Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 8. Tag

Von Thekla Dannenberg, Sascha Josuweit, Ekkehard Knörer
13.02.2002. Warum haben Sie nicht gelacht? Claude Lanzmanns Dokumentarfilm "Sobibor" (Forun). Kalt und bunt: Wes Andersons "The Royal Tenenbaums". An den Rändern der Bilder: "Chen Mo und Meiting" von Liu Hao.
Warum haben Sie nicht gelacht? Claude Lanzmanns Dokumentarfilm über "Sobibor" (Forum)

Mittwoch, 21.25 Uhr

Wenn "Shoah" der Film über den Tod und die Vernichtung, über Ohnmacht und Scham war, ist "Sobibor" ein Film über den Kampf, den Erfolg - und Helden. Darin berichtet Yehuda Lerner über den Häftlingsaufstand vom 14. Oktober 1943. Ein tatkräftiger, entschlossener Mann, mit geraden Gesichtszügen, hellen Augen, und ebenso klarer Haltung. "Wenn ein Mann leben will, ist ihm alles möglich", sagt er.

Die Interviews mit Lerner hat Claude Lanzmann bereits 1979 während seiner Dreharbeiten zu "Shoah" geführt, doch damals wollte ihm Lerners Geschichte nicht in den Film passen. Nun ist er noch einmal nach Polen und Weißrussland gereist, hat in Warschau, Minsk und Maidanek gefilmt. Während Lerner von seiner Odysse vom Warschauer Ghetto aus durch acht verschiedene Lager berichtet, von Flucht und Gefangennahme, von Deportation, Hunger und Typhus, hört man ihn über weite Strecken nur aus dem Off. Zu sehen sind die Bilder aus dem modernen Warschau oder Minsk, von Bahngleisen oder Waldlandschaften. Orte der Vernichtung, deren Geschichte nicht mehr sichtbar ist.

Yehuda Lerner war siebzehn Jahre alt, als er im September 1943 zusammen mit jüdischen Kriegsgefangenen nach Sobibor deportiert wurde. Hier blieb man nicht, wie Lanzmann sagt, hier wurden Deportierte innerhalb von zwei Stunden in den Gaskammern ermordet, mehr als 250.000 Menschen in 18 Monaten. Lerner hat dem Schicksal und den Deutschen bis dahin schon häufig ein Schnippchen geschlagen, und auch diesmal entkommen er und 60 weitere Kriegsgefangene dem sofortigen Tod, sie werden zum Arbeitsdienst eingeteilt. Männer mit der Bereitschaft und der Fähigkeit zu kämpfen.

Der beeindruckendste Part des Films ist natürlich der Bericht über den Aufstand selbst. Nun ist Yehuda Lerner die ganze Zeit im Bild zu sehen. Der Plan sah vor, die deutschen SS-Offiziere in die verschiedenen Baracken zu locken, um sie einzeln zu töten. Für die Präzision des Ablaufs sorgten die Deutschen selbst. Der erste Wachmann wird in der Nebenbaracke um 15.55 Uhr mit einer Axt erschlagen. Um 16 Uhr muss Lerner den zweiten töten. Mit einem "Pach" schnellt seine Hand immer und immer wieder herunter, wenn er es erzählt, als müsste er noch einmal Angst und Schrecken erledigen. Doch um 16.05 Uhr wird der nächste SS-Mann getötet. Ein Zinnsoldat nach dem anderen marschiert in die Falle. Insgesamt elf. Der Trick, die Deutschen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen - ihrer Pünktlichkeit - hat Le Monde dazu gebracht, "Sobibor" neben Lubitschs "Sein oder Nichtsein" zu stellen, wie Lanzmann in der anschließenden Diskussion erzählt. Lerner steht tatsächlich manchmal ein Grinsen im Gesicht, aber man weiß auch, dass er das Grauen weglachen will.

Einige Häftlinge konnten tatsächlich entkommen. Die meisten wurden von den ukrainischen Wachmannschaften getötet. Aber sechs Tage nach der Revolte kommt am 20. Oktober zum letzten Mal ein Deportationszug nach Sobibor. Das Vernichtungslager wird geräumt. "Der Rest", sagt Lerner, "ist ein Abenteuer der Freiheit".

Nach der Vorstellung wundert sich Claude Lanzmann über das Publikum: "Sie haben ja gar nicht gelacht." Thekla Dannenberg
"Sobibor, 14 Octobre 1943, 16 heures", von Claude Lanzmann, Dokumentarfilm, Frankreich 2001, 95 Min.
Termine.


Mittwoch, 20.00 Uhr

Kalt und bunt: Wes Andersons "The Royal Tenenbaums" (Wettbewerb)

Tobias Kniebe stellt heute in der Süddeutschen Zeitung die entscheidende Frage: "Wer sind diese Leute, muss man also fragen, die sich der sublimen Größe dieses Magiers entziehen können?" Der Magier ist, seiner Meinung nach, der als neues amerikanisches Regie-Genie gefeierte Wes Anderson, die sublime Größe hat er in seinem neuesten Film "The Royal Tenenbaums" entdeckt. Wer die anderen Leute sind, weiß ich nicht, aber hier ist schon mal einer.

So recht beschreiben kann Kniebe die Faszination Tenenbaum nicht, entdeckt hat er immerhin "tausend popkulturelle oder komplett private Referenzen". Und es stimmt, die gibt's, der Film ist übervoll damit. Aber gerade diese Überfülle, diese Wut, mit der jedes einzelne Bild bis an den Rand des Wahrnehmbaren mit nichts weiter als sich selbst bedeutenden Verweisungen (ins Nichts), mit farbenfroher Popkultur ausgestopft wird, stellt sich, andersrum betrachtet, gerade als das größte Problem dar. Sie macht nämlich jede einzelne der Einstellungen zum bloßen Ausstellungsstück, zum Stilleben beinahe, in dem alle Bedeutung, alle Narration, auch die Figuren stillgestellt sind, tote Requisiten.

Diese Requisiten, die die Figuren sind, müssen nun - ganz und gar künstlich und mühevoll - reanimiert werden durch einen Plot, der Wes Anderson im Grunde seines Herzens scheißegal ist, durch Schicksale, mit denen er einen Scherz um den anderen treibt. Unterteilt ist sein Film in acht Kapitel plus Epilog, eingeleitet wird jedes dieser Kapitel durch den Blick auf die ersten Zeilen des Drehbuchs. Der Film selbst ist dann sozusagen nichts als die Fortsetzung des Drehbuchs mit den Mitteln der ins kleinste ausformulierten Bebilderung (und Vertonung: Popmusikreferenzen von Nico, zweimal, bis Nick Drake etc. pp, spielen eine große Rolle), keineswegs etwas, das sich eigenständig voranbewegen könnte, das eine eigene Dynamik hätte.

Abgesehen von der Implosion in den eigenen Bildern und Verweisen (die durchaus beabsichtigt ist), zielt "The Royal Tenenbaums" auf zwei weitere Dinge, eines direkt, das andere indirekt. Was er will, unmittelbar und Bild für Bild, ist Komik. Um die zu erreichen, scheut er keine Skurrilität, vor allem auch: keine Denunziation seiner Protagonisten. Was man Todd Szolondz, der in Wahrheit einfach ein pessimistischer Humanist ist, bei seinem Meisterwerk "Happiness" immer vorgeworfen hat, gilt stattdessen ohne jede Einschränkung für Wes Anderson: Für einen guten Scherz verkauft er nicht nur seine Großmutter, sondern gleich die ganze Familie Tenenbaum.

Ob Chas (Ben Stiller) und seine schreckliche Angst vor einem neuerlichen Unglück (seine Frau ist bei einem Flugzeugabsturz umgekommen, den er und seine zwei Söhne überlebt haben), ob Margot (Gwyneth Paltrow) und ihre Dauerdepression, Royal Tenenbaum (Gene Hackman) und sein Wunsch, seiner Rolle als fürsorgendes Familienoberhaupt nach zwanzig Jahren Totalausfall doch noch gerecht zu werden. All das, diese ganze Familie mit ihren Schrullen, ihren Problemen, ihren Talenten und ihren Versagensängsten, ist nichts (wirklich nichts) als ein Vorwand für Anderson, sich einen ausgefeilten Jux nach dem anderen zu machen. Alles schön bunt hier, aber dahinter stecken eine Eiseskälte und eine Selbstgefälligkeit, die einen richtig wütend machen können.

Andersons letzter unverschämter Coup ist es, aus diesen Simulationen von richtigen Menschen, dieser Parade von Pappkameraden, am Ende auch noch Momente der Rührung ziehen zu wollen. Gerne würde man sagen: er macht sich über gewisse Hollywoodkonventionen lustig, das Happy End, auf das er seine Figuren zusteuert, ist Satire. Das aber ist nicht der Fall. Anderson glaubt allen Ernstes, den Zuschauern auf einer über die Satire noch einmal hinübersteigenden Ebene ein Mitgefühl entlocken zu können mit seinem durch und durch künstlichen Menschenzoo. Das ist der Punkt, an dem "The Royal Tenenbaums" nicht nur nicht komisch, nicht nur ein Zombie von einem Film ist, sondern auch noch in maßloser Selbstüberschätzung so richtig verlogen.
Ekkehard Knörer (von Jump-cut)
"The Royal Tenenbaums", von Wes Anderson, USA 2001, mit Gene Hackman, Anjelica Houston, Gwyneth Paltrow u.a., 110 Min.
Termine.
Homepage des Films.


Mittwoch, 19 Uhr

An den Rändern der Bilder: "Chen Mo und Meiting" (Forum)

Chen Mo und Meiting leben in Peking, zuhause fühlen sie sich hier aber nicht. Chen Mo ist vom Land in die Stadt geflüchtet, voller Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben, Meiting ist die Tochter einer während der Kulturrevolution in die Provinz zwangsumgesiedelten Familie, sie lebt nun, wieder in Peking, von kärglichem Lohn in einem Frisiersalon - das übrigens ist wörtlich zu nehmen, in einem kleinen Verschlag innerhalb des Geschäftszimmers befinden sich die Betten der Angestellten. Der Zufall führt Meiting mit Chen Mo zusammen, er drückt ihr eine Kiste Blumen in die Hand, die er soeben geklaut hat, und rennt weiter. Trotz aller ungünstigen Umstände kommen die beiden sich näher. Als Meiting ihren Job verliert, zieht sie zu Chen Mo. Er haust in einer bitterkalten Kabine, auf winzigem Raum, gelegentlich kommt die Vermieterin vorbei und erhöht die ohnehin überteuerte Miete.

Gemeinsam richten sich die beiden in diesem Loch ein kleines Nest ein, bemuttern sich gegenseitig, Sex aber haben sie nicht, ein kleiner gestohlener Kuss und noch einer, mehr ist nicht drin. Ob das den Konventionen des Kinos (und noch dieser Art von low-budget Independentfilm) geschuldet ist oder den Konventionen der chinesischen Gegenwartsgesellschaft, ob es allein mit der speziellen Unschuld der Figuren zu tun hat: das lässt sich vom gemütlichen Kino am Potsdamer Platz aus nicht beantworten.

Ohnehin kommt man bei einem Film dieser Art mit den eigenen Bewertungskriterien ins Schwanken: klar ist das holprig erzählt, manchmal unbeholfen, der Handkamerastil wiederum ist finanzielle Notwendigkeit einerseits und künstlerische Absicht andererseits. Unschätzbar ist ein solcher Film, ist die im Forum zusammengestellte Reihe jungen und unabhängigen chinesischen Kinos dennoch: der Einblick ins Leben der Tagelöhner und Unterprivilegierten von Peking ist, gerade an den Rändern der Bilder, in den zufällig eingefangenen Alltagsszenen, aufschlussreich und von dokumentarischer Kraft.
Ekkehard Knörer (von Jump-cut)
"Chen Mo und Meiting", von Liu Hao, China/Deutschland 2002, 78 Min.
Termine und Credits.



Mittwoch, 11 Uhr

Und heute die Presse

Die Feuilletons sind etwas ermüdet vom digitalen Format, in dem auch Andreas Dresens "Halbe Treppe" gedreht ist. Sie sehnen sich wieder nach Sonne und dem Glanz der 35-Millimeter.

In der SZ stellt Tobias Kniebe mäßig begeistert fest: "Das Ergebnis ist, nun ja, extrem glaubwürdig". Und fragt sich, warum sich die Protagonistinnen nicht ihre Achseln rasiert hätten. Michael Althen kommt in der FAZ zu dem Schluss: "Letztlich unterscheidet sich der Film nicht wesentlich von der Neuen Deutschen Komödie - er führt sich nur anders auf. So kontert Dresen die Ikea-Komödie mit einer Art von Einbauküchenrealismus."

Dem Tagesspiegel ist dagegen manchmal die Luft weggeblieben "vor lauter Leben". Jan Schulz-Ojala findet den Film "intelligent, amüsant, liebevoll" (mehr Berichte zur Berlinale finden Sie hier). In der FR räumt Rüdiger Suchsland ein, dass dem Film seiner Meinung nach zwar "letzter Wagemut und hoher Anspruch" fehlten, hält ihn aber für absolut preiswürdig. In der taz lobt Barbara Schweizerhof Dresens Kunst, geweckte Erwartungen auf eine Weise zu erfüllen, die ins Gegenteil umschlägt (mehr Berlinale hier).

Auch international macht die Berlinale von sich reden. Beim Surfen stießen wir auf die ungarische Website hungarianfilm.com, die mit einem Interview mit dem Filmwissenschaftler und langjährigen Mitarbeiter der Berliner Filmfestspiele Hans-Joachim Schlegel auf die Berlinale reagiert. Schlegel war an der Einladung von Zoltan Kamondis Wettbewerbsbeitrag "Kisertesek" beteiligt, dem einzig osteuropäischen Wettbewerbsbeitrag in diesem Jahr. Kritisch äußert sich der Publizist zum gegenwärtigen Stand des ungarischen Kinos. "Auch wenn ich dieses Jahr zwei durchaus niveauvolle Filme gefunden habe, muss ich sagen, dass die Mehrheit der Produktionen an die Meßlatte ungarischen Kinos nicht heranreichen kann. Es ist ein wenig enttäuschend, dass diese Filme nicht im Geringsten mit dem Medium und seinen Darstellungsformen experimentieren. Etwas, das wir vom ungarischen Kino durchaus gewohnt sind. Außerdem thematisieren nur die wenigsten Filme wirklich aktuelle Fragen... Gerade dies hatte einmal den ungarischen Film mit ausgemacht...Wenn sich der ungarische Film an Formen der kulturellen Globalisierung orientiert, dann könnte er Gefahr laufen seine Eigenheiten zu verlieren."


Mittwoch, 9.10 Uhr

Einsame Herzen: "Alle Stewardessen kommen in den Himmel" (Panorama) und "Das Windpferd" (Forum)

Gut, unterwegs zu sein. Könnte das Motto nicht weniger Beiträge zur 52. Berlinale lauten. Ob in der finnischen Provinz, in Sibirien, auf Feuerland am äußersten Zipfel der Welt oder in Marokko, allerorten sind die Leute auf Achse, reisen kreuz und quer durch die Landschaft, immer auf der Suche nach etwas, immer, um etwas loszuwerden. Im Panorama und im Forum laufen mit "Todas las azafatas van al cielo" des angesagten jungen Argentiniers Daniel Burman und dem marokkanischen Film "Das Windpferd" von Daoud Aoulad Syad zwei Filme, in denen sich die Wege der Menschen dabei kreuzen und überraschende Verbindungen entstehen.

Bei Burman treffen der verwitwete Arzt Julian und die schwangere Stewardess Teresa in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, aufeinander, nachdem sie aus ganz unterschiedlichen Gründen an diesen ungemütlichen Ort gekommen sind - er, um die Asche seiner Frau (einer Stewardess!) zu zertreuen, sie, um ihr Kind abzutreiben. Auch keine so gemütlichen Gründe. Beide sind vom Leben genug enttäuscht, um, Wand an Wand in benachbarten Hotelzimmern, die Ohren zu spitzen, als im Fernsehen von der "süßen Erfahrung" des Sterbens im Schnee die Rede ist. Bei der praktischen Umsetzung dann kommt es zur tragikomischen Begegnung. Dass daraus Liebe wird, will zumindest Teresa nicht gleich wahrhaben, die sich über den Wolken noch am wohlsten fühlt. Erst als sie wiederum schwanger wird, erkennt sie, dass sich Julian ja nichts sehnlicher wünscht, als in den Himmel der Stewardessen zu kommen - gerade rechtzeitig, um ihn das zweite Mal vorm Kältetod zu retten.

Die Topoi des Todes und der Rettung finden sich auch im "Windpferd" des Marokkaners Daoud Aoulad Syad. Hier begründen sie die sich ebenfalls nur langsam entwickelnde Freundschaft zwischen dem alten Tahar, der sich aufmacht, ein letztes Mal ans Grab seiner geliebten Frau zu pilgern, und dem jungen, an einer unbestimmten Krankheit leidenden Driss, der seinerseits unterwegs ist, um seine sterbende Mutter noch einmal zu sehen. Mit einem Motorrad fährt das ungleiche Paar durch Marokko. Am Ziel angekommen, müssen beide erkennen, dass ihre Beziehung der eigentliche Gewinn der Reise ist.

Mit ihrem eng um Liebe und Tod kreisenden Thema wagen sich Burman und Syad gleichermaßen weit vor aufs heikle Feld der Gefühle. Ein Glück nur, dass beiden Regisseuren so brillante Darsteller zur Verfügung stehen. Tatsächlich wirkt keiner der Filme auch nur einen Moment barock, noch erscheint die Melancholie der Figuren unglaubwürdig. Soweit die Gemeinsamkeiten. Im Arrangement dagegen sind die Filme recht unterschiedlich. Schlägt Syad in seinem nunmehr zweiten Spielfilm eher den Kammerton an und konzentriert sich vor allem auf seine Charaktere, inszeniert Burman vor der Kulisse der verschneiten Anden in imposanten Cinemascope-Bildern (unterlegt mit einem patagonischen Philip Glass), in denen die Figuren manchmal ganz klein werden. Ein bisschen schade ist das insofern als die argentinisch-spanische Koproduktion mit Ingrid Rubio und Valentina Bassi gewiss zwei der schönsten Frauen des Festivals in einem Film vereint.
Sascha Josuweit
"Todas las azafatas van al cielo - Every Stewardess Goes To Heaven" von Daniel Burman, mit Ingrid Rubio, Valentina Bassi, Alfredo Casero u.a., Argentinien/Spanien, 98 Min.
Termine.
"Aoud rih - Le Cheval de vent" von Daoud Aoulad Syad, mit Faouzi Bensaidi, Mohamed Majd u.a., Marokko/Frankreich 2001, 86 Min.
Termine.


Mittwoch, 8.57 Uhr

Unsentimentale Kur: Zhu Wens "Seafood" (Forum)


Xiamei, eine Prostituierte aus Peking, hat vom Leben genug. Mit keinem anderen Ziel als sich umzubringen, fährt sie hinaus aufs Land, nach Beidaihe. Dort machen die Mitglieder von Chinas Politkaste bevorzugt Urlaub, Regisseur Zhu Wen hat aber Bilder gefunden, die das alles andere als wahrscheinlich machen. Der Film eröffnet mit einem Blick aufs Meer, auf die Wellen, die an den Strand spülen. Das ist nicht Xiameis Blick, es ist niemandes Blick. Ein symbolisches Bild, Xiamei ist gestrandet.

In Beidaihe ist Winter, alles ist grau und gottverlassen. Die Videobilder von Seafood sind schmutzig und düster noch in der Helligkeit des Schnees und des Eises, auch sonst: nirgends ein Trost. Im Hotel, das sich Xiamei für ihren Selbstmord ausgesucht hat, gibt es kaum Gäste, nur einen jungen Dichter auf ihrem Gang. Ironie des Schicksals: auch er hat nichts besseres zu tun, als sich umzubringen. Ihm gelingt es, die Polizei taucht auf, vor allem ein Polizist, Deng Jianguo, der ahnt, was Xiamei im Schilde führt, der alles unternimmt, sie daran zu hindern.

Nicht durch gutes Zureden. Er vergewaltigt sie, er schlägt sie, er fährt mit ihr im geliehenen Angeberauto (ein Audi!) durch die Gegend, füttert sie mit Fisch, daher der Titel, in der festen Überzeugung, dass man angesichts von Muscheln und Meeresfrüchten nicht mehr ernsthaft an Selbstmord denken kann. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden, Xiamei will fliehen, er ist immer wieder zur Stelle. Man kann die Beziehung zwischen den beiden kaum beschreiben, vor allem ihn nicht, in seiner Mischung aus Fürsorge und brutaler Gier, aus Rechthaberei und echtem Interesse.

Viele der Wendungen, die der Film nimmt, kommen unerwartet. Schockierend aber endet die letzte Konfrontation der beiden. Xiamei kehrt danach, kuriert auf denkbar unsentimentale Weise, nach Peking zurück, in ihren alten Job. Der düstere Film endet auf einer geradezu beschwingten Note. Sehr merkwürdig. Sehr schwer verdauliche Kost. Sehr sehenswert.
Ekkehard Knörer
"Hai xian - Sea Food" von Zhu Wen, China/Hong Kong 2001, mit Jinzi, Cheng Taisheng, Ma Liuming u.a., 90 Min.
Termine.