dass die Zahlen der Hamas bei früheren Kämpfen mit Israel etwa stimmten. Dennoch ist dieser Krieg, was Umfang und Ausmaß betrifft, völlig anders. Internationale Beobachter fehlen diesmal. Der Nebel des Krieges ist im Gazastreifen besonders dicht - und er macht es unmöglich, die Zahl der zivilen Todesopfer schnell und genau zu bestimmen. Bei der offiziellen palästinensischen Zählung der Todesopfer macht die Hamas Israel für alle Todesfälle verantwortlich. Selbst wenn diese durch fehlgeleitete Raketen der Hamas, versehentliche Explosionen, vorsätzliche Tötungen oder interne Kämpfe verursacht wurden."

Im Interview mit der FR ist Joseph Croitoru überzeugt, dass Israel die Hamas gepäppelt hat, um die Palästinenser zu spalten. Und der Krieg im Gaza ist vor allem ein Rachefeldzug, meint er: "Schon deshalb will Netanjahu ihn sicherlich so lange wie möglich weiterführen. Außerdem ist seine Regierung gespalten was die Kriegsziele angeht, denn die rechtsextremen Elemente wollen ja nicht nur die Zerschlagung der Hamas, sie wollen auch den Gazastreifen neu besiedeln. Hinzu kommt, dass Israels politische und militärische Elite gerne einen Bogen um die Frage machen würde, wer eigentlich für das Sicherheitsversagen am 7. Oktober verantwortlich ist. ... Meine Recherchen zeigen, dass der militärische Arm der Hamas-Bewegung mit der Zeit immer einflussreicher wurde. Wohl auch deshalb, weil auf israelischer Seite ein ständiger Rechtsruck stattfand, bei dem sich die Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank gefragt haben, was sie überhaupt noch bewirken können, um ihre Lage zu verbessern. Diese Aussichtslosigkeit hat sicher zu einer weiteren Radikalisierung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft geführt."

In der NZZ fragt sich Michael Wolfssohn, warum sich die Palästinenser derart von der Hamas manipulieren lassen. Er setzt am Ende auf eine Einstaatenlösung: "Als einzige Alternative bieten sich föderative Strukturen an. Konkret: eine Mischung aus Kantonen in einem Bundesstaat 'Israel-Palästina', bestehend aus Israel plus Westjordanland und Gazastreifen, sowie Jordanien-Palästina, denn rund 80 Prozent der Jordanier sind Palästinenser. 'Frieden durch Föderalismus'. Wenn 'die' Palästinenser auch künftig auf Gewalt setzen, werden sie sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfinden. Weitsichtig hatte davor bereits im Herbst 1982 der Palästinenser Issam Sartawi gewarnt. Im April 1983 erschossen ihn extremistische Landsleute. Er fehlt mehr denn je."

Der britisch-jüdische Anwalt Philippe Sands vertritt Palästina vor dem Internationalen Gerichtshof im Streit um die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Im Interview mit Zeit online erklärt er, warum ein Gutachten des IGH von großer Bedeutung wäre, selbst wenn das Gericht seine Entscheidung nicht durchsetzen kann: "Selbstverständlich hat Israel das Recht, sich gegen Terrorangriffe, Raketen und Bomben zu schützen, aber seine Maßnahmen müssen mit dem internationalen Recht vereinbar sein. Es gibt keine juristische Rechtfertigung für 700.000 jüdische Siedler in diesen Gebieten und die Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung. Ich hoffe außerdem, dass der IGH feststellen wird, dass Palästina alle Kriterien einer Staatlichkeit erfüllt. Denn alles, was das Haager Weltgericht tun kann, um die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung zu verbessern, ist gut. ... sollte der IGH bestätigen, dass die Bedingungen für eine Staatlichkeit erfüllt sind, würde es anderen Ländern leichter fallen, Palästina als Staat anzuerkennen. Ich könnte mir vorstellen, dass dann Länder wie Spanien, vielleicht auch Großbritannien, die USA und Deutschland dazu bereit wären."
Stichwörter: Hamas

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2024 - Politik

Ein Autorenteam der NZZ geht sehr nüchtern die Berichte über sexuelle Gewalt am 7. Oktober durch und spricht mit israelischen Ärzten und anderen Offiziellen. Einige der Berichte, die nach dem 7. Oktober kursierten, haben sich als falsch erwiesen. Aber die Autoren resümieren: "Sexualisierte Gewalt in militärischen Konflikten wird fast nie vollständig aufgeklärt - erst recht nicht bei einem solch massiven Überraschungsangriff, wie ihn die Hamas am 7. Oktober durchgeführt hat. Dennoch: Es existieren klare Hinweise, dass die Terroristen nicht nur gefoltert und gemordet haben. Augenzeugen berichteten von Vergewaltigungen während des Angriffs und sexuellem Missbrauch in Geiselhaft. Geborgene Leichen deuten auf Sexualverbrechen hin und weisen Verstümmelungen im Genitalbereich auf. Die Uno registrierte ein Muster von Frauenleichen, die an Bäumen und Stangen gefesselt waren, von der Taille abwärts oder vollständig entkleidet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2024 - Politik

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Gemeinsam mit der brasilianischen Autorin und Juristin Paula Macedo Weiß hat die Brasilianerin Aurea Pereira Steberl gerade das Buch "Eine brasilianische Lebensgeschichte" veröffentlicht. Im FR-Interview spricht sie über die Frauenfeindlichkeit in Brasilien, die unter Jair Bolsonaro noch zugenommen hat: "Besonders schlecht ist es für schwarze Frauen. Der gesellschaftliche Aufstieg ist für sie nahezu unmöglich. Der Grund ist der strukturelle Rassismus in Brasilien. Sie können nur als Hausfrauen arbeiten oder niedere Tätigkeiten versehen. Die Arbeit, die sie verrichten, wird nicht geschätzt. Sie verdienen daher fast kein Geld. Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht, dass schwarze Frauen überhaupt keinen Zugang zu Bildung haben. Erst seit ein paar Jahren gibt es Quoten, durch die schwarze Frauen an Universitäten kommen. Ohne das könnten sie niemals gesellschaftlich aufsteigen. Die Frauen arbeiten dennoch mehr als in Deutschland. Die brasilianische Gesellschaft ist frauenfeindlicher als in Deutschland, dennoch arbeiten sie dort viel mehr als hier."

Vor fünf Jahren ermordete der Australier Brenton Tarrant 51 Muslime in der neuseeländischen Stadt Christchurch. In der taz befürchtet Dennis Miskić eine Zunahme des Rechtsextremismus. In der FAZ geht Till Fähnders dem Versagen der Behörden nach, die Tarrant in rechtsextremen Foren durchaus vor der Tat hätten aufspüren können. Wie Forscher auf dem Wissenschaftsblog The Conversation berichteten, "hatte Tarrant insbesondere im Jahr vor seiner Tat die Absicht kundgetan, mit einem gewalttätigen Angriff auf eine Schule oder ein Gotteshaus einen 'Rassenkrieg' heraufbeschwören zu wollen. Die Beiträge haben den Forschern zufolge eine besondere Relevanz dadurch, dass Tarrant etwa zur gleichen Zeit mehrere Waffen erworben hatte. 'Tarrant ließ also nicht nur seine Gewaltpläne 'durchsickern', sondern tat dies genau in dem Moment, als er Waffen dafür kaufte', schrieben die Wissenschaftler." Ostern 2019 fand dann als islamistische Antwort auf Christchurch das Attentat auf die christlichen Gemeinden von Sri Lanka mit 253 Toten statt, auf das die Zeitungen dann sicher zu Ostern zurückkommen.

Im Interview Nicola Abé vom Spiegel beschreibt Yuval Noah Harari die Stimmung in Israel nach dem 7. Oktober so: "Sowohl Israelis als auch Palästinenser müssen ihre schlimmsten Albträume, ihre Urangst, noch einmal neu erleben. Das Ergebnis: Jedes verbliebene Vertrauen in die andere Seite ist völlig zerstört. Beide Seiten sind nun voller Hass und Angst. Und sie sind es aus gutem Grund. Das ist ein psychologisches Problem. Der Schmerz ist jetzt so groß, dass die Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind, das kleinste bisschen Empathie für den anderen zu empfinden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2024 - Politik

Der israelische Dramatiker und Autor Joshua Sobol bleibt trotz allem im Zeit-Gespräch mit Peter Kümmel optimistisch, hofft auf vernünftige Palästinenser und darauf, dass die Siedler-Bewegung nicht komplett ausrastet: "Falls es zur Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Israel kommen sollte, könnte ich mir vorstellen, dass fanatische Siedler versuchen werden, die Situation außer Kontrolle geraten zu lassen. Ich glaube aber nicht, dass es zum Bürgerkrieg kommt. In unserem Land gilt der Bürgerkrieg als der letzte Schritt vor der totalen Zerstörung. Gleichwohl: Es liegt sehr viel Ungewisses in der Luft. 2025 wird ein entscheidendes Jahr in der Geschichte Israels sein. Entweder es kommt zu einem radikalen Politikwechsel, oder aber es wird fürchterlich. Sehr viele Menschen reden ernsthaft über Auswanderung - sollte es zu massenweiser Auswanderung kommen, wäre das eine existenzielle Krise."
Stichwörter: Sobol, Joshua, Israel