Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 5. Tag

Von Ekkehard Knörer
10.02.2003. Berlinale 5. Tag: Subtil spielt Sarah Polley in dem Wettbewerbsfilm "My Life without me" eine todkranke Putzfrau. Wolfgang Becker zeichnet in "Good bye, Lenin" eine herzige DDR. Gesang, Tanz, Schwertkampf, liebende und schlagende Frauen - das Forum zeigt fünf Filme der legendären Shaw-Brothers. Eine filmhistorische Sensation, meint Ekkehard Knörer
Forum: Shaw Brothers Tribute

Die Filmindustrien Asiens hat man im Westen über Jahrzehnte kaum wahrgenommen. Das gilt für die japanischen Studioproduktionen beinahe ebenso wie für Indien und die in Bombay produzierten Bollywood-Dancicals, die in weiten Teilen Asiens seit langem überaus erfolgreich sind - und darüber hinaus eine sehr eigene, von Hollywood beeinflusste und die Einflüsse zugleich ins Indische transformierende Ästhetik entwickelt haben. Die Entdeckung Bollywoods hat, nicht zuletzt der Erfolge wegen, die die Filme bei den in England und den USA lebenden NRIs (non resident Indians) feiern, begonnen. Etwas, aber nicht grundsätzlich anders ist die Lage in Sachen Hongkong.

Seit den späten achtziger Jahren haben die Martial-Arts- und Action-Produktionen eines John Woo oder Tsui Hark im Westen eine beträchtliche Fangemeinde - über die Geschichte des Hongkong-Kinos freilich ist auch Kennern bisher wenig bekannt. Dafür gibt es eine einfache, im Grunde kaum zu fassende Ursache. Das größte Studio Hongkongs hat seinen immensen Schatz von vorwiegend in den sechziger und siebziger Jahren entstandenen, zum Teil legendären Filmen - insgesamt nicht weniger als rund 800 Stück - bis vor kurzem äußerst rigide unter Verschluss gehalten. Es gab keinerlei kommerzielle Auswertung, im Kino nicht und nicht auf Video oder DVD.

Man stelle sich vor, schreibt Richard Corliss im Time Magazine, die gesamte Hollywoodproduktion der entsprechenden Zeit, von "Bonnie & Clyde" bis zum "Paten", von "2001" bis zum "Weißen Hai", wäre bis vor ein oder zwei Jahren nur noch vom Hörensagen - oder bestenfalls in Form von Bootlegs in miserabler Qualität - bekannt gewesen.

Genau so aber verhielt es sich mit den Produktionen der Shaw Brothers - so der Name dieses Studios, das in Wahrheit ein frühes Medien-Konglomerat gewesen ist, über Jahrzehnte der Besitzer von Kinoketten und Vergnügungsparks mit Standbeinen in Singapur (wo im übrigen seit den dreißiger Jahren eine Reihe von indischen Regisseuren in Anlehnung an den Bollywood-Stil für die Shaws malayische Filme inszenierten, mehr hier) und eben Hongkong, mit einer ungeheuren Blütezeit in den sechziger und siebziger Jahren. Mit dem - wiederum: höchst erfolgreichen - Einstieg ins kommerzielle Fernsehen in den späten Siebzigern begann allerdings der rasche Niedergang der Filmproduktion, die ein Jahrzehnt lang, zwischen 1983 und 1995, gänzlich eingestellt wurde. Zuvor übrigens hatten die Shaws noch einige Ko-Produktionen veranstaltet, unter anderem mit den gleichfalls legendären Hammer-Studios - das berühmteste dieser Projekte ist freilich Ridley Scotts mit Shaw-Geld entstandener Film "Blade Runner".

Die Wiederaufnahme der Kino-Produktion begann, kaum zu glauben, unter der Ägide des seit den zwanziger Jahren neben seinem (1985 verstorbenen) Bruder Runme Shaw den Konzern leitenden Sir Run Run Shaw, der sich, mittlerweile 93-jährig, im Jahr 2000 nach langem Zögern entschloss, sämtliche von den Shaw-Brothers produzierten Filme für vergleichsweise wenig Geld - nämlich 85 Millionen Dollar - zu veräußern. Der Käufer war ein malayischer Medien-Mogul, rasch wurde eigens eine Firma mit den Namen "Celestial" gegründet, die sich daran gemacht hat, in bester Qualität digital überarbeitete neue Kopien der alten Originale herzustellen, die seit Dezember letzten Jahres auch in rascher Folge als DVDs auf den Markt kommen. In Deutschland sind unter dem Titel "Shaw-Tribute" drei dieser neuen - neben zwei nicht überarbeiteten, aber recht ordentlichen - Filmkopien nun erstmals bei der Berlinale zu sehen: Im Grunde präsentiert das Forum damit eine veritable filmhistorische Sensation.

Das ist keine Übertreibung, denn diese Serie von Shaw-Brothers-Filmen kann auch dazu dienen, die im Westen noch immer vorherrschende Auffassung zurechtzurücken, das kommerzielle Hongkong-Kino bestehe im wesentlichen aus Action-, Martial-Arts- und wuxia-Produktionen auf der einen und mit dem westlichen Humor oftmals nicht sehr kompatiblen Komödien auf der anderen Seite. Tatsächlich haben die frühen Meister des Schwertkampf- und Martial-Art-Kinos - Chang Cheh und King Hu sind als erste zu nennen - die Erfolgsserie des Schwertkampf-Genres mit ihren Shaw-Brothers-Filmen begründet, einer von ihnen, "Come Drink With Me" von King Hu, ist nun auch in der Tribute-Reihe zu sehen. Daneben aber haben die Shaws Filme der unterschiedlichsten Genres produziert, eine Auswahl stellt die kleine Hommage des Berlinale-Forums vor.

So ist der älteste der gezeigten Filme, Li Han-hsiangs "The Kingdom and the Beauty", ein Opernfilm - gespielt wird allerdings keine der streng kodierten Peking-Opern, sondern eine der ursprünglich aus der Provinz stammenden, von simplen Melodien bestimmte huangmei-Opern. Verlegt ist sie fast vollständig in die Filmkulissen einer in den Shaw-Studios nachgebauten fernen Ming-zeitlichen Vergangenheit. In wunderbar satten, aber nie zu bunten Kompositionen strahlen die Farben nach der Restauration von der Leinwand. Die Geschichte ist einfach und in ihrer Struktur oft erzählt (im Grunde hat Jeff Laus jüngste, auch auf der Berlinale gezeigte Komödie "Chinese Odyssey 2002" einen ähnlichen Plot): der junge Kaiser entwischt aus dem Palast, entflieht neugierig in die ihm unbekannte Provinz und verliebt sich in ein Mädchen aus dem Volk. Es kommt, auf sein Drängen, zur Liebesnacht, die Folgen haben wird - dann aber fängt den Kaiser eine Abordnung des Palasts wieder ein. Er muss zurück und wird an eine Adlige verheiratet. Die Frau, die nun sein Kind gebiert (davon weiß er freilich nichts), hat er sehr schnell vergessen, er tröstet sich im Kreise williger Kurtisanen.

Auffällig an diesem von vielen Musiknummern und Auftritten durchzogenen Film ist das Maß, das er einhält. Nichts zu sehen vom Überschwang etwa der Bollywood-Form - gleitend die Übergänge vom gesprochenen zum gesungenen Text. Narrativ bleiben auch die musikalischen Einlagen - die als solche deshalb gar nicht erscheinen - in das Gesamt der recht langsam voranschreitenden, auf äußerst angenehme Weise auch musikalisch eher gleichförmig plätschernden als sich überstürzenden Ereignisse eingebunden. Und obgleich das Geschehen vom tändelnd Komödiantischen bald ins Melodramatische, ja, auch nicht umschlägt, sondern gleichfalls eher gleitet, verzichtet der Film auf allen Überschwang der Darstellung.

Dazu passt eine weitere doppelte Begrenzung: seltsam gestaucht ist zum einen das von den Shaw-Brothers entwickelte Shawscope-Format (mehr dazu hier), das ansonsten, wie es sich gehört, die ganze Breite der Leinwand nutzt. Auf Begrenzung aus sind auch die Szenerien. Ob in den Wandelgängen des kaiserlichen Palasts oder im Innenhof des Wein-Salons, in dem die vom Kaiser verehrte Schöne wohnt; ob in der freien Natur oder auf der Straße des kleinen Dorfes in der Provinz: stets wird der Blick gehegt von Zäunen oder Büschen, Bäumen oder Gattern im mittleren Hintergrund, die sich dem freien Ausblick in den Weg stellen und zugleich die Szenerien zur Kulissen-Bühne formieren.

Natürlich ist dies zunächst den Bedingungen des Studio-Drehs geschuldet - das ohnehin nicht allzu üppige Budget steckt vor allem in den liebevollen Kostümen und Bauten, jedoch: diese Geschlossenheit wird rasch zur Form der Darstellung. Dazu kommt, dass sich Mittel- und Hintergründe noch auf andere Weise durchdringen: der Film ist voller Gemälde, die, der Tradition gemäß, idealisierte Fantasielandschaften zeigen. Die offenkundig gemalten Natur-Hintergründe, die sich hinter den Hegungen der Zäune ahnen lassen, sind ihnen artverwandt - was oftmals beinahe dazu führt, dass die Wände, die das Geschehen umstellen, zu einer einzigen, ineinander übergehenden Wand zusammenzufließen scheinen. Wiederum eine Bewegung des Gleitens und der Begrenzung zugleich.

Zum Beweis, dass es auch anders geht, gerät das Breitwand-Musical "Hongkong Nocturne", dem man seine Entstehungszeit - 1966 - in jedem der poppig bunten Bilder ansieht. Ein alternder Zauberer verdankt seine Engagments in den Variete-Etablissements der Stadt nur noch seinen drei zauberhaften, auf der Bühne tanzenden Töchtern Ting Ting, Tsui Tsui und Chuen Chuen. Die Zeit ist Jetzt, darauf legt der Film mit allerlei Accessoires einigen Wert, der Ort ist Hongkong - das machen die beeindruckenden, mit dem Geschehen selbst freilich nur als Lokalisierungs-Shots verbundenen Stadt-Totalen in regelmäßigen Abständen klar.

Die Beziehung von Vater und Töchtern erzählt "Hongkong Nocturne" in Rondo-Form: Weil der Vater all sein den Töchtern zustehendes Geld an eine Frau verschleudert, die ihn nur ausnehmen will, kommt es zur Trennung. Die Töchter gehen ihrer Wege, der Vater verschwindet den ganzen langen Mittelteil aus dem Film. Es sind moralische Geschichten, die sich modellhaft an einer der Frauen nach der anderen entfalten, Liebesgeschichten, natürlich. Genauer gesagt: Ein um's andere Mal geht es um das Spannungsverhältnis von Kunst und Liebe, von Karriere und Ehe - und das erweist sich, erstaunlich genug, als kaum auflösbarer Konflikt.

Bei keiner der Töchter lässt sich beides vereinen: die eine gibt die Karriere auf, um Hausfrau und Mutter zu werden (das Schicksal, das durchgehend auf die Kunst setzt, hat etwas dagegen), die andere trennt sich, weil er weiß, dass es nicht funktionieren kann, von dem Mann, mit dem sie auf der Bühne wie im Leben bestens harmoniert. Und die dritte wird sich aus der Obhut ihres strengen Ballett-Lehrers zurück ins (mit dem moralisch kurierten Vater zuletzt versöhnte) Schwestern-Trio begeben, mit dessen Showbühnen-Triumph der Film dann endet.

Zur Überraschung des Betrachters hält sich "Hongkong Nocturne" keineswegs durchweg an den leichten Ton, der zunächst angeschlagen wird. Die Lehrjahre der drei Frauen halten manch Melodramatisches bereit, auf das der Film - wenngleich in Grenzen - sich einlässt. Die Musiknummern ballen sich am Anfang und am Ende, zunächst noch vor ins Bizarre schillernden Fantasie- und Traumkulissen, in die sanft hinübergeblendet wird: getanzt und gesungen wird einmal vor antiken Säulentrümmern, und in einer Hymne auf die Frau steigt, von Schleiern umflattert, eine der Heldinnen nackt aus dem Schaumbad. Der Höhepunkt: ein nebelumwalltes Schiff, unterwegs nach nirgendwo, gelöst aus allen narrativen Kontexten. Viele der weiteren musikalischen Einlagen - viel Rock und Boogie und jedenfalls: höchst zeitgenössische und natürlich tanzbare Klänge - fügen sich beinahe nahtlos ins Geschehen, das stets mehr ist als bloßer Vorwand für die Musik.

Ein anderer Fall, ein ganz anderer, ist der Chu Yuans Skandalfilm "Intimate Confessions of a Chinese Courtesan", dessen Titel bestenfalls eine leise Ahnung erlaubt, was folgen wird. Im Prolog wird man Zeuge der Entdeckung einer Leiche. Wer den Mann getötet hat und mit welchem Grund: davon erzählt die erste Hälfte des Films, der, nach diesem Anfang, zum immer gewalttätigeren Revenge-Flick gerät. Die Mörderin ist die Kurtisane Ah Nui, die, das bekommen wir zu sehen, ins Bordell gezwungen wurde, das von der in allen Kampfkünsten und psychoterroristischen Feinheiten bewanderten, Frauen und nicht Männern zugeneigten Schönheit Chun-I geleitet wird.

Ah Nui wehrt sich anfangs mit natürlich nicht zureichenden Leibeskräften gegen ihre Zurichtung zur Kurtisane, ein erfolgloser Fluchtversuch, bei dem ihr männlicher Helfer ums Leben kommt, belehrt sie jedoch eines besseren. Sie wird zum Schein gefügig - und sinnt zugleich auf Rache an den vier Männern, an die sie für viel Geld verschachert wird. Die erste Leiche wird nicht die letzte sein. Schwertkampfkunst und Wirework, ausgesuchte Tötungsarten und Wortduelle mit dem ermittelnden Gesetzeshüter folgen. Dies alles, der Drastik mancher Bilder zum Trotz, keineswegs als Trash inszeniert, sondern mit Sorgfalt und Liebe zu den Kulissen - wie etwa einer Sado-Maso-Sex- und Folterkammer -, mit einigem Können in den sich im Verlauf häufenden Kampfszenen.

Unübertrefflich ist die letzte Schlacht zwischen Ah Nui und Chun-I. Man muss sie gesehen haben, um zu glauben, was geschieht. So viel ist sicher: Ein wüste Schneisen durch alle Klischees schlagendes Sexploitation- und Rache-Meisterwerk, dessen Klasse Quentin Tarantino mit seinem "Kill Bill" erst mal erreichen muss.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"The 36th Chamber of Shaolin - Shao lin sa liu fang", von Liu Chia-liang. Mit Gordon Liu Chia-hui, Wang Yu, Lo Lieh, Liu Chia-wing, Hsu Shao-chiang u.a., Hong Kong 1978, 115 min., 35mm, restaurierte Fassung
Termine. Mehr zum Film hier.

"Come Drink With Me - Da zui jia", von King Hu. Mit : Cheng Pei-pei, Yueh Hua, Chen Hung-lieh, Li Yun-chung u.a., Hong Kong 1966, 94 min., 35mm, restaurierte Fassung
Termine. Mehr zum Film hier.

"Hong Kong Nocturne - Xiang jiang hua yue ye", von Inoue Umetsugu. Mit Cheng Pei-pei, Chin Ping, Lily Ho u.a., Hong Kong 1966, 128 min., 35mm
Termine.

"Intimate Confessions Of A Chinese Courtesan - Ai nu", von Chu Yuan. Mit Lily Ho, Yueh Hua, Betty Pei Ti, Tung Lin u.a., Hong Kong 1972, 90 min., 35mm
Termine.

"Kingdom and the Beauty - Jiang shan mei ren", von Li Han-hsiang. Mit Linda Lin Dai, Chao Lei, Tang Jo-cheng u.a., Hong Kong 1959, 99 min., 35mm, restaurierte Fassung
Termine.



Subtil: Sarah Polley als todkranke Putzfrau in Isabel Coixets "My Life without me" (Wettbewerb)

Die 23jährige Ann, die sich mit Putzjobs über Wasser hält, zwei Töchter hat und einen Mann, der der einzige ist, mit dem sie je geschlafen hat, Ann erfährt: sie wird sterben, bald, in zwei Monaten oder drei. Keine ganz neue Geschichte, fast ein Genre: der Mann, die Frau, der oder die nicht mehr lange zu leben hat. Viele Tränen fließen im Melodram, während man der Hauptfigur beim Sterben zusieht. Aber Isabel Coixets - übrigens von Pedro Almodovars Firma "El Deseo" produzierter, aber in Kanada gedrehter - Film ist ein Melodram der leisen Töne.

Es fängt damit an, dass man Ann gerade nicht sterben sieht, sondern leben. Und auch da vermeidet Coixet das Klischee. Es geht nicht in erster Linie um die Erkenntnis, wie wertvoll das Leben ist, wie wenig man es, im Alltag zum Tode lebend, geachtet hat. Ann nämlich lebt ihr Leben weiter, verrät keinem, wie es um sie steht. Das erste was sie tut: sie setzt sich in ein Cafe und macht einen Plan, eine Liste. Zehn Dinge, die sie tun will, bevor sie stirbt. Sex haben etwa mit einem anderen Mann als dem ihren, nur um zu wissen, wie es ist. Und Kassetten aufnehmen mit Geburtstagsgrüßen für ihre Töchter, bis sie 18 sind. Ihren Vater besuchen, der im Gefängnis sitzt, ein erstes und letztes Mal. Eine neue Mutter finden für ihre Kinder, eine neue Frau also für ihren Mann.

Das erstaunliche ist nun, dass der Rest des Films nichts anderes ist als die Erfüllung dieses zu Beginn aufgestellten Plansolls. Punkt für Punkt arbeitet Ann, arbeitet der Film das ab. Im Waschsalon trifft sie Lee, einen George Eliot lesenden, etwas schüchternen Landvermesser, sie haben Sex, sie verlieben sich ineinander. Im Nachbarhaus zieht eine junge, gut aussehende Frau ein, sie lässt sie die Kinder hüten und lädt sie zum Abendessen ein. Das klingt merkwürdig - und lässt einen doch erst in der Häufung ins Grübeln geraten, was die Regisseurin sich dabei gedacht haben mag. Im Detail nämlich der einzelnen Szenen, des häuslichen Alltags, des Kennenlernens, ist immer wieder die Dezenz Coixets zu bewundern, das Feingefühl, mit dem sie kaum je die Emotionen zur Sentimentalität überzieht.

Der Hauptgrund, dass dieser Film nie wirklich auseinander fällt und bis zum Schluss sympathisch bleibt, ist die Hauptdarstellerin Sarah Polley - die ihre großartigste Rolle bisher in "Das süße Jenseits" hatte, einem Film des Jury-Präsidenten Atom Egoyan. Zwar nimmt man ihr die Putzfrau keine Sekunde lang ab, ist im Gegenzug aber dankbar, dass ihr Spiel von allen Grobheiten frei ist, dass sie jede der vom Drehbuch gelegentlich mit allzu deutlichen Strichen gezeichneten Situationen mit einer Subtilität meistert, die den Film rettet. Sarah Polley hätte jedenfalls einen Goldenen Bären verdient.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"My Life Without Me", von Isabel Coixet. Mit Sarah Polley, Mark Ruffalo, Scott Speedman, Amanda Plummer u.a., Spanien, Kanada 2002, 100 Minuten
Termine.



Klischeehaftes DDR-Bild: Wolfgang Beckers "Good bye, Lenin" (Wettbewerb)

Das fatalste Missverständnis in Wolfgang Beckers misslungenem Film "Goodbye, Lenin!" ist von der Art, die einem gar nicht sofort auffällt, weil man den Wald nicht sieht, nur all die Bäume - bis man dann merkt, dass es nur die Bäume gibt, gar keinen Wald. Soll heißen: Die DDR ist hier, von Anfang bis Ende, nichts als eine Sache der Ausstattung, Baum für Baum und Bild für Bild. Akribische Mühe haben alle Beteiligten - vom Wessi-Drehbuchautor bis zum Wessi-Regisseur - auf einen geradezu fetischistischen Umgang mit Marken verwandt, von Spreewald-Gurken bis zur Aktuellen Kamera. Aus der offensichtlichen Angst heraus, etwas könne nicht stimmen, stimmt nun vermutlich (wenn interessiert das aber?) alles im Detail - und doch ist der Effekt der eines umgekehrten Pointillismus. Punkt für Punkt hat man die Wirklichkeit abgemalt, das Gesamtbild, das entsteht, ist jedoch ein einziges lächerliches DDR-Klischee.

Genau darum, ließe sich einwenden, geht es doch. Um die Rekonstruktion eines künstlichen DDR-Reservats, das Alexander Kerner (Daniel Brühl) für seine Mutter (Katrin Saß) einrichtet, um ihr den Schock der Wende zu ersparen. Sie nämlich ist kurz vor Mauerfall nach einem Herzinfarkt ins Koma geraten und erst am Vorabend der Wiedervereinigung daraus erwacht. Schonend soll sie behandelt werden, also tun nun alle so, als sei nichts passiert. Die DDR erwacht zu neuem Schein-Leben im Krankenzimmer, dass der Mutter zuhause eingerichtet wird. Diese Drehbuchidee hat beträchtliches Potenzial, sollte man meinen. Die Konstellation könnte zum Gleichnis taugen für ostalgische Sehnsucht, zum Diagnoseinstrument für die Gewalt der Umbrüche, zum Ausgangspunkt für höchst komische Verwicklungen.

Wolfgang Becker aber, ein Regisseur, der bisher nie enttäuscht hat, verschenkt all das an eine halbherzige Komödie mit melancholischer Grundierung und melodramatischen Familienverwicklungen. Mit der nachholenden Wut dessen, der nur die Zeichen kennt und nicht die Wirklichkeit, setzen Drehbuch und Regie auf höchst oberflächliche Wiedererkennbarkeiten. Darin erschöpft sich ein großer Teil des Witzes. Nirgends hat man den Eindruck, dass die Klischeehaftigkeit des DDR-Bilds hier eine bewusste Sache ist, also Reflexion aufs eigene Treiben. Der Film glaubt durchaus an das, was er zeigt, gerade in den im schlechtesten Sinne fantastischen Umkehrungen, die er am Ende vornimmt.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"Good bye, Lenin", von Wolfgang Becker. Mit Daniel Brühl, Katrin Saß, Chulpan Khamatova, Maria Simon. Deutschland 2002, 119 Minuten
Termine.



Tsipi Reibenbachs "Eer lelo rahamim - Stadt ohne Mitleid" (Forum)

Lydda
, nahe Tel Aviv gelegen, ist eine Stadt mit einer langen Geschichte. Lod ist der Name der biblischen Überlieferung und mit der zufälligen Entdeckung einer fünftausend Jahre alten Stadt unter dem Boden der neuen und archäologischen Ausgrabungen an Ort und Stelle beginnt Tsipi Reibenbachs Dokumentation, die zugleich die Rückkehr in die Stadt ist, in der die Regisseurin, 1947 geborene Tochter von Holocaust-Überlebenden, von frühester Kindheit bis in die späten siebziger Jahre gelebt hat. Mehr als symptomatisch aber das Schicksal der bedeutenden historischen Fundstätte: Es gibt kein Geld, die freigelegten Überreste der Siedlung aus ägyptischer Zeit werden wieder zugeschüttet. Als Reibenbach einige Monate später wiederkommt, ist der Ort zur Müllhalde verkommen.

Im Grunde aber gilt das für die ganze Stadt, die sie nach 25 Jahren nicht mehr wiedererkennt. Lydda ist einer der größten Drogenumschlagsplätze Israels geworden, das zivile Leben ist angesichts der im Verhältnis von 2:1 in Israelis und Araber geteilten, miteinander verfeindeten Bevölkerung fast völlig zum Erliegen gekommen. Mehrfach wurde Reibenbach während des Drehs beschimpft, gar mit Steinwürfen attackiert, kaum einer der Bewohner wagte sich offen vor ihre Kamera. So bleibt Reibenbach vor allem das eine: mit der Kamera Zeugnis abzulegen vom Niedergang einer Stadt. Kontrapunktiert wird die Trostlosigkeit durch die Erinnerung Reibenbachs an eine bessere Zeit: sie erinnert sich ans Kino, das nun nur noch eine verfallene Ruine ist. Sie erzählt vom Bahnhof als Sehnsuchtsort, einst fuhren die Züge von hier bis nach Kairo. Heute: anonyme Gleise, ein Bahnbediensteter eilt herbei und verbietet die Filmaufnahmen.

Man kann über die Machart des Films nicht durchgehend glücklich sein. Nicht ohne Eitelkeit setzt Reibenbach sich immer wieder selbst ins Bild, untermalt das Elend der Bilder gerne mit reichlich deplazierten Verlassenheitsflötentönen. Auch der Erzählerkommentar der Regisseurin wäre ohne die eine oder andere erbauliche Floskel besser zu ertragen. Allzu stark ins Gewicht fallen diese Einwände nicht: eindrücklich sind die Bilder, die eine Lage dokumentieren, die nur im Grad, nicht im Prinzip von der Lage Israels als ganzer unterschieden ist. Dieser Blick in den Mikrokosmos einer unendlich verfahrenen Situation gibt einem wenig, nein: keinen Grund zur Hoffnung.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"Eer lelo rahamim - Stadt ohne Mitleid", von Tsipi Reibenbach. Israel 2002, 65 Minuten
Termine.