Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 4. Tag

Von Ekkehard Knörer
08.02.2004. Paul Cronin liefert ein konventionelles Porträt des unkonventionellen Filmtheoretikers Amos Vogel. "Koktebel" bewegt sich, aber langsam. "Kal Ho Naa No" ist eine indische Sitcom, die in New York spielt. Catherine Breillats neuer Film ist Pornografie - und nichts.
Film als subversive Kunst: Paul Cronin porträtiert den Filmtheoretiker Amos Vogel (Forum)

Amos Vogels Wirken kann man nur als segensreich bezeichnen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg hat er mit seinem Cinema 16 die Filmavantgarde nach New York gebracht. 1938 flüchtete Vogel aus dem besetzten Wien, ließ sich in New York nieder und feierte den Film als subversive Kunst (so auch der Titel seines berühmten, vor ein paar Jahren in Deutschland in einer neuen Ausgabe erschienenen Buches). Seine Definition ist dabei so minimal, dass sie theoretisch ganz unergiebig, praktisch aber von ungeheurer Flexibilität ist: Subversiv ist das Unerwartete, das nicht Vorhersagbare. Das können Stan Brakhages Experimente sein und John Cassavetes' Filme, Hitchcock und Ozu, alles, kurz gesagt, was die vertrauten Reaktionsmuster auf Grund laufen lässt: Film also als Kunst.

Was den Film zur Kunst macht, liegt dabei im Auge des Betrachters nur insofern, als der Gegenstand dieses Auge herausfordert zum Denken. So ist es sehr konsequent, dass Vogel einen Nazi-Propagandafilm ebenso ins Programm nehmen konnte wie Wissenschaftsfilme, die als Objekte ganz gewiss nicht Kunst sind. Vogel entwickelte also - von einer ganz konventionell gesellschaftskritisch-linken Position aus - einen Begriff von Kunst, der ein nach-modernistischer ist im beinahe Warholschen Sinne. Was die Kunst macht, ist die reflexive Verfremdung der Kunsterfahrung, die sie dem Zuschauer abnötigt. Diese Erfahrung ist es, die Vogel programmierte, mit über die Jahre hinweg ganz erstaunlichem Erfolg.

Der Dokumentarfilm von Paul Cronin ist als konventionelles Porträt Vogels angelegt, lässt ihn erzählen, folgt ihm in die Säle des Cinema 16 und in seine Wohnung, deren Arkanum ein Raum mit Hängeregistern ist, in denen offenkundig Vogels ganzes Leben verzettelt und verzeichnet ist. Aus dem Schrank mit den ältesten Akten zieht Amos Vogel ein "Buch", das er 1937 geschrieben hat, die autobiografische Geschichte eines jungen Mannes: abgetippt, zusammengebunden, Zeugnis eines längst vergangenen Lebens, Autor: Amos Vogelbaum. Die schönste Einstellung des Films - und neben gelegentlichen Fisimatenten die einzige mit einiger Ambition - ist die letzte: eine Fahrt durch die Wohnung, in ein anderes Zimmer hinein, dessen Wände mit Bildern und Fotografien gepflastert sind, auf eines zu, das Vogel zuvor als Schlüsselbild für sein Leben bezeichnet hat: ein Gang, eine Tür, eine Hand. Rätselhaft, wunderschön, herausfordernd.

Ekkehard Knörer

"Film as a Subversive Art: Amos Vogel and Cinema 16". Dokumentarfilm. Regie: Paul Cronin. Großbritannien 2003, 56 Minuten (Forum)



Sehnsuchtsort Koktebel : Boris Chlebnikov und Aleksej Popogrebskijbegeben sich auf eine metaphysische Reise auf die Krim.

Was für ein Beginn, schaumgeboren: Eine lange statische Einstellung, aus einem Loch unter einem Straßendamm klettern der Vater, der Sohn, deren Vorgeschichte (beinahe) so dunkel bleiben wird wie die Schwärze des Lochs, aus dem sie kommen. Der Rest ist Bewegung, allerdings der ruhigen Art. Sie haben ein Ziel: Koktebel, die Stadt auf der Krim, da wohnt die Schwester des Mannes, dahin wollen sie trampen, Tausende von Kilometern. Ein Roadmovie also, mehr noch ein Querfeldeinmovie. Und auch ein Stationendrama auf dem Weg zum kleinen Glück, vielleicht.

Sie gehen zu Fuß, sie fahren mit der Bahn, sie treffen eine barmherzige Seele und alles wäre sehr schön, schliche sich nicht die Ahnung ein, der Film wolle auf so etwas hinaus wie eine Geschichte. Vater, Sohn, Enttäuschung, Alkoholismus, nach und nach stellen sich die Motive, auf die der Beginn so souverän verzichtet hat, doch noch ein. Selbst wenn man darauf verzichtet, in die Bewegung durchs karge Land in den Sehnsuchtsort Koktebel Historisches, Metaphysisches gar hineinzulesen. Die Erdung im Psychologischen nimmt den Bildern viel von ihrer Kraft.

Es kommt zu Begegnungen, sie geben der Reise Struktur. Ein älterer Mann, der den Vater zum Alkohol verführt und hinter dessen Gutartigkeit Böses lauert. Und Xenia, die Ärztin, bei der der Vater sich bald zuhause fühlt, der Sohn aber nicht. Kein Heim kann er akzeptieren, das nicht Koktebel ist, die Stadt der Albatrosse, der Gleiter - im Motiv "schwebender Flug" thematisiert der Film, leider, immer wieder, was er eigentlich zeigen sollte. Dabei verstellt er sich durch die Thematisierung gerade die Möglichkeit, es unausgesprochen gesagt sein zu lassen: die Sehnsucht nach einem Dahingleiten, einer Balance, nach dem Glück.

Schön aber ist der Blick auf das Toilettenhäuschen im Freien, mit einem blinkenden Radiorekorder im Baum. Ein Glück ist's, wenn die Kamera sich am Blech berauscht, das vom Dach fliegt, ein ums andere Mal mit Reißschwenks folgt und so der Bewegung, nicht dem Gegenstand, eine physische Präsenz verleiht. Wunderbar auch die Bilder vom Meer, denen sich der Film zum Schluss dann doch überlässt, als hätte er eigentlich nichts anderes zu sagen gehabt als: Sieh! Was er darüber hinaus zu erzählen hat, ist immer zuviel.

Ekkehard Knörer

"Koktebel". Regie: Boris Khlebnikow / Alexej Popogrebskij. Mit Gleb Puskepalis, Igor Tschernewitsch, Wladimir Kutscherenko, Agrippina Steklowa u.a., Russland 2003, 105 Minuten (Forum)



"Kal Ho Naa No" ist ein indischer Film der ganz und gar in New York spielt - und in Indien alle Kassenrekorde bricht.

Dringend erlösungsbedürftig, in Queens, New York: Naina. Sie lebt für ihr Studium, für ihre Familie, die vor allem aus ihrer Mutter und ihrer Großmutter besteht, und die leben in ständigem Streit. Der Vater ist tot - und das heißt im Familienkino Bollywood: nicht einfach abwesend, sondern gerade durch die Abwesenheit höchst präsent. Naina hat einen guten Freund, Rohit, reich ist er dazu, aber auf den Gedanken, sich in ihn zu verlieben kommt sie nicht. Und er nimmt sie gleich gar nicht als begehrenswert wahr: sie trägt Brille.

Der Boden ist also bereitet für den Erlöser. Aman, Superstar Shah Rukh Khan, übernimmt diese Rolle und platzt in die kleine indische Welt von Queens wie, nun, der Film sagt es oft genug selbst, ein Engel. Ein höchst irdischer Engel, bald tanzt die ganze Straße zur Melodie von "Pretty Woman". Er mischt die Nachbarschaft auf, tröstet, kuppelt, greift ein, wo es nötig ist und irgendwann hat er Naina so weit, dass sie ihn liebt und sich so weit, dass er sie liebt. Jedoch hat das Schicksal anderes vor, wir werden über seine Pläne erst andeutungsweise und mit immer weiteren Verzögerungen informiert. Aman ist todkrank und dadurch lässt sich der Plot zielgenau in den Hafen eines der ältesten Dreiecksmodelle Bollywoods manövrieren. Zwei Männerfreunde (Aman und Rohit) und eine Frau: das bedeutet Liebe, Konkurrenz, Tragödie, Schmerz und zuletzt immer edlen Verzicht des einen.

Vor den Tränen aber steht die Komödie, die sich hier stark ans amerikanische Sitcom-Milieu anlehnt. Das ist albern, gelegentlich anzüglich, verblüfft durch Tempo ebenso wie durch hübsche inszenatorische Mätzchen (wie Split Screens und clevere Montagen und falsche Kamerafahrten) und enttäuscht über weite Strecken durch Belanglosigkeit. In dem Moment jedoch, in dem sich das Tragödiendesign deutlich abzuzeichnen beginnt, läuft "Kal Ho Naa Ho" doch noch zu Bollywood-Hochform auf und konstelliert die Figuren - das Liebesdreieck vor allem - durch herzergreifende Unwahrscheinlichkeiten hindurch zur emotionalen Idealformation. Wer da kein Taschentuch benötigt, der braucht nie mehr eins.

Der Film, der sich gerade anschickt, nach einem bitteren Jahr für die indische Filmindustrie Besucherrekorde zu brechen, ist ein Novum im indischen Kommerzkino dadurch, dass er komplett in New York angesiedelt ist. Kein Zentimeter Zelluloid bleibt für indischen Boden. Dem halben Schritt, den Karan Johar als Autor und Regisseur bei "Kabhi Kushi Kabhi Gam" in Richtung London getan hat, lässt er als Autor (Regie führte der Debütant Nikhil Advani) nun den ganzen in die Neue Welt folgen.

Bei aller Anlehnung ans Sitcom-Format muss man jedoch feststellen: "Kal Ho Naa Ho" ist Bollywood durch und durch. Jedes Gramm Emotion ist vertraut, nur die Mischungsverhältnisse variieren. Shah Rukh Khan glänzt einmal mehr als Kamerad und Held (das ist sein Star-Modell: der Held als Kamerad). New York, für das recht häufig Toronto als Body Double einspringen musste, macht auch durch die Augen eines indischen Kameramanns eine gute Figur, die Brooklyn Bridge lädt zu Song & Dance und auch der Central Park. Wirkliche Neuerungen, einen ernsthaften Zweifel an den vertrauten Konventionen gestattet sich der Film freilich nicht.

Ekkehard Knörer

"Kal ho naa ho - Tomorrow May Not Be". Regie: Nikhil Advani. Mit Darsteller: Jaya Bachchan, Preity Zinta, Shah Rukh Khan, Saif Ali Khan, Sonali Bendre u.a., Indien 2003, 187 Minuten (Forum)



Catherine Breillats "Anatomie de l'enfer" ist Pornografie - und ist nichts.

Die Hölle, um die es Catherine Breillat geht, ist eine christliche. Sie ist eine Hölle, die die Menschen einander bereiten, oder, denn hier muss man genau unterscheiden: die die Männer den Frauen bereiten. Die Geschichte, die Catherine Breillat in "L'Anatomie de l'enfer" erzählt, ist konzentriert auf einen Mann und eine Frau. Über beide erfahren wir alles und nichts. Sie haben keine Vergangenheit, sie haben nicht einmal eine Beziehung, sie lernen sich kennen aus dem Nichts. Als sie auf der Toilette einer Disco sich die Pulsadern aufschneiden will, kommt er dazwischen. Sie beschimpft die Männer, er knallt ihr eine. Sie bläst ihm einen. Sie vereinbaren einen Deal: Sie bezahlt ihn dafür, dass er ihr zusieht. Sie sagt nicht, wobei. Bei ihr zuhause, weiter nichts. Aus dem Off spricht die Gedanken der Frau Catherine Breillat. Sie denkt: Es ist ein Trick.

Der Film erzählt seine Geschichte in vier Nächten, allein: es ist keine Geschichte. Hier verkehren, unterm Blick Christi am Kreuz, Archetypen, so will es Catherine Breillat (nur ist das nicht wahr). Geschichten brauchen Individuen, Psychologie, Entwicklung. All das blendet der Film weg, er versteht sich als Versuchsanordnung, oder gar: als Exekution des Schicksals, das die Geschlechter aneinander fesselt. Der Ort des Verkehrs, der Fesselung, des Schicksalsvollzugs ist ein Haus am Meer, einsam, ortloser, kontextloser Raum, gegen den Felsen, auf dem es steht, brandet Naturgewalt. Ein Zimmer wird zum Schauplatz. An der Wand das Kruzifix. Lampen. Ein Bett vor allem. Ein Sessel, in dem der Mann sitzen wird, die Frau beobachten. Dann wird er sich nähern.

Die erste Nacht sprechen sie viel. Die Frau spricht über den Ekel des Mannes vor der Frau. Sie drängt ihm diesen Ekel geradezu auf. Der Mann taugt als Objekt dieser Lektion, denn er ist leidenschaftlos: er ist schwul. Das weibliche Geschlecht, sagt die Frau, ist wie ein schutzloser, neugeborener, noch geburtsfeuchter Vogel. Dann macht der Film einen Schnitt und zeigt einen Jungen in einem Baum, der einen schutzlosen, neugeborenen, noch geburtsfeuchten Vogel aus dem Nest nimmt, in seine Hemdtasche steckt. Dort stirbt der Vogel beim Abstieg vom Baum, das Blut färbt das Hemd, der Junge zertritt ihn. Der Mann, der er sein wird, zertritt das Geschlecht der Frau, weil er es hasst, weil er das Blut hasst, weil er ihre Unreinheit hasst. Das ist Catherine Breillats These, da gibt es kein Vertun.

In den weiteren Nächten gibt es eine Annäherung des Mannes an das Geschlecht der Frau. Sie schläft, sie bietet sich dar in vollendeter Passivität. Er betrachtet ihre Vagina, umrandet sie mit Lippenstift, er vögelt sie. Der Ausdruck muss erlaubt sein, denn angesichts des Films muss man eher fürchten, dass es der Sprache an jener Direktheit womöglich fehlt, mit der die Bilder ihr Zeigen geradezu ausstellen. Das weibliche Geschlecht in Großaufnahme, der erigierte Schwanz des Mannes, Körperflüssigkeiten. Das ist Pornografie, ruft eine Zuschauerin erbost, nach dem Film. Nun, natürlich ist es Pornografie, aber anders als sie denkt.

Pornografie nicht in der Absicht der Erregung, sondern in der schieren Literalität der Zeichen. Der Mann steht für den Mann, die Frau steht für die Frau. Man sieht, was man sieht. Die Worte, die gesprochen werden, sind Klartext. Nicht unbedingt verständlich, aber sie bedeuten nichts anderes als das, was sie sagen. Pornografie des Gedankens: ich sage alles, was ich denke. Pornografie des Zeigens: ich zeige alles, was es zu sehen gibt. Breillat traut den Bildern so wenig wie den Worten, deswegen stehen sie zu einander im Verhältnis der Transskription. Sie sind buchstäblich und darüber hinaus sind sie nichts.

Die Schauspieler, sagt Breillat im Publikumsgespräch, sind Material, mit dem ich arbeite. Sie sind es wie die Bilder und wie die Worte. Breillat ist eine Fanatikerin der philosophischen Wahrheit und der künstlerischen Kontrolle. Den Widerspruch sieht sie nicht, sie behauptet ihn weg im Pornografischen ihrer Ästhetik. Und versteht sich als Aufklärerin über Geschlechterverhältnisse. Das aber ist die Ideologie und der Selbstbetrug ihrer Kunst: der Glaube, dass hier mehr auf die Leinwand kommt als der von Rocco Siffredi gespielte Mann und die von Amira Casar gespielte Frau und die Thesen, die sie sprechen, die Bilder, die man sieht.

Weil aber nicht mehr ist als das (und die leere Behauptung, da könne mehr sein), sind es niemals Archetypen, sondern nur dieser Mann, diese Frau, an diesem Ort. Ohne Kontext einer Geschichte aber, einer Vorgeschichte, ohne den Kontext von Individualität, ohne Verortung in eine Hier und Jetzt oder einem konkreten Einst, bleibt diesen Worten und diesen Bildern nur genau ein Ort: das Nichts. Was archetypisch sein will, ist, vom ersten Moment an, die schiere Privatheit einer durch nichts - am wenigsten durch die gesprochenen Worte, die gezeigten Bilder - belegten Behauptung. Was man sieht, hat so wenig zu bedeuten wie Pornografie. Man sieht, was zu sehen ist. Und es ist nichts.

Ekkehard Knörer

"Anatomie de l'enfer". Regie: Catherine Breillat. Mit Amira Cassar, Rocco Siffredi, Alexandre Belin, Manuel Taglang, Jacques Monge u.a., Frankreich 2004, 77 Minuten (Forum)



In Monte Hellmans Film "Two-Lane Blacktop" gibt es nur einen Zustand: "passing through" (Retrospektive)

Monte Hellmans Film "Two-Lane Blacktop" hat so wenig ein Zentrum wie er im eigentlichen Sinne einen Plot hat. Er fängt einfach an, mit einem der Dragster-Rennen, an denen er so gar kein sportives Interesse hat, und er hört einfach auf, das aber mit einer spektakulären Setzung. Dazwischen liegt ein Road-Movie. Es gibt Figuren, Begegnungen, keine Namen. Der Fahrer, der Mechaniker, das Mädchen, GTO. GTO ist Warren Oates, der sich auf ein Wettrennen mit den beiden anderen einlässt, von West nach Ost, das Ziel ist die Hauptstadt, dass es nie erreicht wird, versteht sich von selbst. Kleine Quasi-Geschichten werden als Beifahrer am Wegesrand aufgelesen, verlieren sich genau dort auch wieder. So etwa gelangt das Mädchen ohne jede Erläuterung an die jungen Männer, steigt dann am Ende zu einem anderen jungen Mann aufs Motorrad, so steigt ein Mann mit Hut in den GTO und verschwindet kommentarlos wieder am Straßenrand.

Ein Film über Amerika. Die Landschaften wechseln, aber es gibt keine Großstädte in "Two-Lane Blacktop". Die Verlorenheit der Figuren hat mit der Weite zu tun, die aber das Gegenteil von Offenheit scheint: die Orte, die Räume, die Diner, die Tankstellen wechseln, aber die Situation bleibt immer die gleiche. Es gibt nur einen Zustand, das wird mehrfach, halb ironisch, formuliert: "passing through". Nichts weiter gibt es zu erfahren über die Figuren; Warren Oates erzählt seinen Beifahrern immer absurdere Motive für seine Fahrt, eine Biografie ergibt das nicht. Der Zustand des "passing through" ist zugleich seltsam vorsozial: Erfahrung, die zur Geschichte werden könnte, findet nicht statt. Aus der Begegnung folgt nichts, das Mädchen wechselt die Autos und die Fahrer, eine Annäherung bedeutet das nicht, mehr als Sex, von dem nicht mehr die Rede sein, von dem keine Spur bleiben wird, gibt es nicht. So ist, neben dem Totalausfall von Vergangenheit, auch jede mögliche Zukunft nur scheinhaft, das Telos der Rennfahrt, die immer wieder darauf hinausläuft, dass man sich doch nicht aus dem Blick verlieren, mögliche Vorteile nicht nutzen will, ist nicht mehr als ein schlechter Witz.

All das klingt vage nach Existentialismus, nach Camus vielleicht, nach Beckett sogar, Deutungen oder Sinnrichtungsangaben irgendeiner Art aber forciert der Film, der eher die eigene Absichtslosigkeit bekunden zu wollen scheint, nicht. Es gibt auch keine Gesellschaftskritik, die Ähnlichkeit mit "Zabriskie Point" oder "Easy Rider" erweist sich rasch als einigermaßen oberflächliche. Stur blickt die Kamera immer wieder aus dem Auto heraus, auf die Straße, und man hört das Geräusch der Motoren. Das nächste Dragster-Rennen. Der nächste Diner. Episoden, die auf keinen Zusammenhang aus sind. Ausfall aller Dramatik: ausdruckslos die Gesichter. Ein Projekt, halbherzig: dem Mädchen das Autofahren beibringen, ein kurzer Moment der Irritation. Daraus wird nichts, das zeigt sich schnell. Die Geschichte um drei Männer und eine Frau, deren Scheinhaftigkeit eigentlich immer klar war, da ja nicht einmal die Notwendigkeit bestand, den Figuren Eigennamen zu geben, löst sich, ganz sprachlos, ganz wie von selbst wieder auf. Es könnte ewig so weiter gehen. Oder es hört dann einfach auf. Hellmann zeigt den vertrauten Blick aus dem Auto. Er verlangsamt das Bild, die Haare von James Taylor in Zeitlupe. Dann, im Moment, in dem alles stillzustehen scheint, in dem die Kraft verbraucht ist, die Kraft des Weiterfahrens, des Weitererzählens, löst sich die Repräsentation endgültig in Nichts auf: das Autodafe eines Films, das Zelluloid schmilzt.

Ekkehard Knörer

"Two-Lane Blacktop". Regie: Monte Hellman. Mit James Taylor, Warren Oates u.a., USA, 1970, 102 Minuten (Retrospektive)