9punkt - Die Debattenrundschau

Individuelle Koloraturen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2024. Auf ZeitOnline diagnostiziert der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad eine unumkehrbare Kluft zwischen iranischer Regierung und Gesellschaft. Die Welt fordert eine Zeitenwende auch mit Blick auf den Iran. Im Guardian wirft die israelische Politologin Dahlia Scheindlin Netanjahu vor, den zionistischen Gründungsgedanken aufs Spiel zu setzen. Die taz erfährt von dem Politologen Kai Arzheimer: Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist die Partei für Menschen in der Midlife-Crisis. Und die FR fordert: Stärkt Kulturinstitutionen in ländlichen Gegenden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.04.2024 finden Sie hier

Politik

Der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad teilt auf Zeit Online seine Einschätzung zum Konflikt zwischen Iran und Israel. Das iranische Staatsfernsehen zeigte teilweise Fake-Bilder von Raketeneinschlägen in Israel - in Wahrheit aber, so Fathollah-Nejad, fühlte sich die Islamische Republik wegen der Tötung des Generals Mohammad-Reza Zahedi in Damaskus "unter Zugzwang". Den tatsächlichen Ausbruch eines Krieges wolle Iran nicht riskieren - er wäre innenpolitisch fatal: "Ein direkter Krieg gegen Israel und möglicherweise die USA wäre für Teheran militärisch und wirtschaftlich außerordentlich riskant und würde das Überleben des Regimes gefährden. Innenpolitisch befindet sich das Regime in einer tiefen Legitimationskrise. Die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft erscheint unumkehrbar. Die iranische Gesellschaft ist sich sehr bewusst, dass das außenpolitische Gebaren der Islamischen Republik den Interessen des Regimes dient und nicht den Menschen im Land. "

Clemens Wergin sieht es in der Welt anders: Im Gegenteil sei Irans Attacke eben "nicht nur eine gesichtswahrende Maßnahme nach Israels Angriff auf iranische Terror-Kommandeure in Damaskus, sondern ein kriegerischer Überfall." Teheran sei zur "offenen Kriegsführung" übergegangen, so Wergin, was unter anderem auch ein Scheitern der westlichen Iranpolitik bedeute, die auf dem Prinzip der Beschwichtung beruht habe - eine "Zeitenwende" wie sie Russland gegenüber verkündet wurde, muss auch hier geschehen, ruft Wergin: "Dazu gehört, die iranischen Revolutionswächter und Iran-Klienten wie die Hutis auf die europäische Terrorliste zu setzen und neue Sanktionen gegen Teheran einzuführen. Westliche Länder sollten aber auch in ernsthafte Konsultationen mit Israel eintreten über Möglichkeiten, das iranische Atomprogramm mit militärischen Mitteln auszuschalten. Denn wenn Irans Angriff auf Israel eins gezeigt hat, dann dass: Wenn sie einmal die Bombe haben, wären die Mullahs verrückt genug, sie auch einzusetzen."

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Netanjahu setzt den zionistischen Gründungsgedanken aufs Spiel, schreibt im Guardian die israelische Politologin Dahlia Scheindlin, Autorin des Buches "The Crooked Timber of Democracy in Israel": "Unabhängig davon, ob man den Zionismus unterstützt oder verabscheut, sollte man seine Ziele bedenken: ein sicherer Hafen für das jüdische Volk zu sein.  …. Ein Ort, an dem das jüdische Volk - und alle anderen - ihr Potenzial entfalten und in Sicherheit leben können. (…) In vielerlei Hinsicht hoffte der Zionismus, dass das jüdische Volk den anderen gleichgestellt werden würde, nicht besser oder schlechter. Er war also sowohl eine Bewegung des Exzeptionalismus als auch des Auserwähltseins, die zum Teil darauf abzielte, Durchschnitt zu werden. Stattdessen steuert Israel auf den Pariastatus zu. Israelis kauern in Unterkünften, sind gezwungen, aus ihrem souveränen Land zu fliehen, und werden in die geschrumpften Grenzen ihres eigenen Landes gezwängt. Unerschütterliche Verbündete hielten Israel während des direkten Angriffs des Irans von Staat zu Staat am Samstagabend die Treue, aber Israels Krieg im Gazastreifen, der auf fast sechs Jahrzehnte Besatzung folgt, hat große Teile der Öffentlichkeit im Nahen Osten und im Westen verloren. In demokratischen Ländern, in denen die Menschen frei wählen, werden sie in Zukunft Führer wählen, die weit weniger freundlich zu Israel sind."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

"Nehmt die Kulturpolitik endlich Ernst!", ruft Björn Hayer in der FR der für uns in die EU-Wahlprogramme der großen Parteien geschaut hat. Bei SPD und CDU findet er kaum etwas zu diesem Thema - die AfD wiederum scheint die Wichtigkeit erkannt zu haben, was Hayer durchaus beunruhigend findet: "Unter dem Deckmantel der Subsidiarität soll beispielsweise die Vorstellung einer europäischen Kulturgemeinschaft zugunsten der Stärkung nationalistischer Identitätspolitik aufgelöst werden." Hayer plädiert dafür, vor allem Kulturinstitutionen in ländlichen Gegenden zu stärken, um die Vielfalt dort zu fördern : "Und wäre nicht erst recht eine solche Kulturpolitik durch und durch europäisch? Eine, die individuelle Koloraturen auf regionaler Ebene fördert, ohne sie in irgendeiner Weise vereinheitlichen zu wollen? Trägt es nicht gerade dem EU-Slogan 'In Vielfalt geeint' Rechnung, eine wohlmeinende Akzeptanz des Anderen zu leben? Routiniert debattieren die Kandidatinnen und Kandidaten bei jeder Wahl zum Europäischen Parlament die Frage, was europäische Identität ausmache. Vielleicht ist aber eben schon die Frage nicht mehr zeitgemäß, weil dieses Gebilde unterschiedlicher Staaten bisher nur gelingt, weil man ihre Heterogenität zulässt und bestenfalls sogar an der Auseinandersetzung mit ihr wächst. Möglich ist dies allerdings nur auf Basis geteilter Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit."

Im Interview mit der Berliner Zeitung bekräftigt der Architekt Philipp Oswalt seine Vorwürfe gegen die Humboldtstiftung (unser Resümee). Spender aus dem rechten Milieu hätten Einfluss auf die Gestaltung der Kuppel genommen, so Oswalt. Der ursprüngliche Entwurf des Architekten Frank Stella sei illegitimerweise überarbeitet worden: "Die Stiftung lügt, wenn sie sagt, dass es keinen Einfluss der Spender gegeben hat. Die zusätzlichen Rekonstruktionen waren nicht durch den Grundsatzbeschluss von 2002 abgedeckt, und deshalb auch nicht haushalterisch unterlegt. Das heißt, das musste durch Spenden finanziert werden. Das war allen Beteiligten klar. Die Politik sah sich dann in der Pflicht, Spenderwünschen nachzukommen. Und es ist ja auch eigentlich nicht problematisch, dass bei einem Projekt, bei dem es eine zivilgesellschaftliche Teilhabe gibt, eine Mitgestaltung erwünscht ist. Das wird nur deshalb heikel, weil dabei auch rechtsradikale Positionen eine Rolle gespielt haben."
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Stichwörter: EU-Wahlen, AfD, CDU, SPD

Ideen

Die 1993 geborene Autorin Pauline Voss, die in ihrem neuen Buch mit der Generation Z abrechnet, wirft in der NZZ den "Woken" Traditionsvergessenheit vor: "Die Wokeness ist im Kern ein radikal antikonservatives Projekt: Indem die Conditio humana und die aus ihr resultierenden Fragen verleugnet werden, verlieren sämtliche Traditionen ihre Legitimation. Sie werden nicht länger als bestmögliche Lösungen eines Problems angesehen, die aus einem langen Prozess gesellschaftlicher Aushandlung resultieren, sondern als Produkte einer fehlgeleiteten Wahrnehmung." Voss schreibt dieser Haltung weitreichende politische Konsequenzen zu: "Die Anhänger der Wokeness bewerten die Welt allein nach metaphysischen Kriterien. Der Westen ersetzte seine Vorherrschaft durch metaphysische Selbstgeißelung. Er ließ zu, dass die Idee der Aufklärung als reines Instrument weißer Dominanz uminterpretiert werden konnte. Er akzeptierte, dass der Orient zu einem sozialen Konstrukt des Westens deklariert wurde, ohne gleichzeitig die Werte der Aufklärung zu schützen und Israel vor Angriffen anderer Nahoststaaten zu bewahren. Das Vakuum, das der Westen auf physischer Ebene hinterließ, füllten andere."
Archiv: Ideen

Europa

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Die Schriftstellerin Joana Osman hat bereits vor dem aktuellen Krieg einen sehr lesenswerten Generationenroman über das Schicksal ihrer palästinensischen Familie geschrieben. Im Spon-Interview schildert sie, wie sie sich für einen Austausch zwischen der israelischen, der iranischen und palästinensischen Zivilgesellschaft einsetzt und versucht zu entschuldigen, weshalb die meisten Palästinenser hierzulande zum Hamas-Angriff schwiegen: "Ich verstehe den Wunsch nach Klarheit. Es ist wichtig, sich rechtzeitig gegen Terror jeder Art zu positionieren. Aber ein Bekenntniszwang hilft nicht weiter, den verlangen wir anderen auch nicht ab. (…) Ich kenne viele Palästinenser, die sich sehr klar gegen Terrorismus und für ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten ausgesprochen haben, die aber auch betonen, dass das, was im Moment in Gaza passiert, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. (…) Vielen wird zu Unrecht vorgeworfen, antisemitisch zu sein. Ich entschuldige niemals Antisemitismus, dafür gibt es keine Rechtfertigung. Man kann trotzdem nicht auf jede Form der Kritik an Israel das Label Antisemitismus setzen. Angst macht mir auch der unsägliche Versuch, Antisemitismus bekämpfen zu wollen, indem man rassistisch wird gegenüber Palästinensern. Umgekehrt wollen einige die Palästinenser vor Rassismus schützen und gleiten in einen perfiden Antisemitismus ab."

Die Parteien der Koalition von Polens Ministerpräsident Donald Tusk hatten im Wahlkampf versprochen, das Abtreibungsrecht in Polen zu liberalisieren, nun hat sich ein überwiegend mit Frauen besetzter Sonderausschuss im Parlament der Sache angenommen, berichtet Reinhard Veser in der FAZ. Aber die Vorstellungen innerhalb der neuen Regierung gehen weit auseinander: "Während eine Mehrheit im Dritten Weg für eine Rückkehr zum Kompromiss von 1993 eintritt, wollen Tusks Bürgerplattform und die Linke die Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlauben; ihre Gesetzesentwürfe unterscheiden sich darin, wie weit sie die Liberalisierung treiben wollen. Hołownia spricht sich angesichts der Zerrissenheit seines Bündnisses in dieser Frage für ein Referendum aus. Der Sejm, in dem Männer über 50 stark überrepräsentiert sind, sei offensichtlich konservativer als die Gesellschaft, argumentiert er. Außerdem könne Präsident Duda das Ergebnis eines Referendums nicht ignorieren. Allerdings hat der Präsident schon deutlich gemacht, dass er ein Referendum nicht zulassen werde."

Die taz gratuliert sich heute zum 45-jährigen Bestehen und widmet ihre Ausgabe der Midlife-Crisis. Unter anderem erinnern sich taz-RedakteurInnen an die vergangenen Jahre. Und weil offenbar vor allem Menschen ab 45 im Bündnis Sahra Wagenknecht vertreten sind, horcht Daniel Bax bei dem Politologen Kai Arzheimer nach, wen die Partei genau ansprechen will: "Das sind vor allem Leute aus der unteren Mittelschicht, klassische Facharbeiter und alle, die sich eine traditionelle sozialdemokratische Politik wünschen - also mehr Staat, höhere Steuern und bessere Sozialleistungen - und zugleich eine Gesellschaftspolitik ablehnen, die sich in ihren Augen zu sehr um Minderheiten, Kultur und Zuwanderung dreht. Gegen das BSW spricht, dass diese Leute vermutlich schon die AfD wählen."
Archiv: Europa

Medien

In der FAZ rechnet Helmut Hartung vor, was die Sanierung der Immobilien der Öffentlich-Rechtlichen kosten soll: "Die Sanierung der Deutschlandradio-Standorte in Köln und Berlin für 356,3 Millionen Euro ist nur die Spitze des intransparenten Immobilienberges, den die öffentlich-rechtlichen Sender auf Kosten der Beitragszahler sanieren oder erweitern lassen. Insgesamt haben der Bayerische Rundfunk, der NDR, der SWR, der WDR, das ZDF und das Deutschlandradio laut 24. KEF-Bericht Großinvestitionen von insgesamt 770,2 Millionen Euro angemeldet. (…) Zu den fragwürdigen Investitionen gehört auch die Sanierung des Kölner Filmhauses des WDR." Die Finanzkommission KEF fordert entsprechend ein besseres Immobilienmanagement: "In einem sofortigen Quickcheck soll unter anderem die Schaffung vollständiger Datengrundlagen, eine Potentialabschätzung sowie die Entwicklung von Handlungsalternativen erfolgen. Alle Rundfunkanstalten müssen bis Ende dieses Jahres eine einsparorientierte Immobilienstrategie erarbeiten, die den Flächenbedarf sowie eine Planung der Flächenbedarfsdeckung enthält."
Archiv: Medien

Internet

Zehn Jahre nachdem Mathias Döpfner in der FAZ einen offenen Brief an den damaligen Google-Vorstandsvorsitzenden Eric Schmidt geschrieben hat (Unser Resümee), in dem er die Marktmacht von Google im Werbemarkt kritisierte, macht er erneut eine Bestandsaufnahme und meint, alles ist viel schlimmer gekommen: "Das, was Harvard-Professorin Shoshana Zuboff 'Überwachungskapitalismus' nennt, hat sich weitgehend durchgesetzt. Google (beziehungsweise Alphabet) hat bei einer Marktkapitalisierung von knapp 2 Billionen Dollar das Geschäftsmodell und also die Umsätze der Verlage - und fast der gesamten 'Creative Industries'  - weitgehend aufgesaugt. (…) Der Kampf der Verlage um ein modernes, den digitalen Realitäten angepasstes Copyright war nach fünfzehn Jahren zur großen Überraschung aller wenigstens in der EU erfolgreich. Aber es war zu spät. Die meisten Verlage waren bereits wirtschaftlich sehr stark unter Druck und flüchteten sich in Einzelverträge mit Google statt in eine robuste kollektive Rechteverwertung, was den Niedergang beschleunigte."
Archiv: Internet
Stichwörter: Döpfner, Mathias, Google