Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 2. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer
11.02.2005. Lu Chuans "Kekexili" erzählt vom Kampf ums Überleben. Kriminalroman, Liebesgeschichte, Politfilm: der indische Film "Amu" verflicht die Geschichte eines adoptieren Mädchens mit der Geschichte der Sikhs. Der japanische Slackerfilm "Sekari no owari" zeigt Variationen der Langeweile. Im Eröffnungsfilm "Man to Man" lernen Kristin Scott Thomas und Joseph Fiennes, dass Pygmäen Menschen sind. Der Ehrenbär geht in diesem Jahr an den koreanischen Regisseur Im Kwon-taek. Eine Auswahl-Retrospektive stellt sieben seiner Filme vor: eine Entdeckung!
Vom Kampf ums Überleben erzählt Lu Chuans "Kekexili" (Forum)

Kekexili, der geografische Ort, ist das letzte Reservat der tibetischen Antilope. "Kekexili", der Film, erzählt vom Kampf eines Trüppchens Aufrechter gegen das massenhafte Abschlachten der Antilopen. Der Pelz bringt Geld, das die Bauern der höchst unwirtlichen Gegend nicht haben. Kekexili liegt mehr als 5000 Meter über dem Meeresspiegel, kein Baum, kein Strauch, nur Sand und Wind und Schnee und Eis. Es ist kalt, die Flüsse sind matschig zugefroren, und wenn das Auto stehenbleibt, irgendwo im Nirgendwo, kann das den Tod bedeuten. "Kekexili" ist ein Film über Kekexili.

Ein Reporter aus der Großstadt will eine Geschichte über Kekexili schreiben und den Kampf Ritais und seiner vom Gesetz nur halb gedeckten, von keinerlei institutionellem Halt gestützten Truppe. Die Antilope, könnte man sagen, ist nicht mehr als ein vorgeschobener Grund für das Abenteuer, das diese Männer in der Ödnis der Hocheebene suchen. Es ist ein Abenteuer der Entbehrung, des Kampfes am Rand des Überlebens, ein Kampf um die Stützen, die ständig wegzubrechen drohen: um Freundschaft, die mit dem Tod der Freunde endet, um Liebe, die flüchtig bleibt. Noch die Rettung der Antilope ist durch den zum Überleben nötigen Verkauf ihres Fells kompromittiert. Und manchmal ist es auch nur der Kampf um den Atem, der in der dünnen Luft auszubleiben droht. Ein Kampf um den Grund, auf dem man steht, und der sich doch einfach so auftun kann, um einen zu verschlucken. Diese eine Szene, in der ein Mann im Sand versinkt, ist die eindrücklichste des Films, der ihre Furchtbarkeit nicht ausbeutet, sondern einfach zeigt. Erst kämpft der Mann um sein Leben, dann gibt er es auf, ergibt er sich in sein Schicksal und wird vom Erdboden verschluckt. Es bleiben seine Fußspuren im Sand, sie enden im Nichts, es bleibt nichts als ein menschenleeres Bild.

"Kekexili" ist ein Film über die Menschenleere und die Menschen, die die Leere ertragen. Einer hält seit drei Jahren Wacht, in einer kleinen Hütte im Nichts, den Freunden winkt er lange nach, wenn sie nach einem kurzen Besuch wieder verschwinden. Ein Film auch über Größenverhältnisse. Immer wieder erscheinen die Menschen auf der Breitleinwand an den Rand gerückt, wenn nicht gedrückt, ein kleiner Flecken Leben und Bewegung in weiter, die Leinwand füllender Natur. Die Musik, die das unterstreicht, müsste nicht sein. Der Widerspruch von Groß und Klein, Bewegt und Unbewegt, Frist und Dauer wird einmal als Bild von der Erhabenheit formuliert. Die Männer vor dem sternenübersäten Horizont, mehr Licht fast als Dunkelheit am Himmel. Von diesem Anblick schneidet der Regisseur auf Großaufnahmen der Gesichter der Männer, die da stehen, vor dem Horizont. Verhältnisbilder.

"Kekexili" ist ein konsequenter Film, der dem Betrachter das Furchterregende weder erspart noch spekulativ um die Ohren haut. Dass es kein ganz großer Film ist, liegt dann wohl daran, dass er an den entscheidenden Stellen den Rahmen des Buchstäblichen nicht sprengt. Regisseur Lu Chuan ist kein Werner Herzog. Er begegnet dem Wahnsinn mit einer gewissen geschäftsmäßigen Nüchternheit. Er glüht nicht für das, was er zeigt. Dazu passt, dass er zuletzt den Rahmen wieder schließt mit ein paar Zeilen im Nachspann, die erzählen, was weiter geschah. Damit bekommt das Maßlose wieder ein Maß, wird zur Vorgeschichte einer geglückten Naturreservatsgründung. Die Bilder, die "Kekexili" findet, scheinen nach dem Mythos zu verlangen. An dessen Stelle stehen am Ende nur die nüchternen Fakten. Vielleicht ist es falsch, sich den Mythos zu wünschen, wenn man auch Tatsachen haben kann. Aber vielleicht liegt eines der Potenziale zur Größe des Kinos eben doch im Wahnsinn seiner mythopoetischen Kraft.

Ekkehard Knörer

"Kekexili: Mountain Patrol". Regie: Lu Chuan. Mit Duo Bujie, Zhang Lei, Qi Liang, Zhao Xueying, Ma Zhanlin u.a., China/Hong Kong/China 2004, 95 Minuten. (Forum)


Für die falschen Freunde von Amnesty International: Shonali Boses Film "Amu" (Forum)

Kaju kehrt heim in das Land, das sie nicht kennt. Mit der Videokamera ist sie in Neu-Delhi unterwegs, sie filmt das Sehenswürdige, das Pittoreske, begleitet von ihrer Cousine. Kaju ist hier geboren, von einer Frau adoptiert worden, die sie in die USA mitnahm, als sie drei Jahre alt war. Sie erinnert sich nicht, sie kehrt zurück zu ihren Wurzeln, sie ist neugierig und will alles wissen über diesen Teil ihrer Identität. Dass etwas nicht stimmt an dem Bild, das er so zeichnet, deutet der Film bald an, in Flashbacks, aus denen weder die Heldin, die sie hat, noch wir, die sie sehen, zunächst einmal schlau werden. Es gibt ein Geheimnis um die Herkunft Kajus.

"Amu", der Film, dessen Titel die Lösung des Rätsels benennt, aber nicht verrät, hat die Struktur eines Kriminalromans. Kaju wird zur Detektivin auf der Spur der eigenen Vergangenheit. Dieser Grundstruktur eines Erkenntnisprozesses werden flankierend eine Liebesgeschichte und ein Politszenario zur Seite gestellt. Kabir, der junge Mann aus Delhi, aus bestem Haus und von snobistischen Zügen nicht frei, ist der Einheimische, der Kaju führen und bei der Aufdeckung des Rätsels helfen kann. Das Rätsel ist ein Verbrechen und bald versteht man, dass die ganzen narrativen Manöver dieses Films einzig auf das Verbrechen aus dem Jahr 1984 hinaus wollen, das die Behörden bis heute nicht aufklären wollen.

Im Jahr 1984 wird Indira Gandhi getötet, von zwei Leibwächtern, die der Religionsgemeinschaft der Sikhs angehören. In Delhi kommt es zu Unruhen, Sikhs werden von aufgebrachten und von der Polizei unbehelligten - wenn nicht angestachelten - Hindus geschlagen, gequält, ermordet. Allein durch den Brand in einem Slum kommen mehr als 5000 Sikhs ums Leben. Kaju muss bei ihren Nachforschungen feststellen, dass niemand darüber sprechen will. "Das sind mehr Tote als bei 9/11", sagt sie fassungslos. Zudem hat ihre Mutter nicht die Wahrheit über die Umstände der Adoption erzählt. Das eine hat mit dem anderen zu tun, für das, was wirklich geschehen ist, wird der Film in einer ausgedehnten Rückblende Bilder finden und präsentieren.

Da hat sich beim Betrachter längst ein ungutes Gefühl eingestellt. Weil der Film seine ganze Konstruktion, die Kriminalgeschichte, seine Figuren, Bild für Bild und Zug um Zug nur benutzt, um auf das hinaus zu kommen, worauf er es von Beginn an abgesehen hat: die Darstellung der Geschichte eines schrecklichen Verbrechens. Es ist dies ein Missbrauch des Kinos mit den nobelsten Absichten, aber vom Kino aus geblickt bleibt es ein Missbrauch. Auch weil dem die Idee zugrunde liegt, dass man eine Geschichte süffig verpacken muss, um die Leute dafür zu interessieren. Indem die Didaxe ihren didaktischen Charakter verleugnet und das, worum es ihr zu tun ist, in einen sachfremden Thrill wickeln lässt, verkauft sie nicht nur ihr Anliegen an die Rhetorik der Vermittlung, sondern auch den Betrachter für dumm. Politisch ist das Kino mit den eigenen Mitteln - oder es ist nicht politisch. "Amu" ist eine Soap Opera für die falschen Freunde von Amnesty International.

Ekkehard Knörer

"Amu". Regie: Shonali Bose. Mit Konkona Sensharma, Brinda Karat, Ankur Khanna, Chaiti Ghosh, Aparna Roy u.a., Indien 2004, 98 Minuten. (Forum)


Japanischer Slacker-Film: Kazama Shioris "Sekai no owari - World's End/Girl Friend" (Forum)

Ein Tunnel, ein Mädchen und, als sie aufsteht, die Schrift an der Wand, und Zeichnungen, auf denen die Kamera verweilt. Der Vorspann dann Blick auf Wasser als Spiegel, Schlieren ziehend, Blasen werfend, schön. Die Bilder sind digital und man muss nicht lange suchen - ein kleines, hübsches Weilchen aber schon -, um eine Dreiecksgeschichte in ihnen zu finden. Obwohl es nicht eine einzige Geschichte ist, immer scheint es vielmehr so, als seien es ein paar. Der Film erzählt sie etwas unfokussiert und das ist nur zu konsequent, denn genau das sind auch die Figuren: unfokussiert.

Shinnosuke lernen wir kennen, als er erwacht neben einer Frau, deren Namen er nicht mehr weiß. Später erinnert er sich, man wird aber sagen dürfen: ein bisschen zu spät. Er lebt zusammen mit einem Freund, der aus seiner Bisexualität weder einen Hehl noch eine große Sache macht. Eigentlich liebt er im übrigen Shinnosuke, ein wenig zumindest. Am Ende küsst er ihn, aber das redet er gleich runter. Ein Ablenkungskuss, wird er sagen, und nicht zu Unrecht (beides ist eben wahr, es ist ein richtiger Kuss und ein Ablenkungskuss, so unfokussiert geht es zu). Die tropischen Fische sind tot, das Erdbeereis färbt das Wasser rot, Shinnosuke hat einen hysterischen Anfall, nach dem Kuss ist er aus dem Konzept. So recht, denkt man, hat er an seinen eigenen Anfall eh nicht geglaubt. Eine andere Freundin, deren Namen Shinnosuke bald vergessen wird, hat das Eis ins Wasser geworfen, weil er wieder hinter Haruko her ist, dem Mädchen vom Beginn, der Freundin der Kindheit, in die er sich dann doch verliebt. Er stellt es aber schlecht an, ganz schlecht und sie gibt ihm, als sie miteinander schlafen wollen, sicherheitshalber Schlafmittel in die Cola. Prompt schläft er ein, bevor sie auch nur halbwegs entkleidet sind. Am Morgen ist sie weg.

Haruko hat sich, als sie in den ersten Einstellungen an der Wand sitzt, auf der die Kamera dann verweilen wird, um Schrift und Bilder zu finden, von ihrem Freund getrennt und sucht Obdach. Sie wird es bei Shinnosuke finden, den sein Mitbewohner liebt, ohne dass er es ihm zu sagen wagte. Außerdem verkauft er Bonsaibäume, der Mitbewohner, in dessen Bonsai-Laden Shinnosuke ehrgeizlos arbeitet. Später wird Haruko, nachdem sie ihre Stelle als Friseur-Azubi verloren hat (aber recht hat sie), in einem großen rosa Kaninchen-Kostüm auf der Straße stehen und Werbung für ein Karaoke-Lokal machen. Den Sinn ihres Lebens kann sie darin nicht erblicken. Im netten, nicht mehr ganz jungen Salaryman, dem sie zuvor, als sie noch Friseurin lernte, einen Teekessel schenkte, den ihr ihr Ex-Freund vorbeigebracht hatte, leider auch nicht. Sie zieht bei ihm ein, dann zieht sie wieder aus, als dessen Freundin eines Tages vor der Tür steht. Haruko weiß nicht, was sie will. Shinnosuke weiß nicht, was er will. Natürlich sind sie sich beide genau darüber im Klaren. Nur hilft das nichts. Sie wissen, nur zum Beispiel, eben auch nicht so genau, ob sie einander wollen.

Kazama Shiori hat mit "World's End/Girl Friend" einen wirklich sympathischen japanischen Slacker-Film gedreht, auch über die Arbeitswelt, auch über die Liebe und das Leben und irgendwie auch über den ganzen Rest. Es gibt schöne Szenen, am Schluss etwa, wenn die Kamera durch die geschlossenen Augen des Paars, das sich zuletzt vielleicht doch findet, die Wolken vorüberziehen sieht. Die Leinwand wird schwarz, aber nicht ganz. Ein heller Schatten auf der beinahe schwarzen Leinwand, das ist wirklich schön. Ein wenig langweilig ist der Film aber auch. So langweilig, könnte man jetzt einwenden, wie die Leben, die man vorüberziehen sieht wie die Wolken auf dem Himmel und der Leinwand. Unfokussiert, ein etwas hellerer Schatten auf ziemlich schwarzem Grund. Eine Langeweile also, die ihren guten Grund hat. Eine keineswegs aufregende Langeweile, die bei der sehr beiläufigen Beobachtung beiläufig geführter Leben entsteht. Eine Langeweile, die durchaus ihre Richtigkeit hat und bei aller Richtigkeit eben doch eine Langeweile bleibt.

Ekkehard Knörer

"Sekai no owari - World's End/Girl Friend". Regie: Kazama Shiori. Mit Nakamura Mami, Shibukawa Kiyohiko, Nakatsuka Keishi, Tanabe Seiichi u.a., Japan 2004, 112 Minuten. (Forum)


Sind Pygmäen Menschen? Muss die sixtinische Kapelle neu gemalt werden? Fragen aus Regis Wargniers "Man to Man" (Wettbewerb)

Man kann den Forschern und Entdeckern des 19. Jahrhundert viele Grausamkeiten vorwerfen, aber solche Langweiler wie in diesem Film sind sie bestimmt nicht gewesen. Und ganz sicher waren sie nicht so mutlos wie Regis Wargnier. Der will mit "Man to Man", dem Eröffnungsfilm der Berlinale, das Drama der Wissenschaft vorführen, ihr Versprechen, ihren Ehrgeiz, ihren Wahnsinn. Aber eigentlich macht er daraus nicht mal ein ordentliches Melodram, sondern etwas sehr Moralisches.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang in Zentralafrika im Jahr 1870. Mit Hilfe der abgebrühten Tierhändlerin Elena van den Enden (toll: Kristin Scott Thomas) fängt der eher feinsinnige Anthropologe Jamie Dodd (Joseph Fiennes) zwei Angehörige eines Pygmäenvolkes. Inmitten von Löwen, Geparden und Papgeien werden die beiden nach Europa verschifft, wo Dodd zusammen mit seinen Forscherkollegen Fraser Mc Bride und Alexander Auckinleck beweisen will, dass die Pygmäen der "Missing Link" in Darwins Abstammungstheorie sind, dass Adam und Eva klein und schwarz gewesen sind: "Die sixtinische Kapelle wird neu gemalt werden müssen."

Die beiden Pygmäen - ihre Namen sind Toko und Likola, wie sich später herausstellt, Näheres verweigert der Film konsequent - werden in einem schottischen Schloss gefangen gehalten, ihre Schädel werden vermessen, die Stirnkrümmung im Verhältnis zur Gesichtswölbung berechnet, Futtergewohnheiten und Kopulationsverhalten erforscht. Doch die beiden Pygmäen zeigen immer mehr Anzeichen von Intelligenz und Emotion, und spätestens in dem Moment, als sie sich in der Lage zeigen, eine Waffe zu gebrauchen und mit List zu töten, dämmert den Wissenschaftler, dass es sich um menschliche Wesen handeln könnte. Aus Angst, ihre Studien nicht weiterführen zu können, nehmen sie den Tod des Wärters auf ihre eigene Kappe, als Mitglieder der ehrenwerten Gesellschaft müssen sie die Leiche eines Domestiken nicht erklären.

In seinen stärkeren Momenten schafft es der Film, seine Figuren in die moralische Bredouille zu führen. Dann tun sie das Richtige aus den falschen Gründen, ihr Ehrgeiz stößt uns ab, ihr Schneid imponiert uns. Oder Kristin Scott Thomas hält die große Rede auf das zivilisierte Europa, weil es ihren Geschäftsinteressen zupass kommt. Doch leider ist es genau diese Zweischneidigkeit, vor der der Film am Ende kneift. Die ganze Ambivalenz der Wissenschaft wird schön säuberlich auf die drei Männer verteilt: Der charakterschwache McBride wird wahnsinnig, Auckinleck von Ehrgeiz zerfressen und Dodd muss die Menschenwürde retten. Aus dem Drama wird Action: Die Pygmäen fliehen, werden wieder gefangen, der Royal Society vorgeführt, in den Zoo gesteckt und wieder befreit. Zum Schluss wird es dann schrecklich sentimental. Dann keimen Hoffnung und gegenseitiges Verständnis. Und dann erkennen wir auch, was uns Wargnier schon die ganze Zeit zeigen wollte: dass sich der tropische Regenwald gar nicht so sehr vom schottischen Mischwald unterscheidet.

Thekla Dannenberg

"Man To Man". Regie: Regis Wargnier. Mit Kristin Scott Thomas, Joseph Fiennes, Hugh Bonneville, Ian Glen u.a., Frankreich, Großbritannien, Südafrika 2005, 122 Minuten (Wettbewerb)


Bekommt in diesem Jahr den Ehrenbär: der koreanische Regisseur Im Kwon-taek

Nach 99 Filmen ist Im Kwon-taek wohl der Klassiker des koreanischen Kinos schlechthin. Angefangen hat er zu Beginn der 60er Jahre als Genre-Konfektionär, die ersten fünfzig Werke lässt er heute nicht mehr aufführen, die Retrospektive der Berlinale ebenso wie die sich im Berliner Arsenal anschließende umfassendere Werkschau (siehe unten) müssen auf die wohl auch nicht durchweg erhaltenen Filme verzichten. In den 70ern dann hat Im begonnen, Geschichten mit eigener Handschrift zu erzählen - wobei es wohl in die Irre führen würde, sie als "persönliche" Filme zu bezeichnen. Es ist vielmehr gerade der Verzicht aufs Subjektive, auf eine genaue Positionierung im Verhältnis zum Gezeigten, der die mir bekannten Werke des Regisseurs auszeichnet. Das mag durchaus auch der Zensur geschuldet sein und also den Kompromissen, die Im als Künstler in der Diktatur eingehen musste. Als Staatskünstler im engeren Sinne hat er dabei freilich nie getaugt. "Gilsotteum", sein Film zur Teilung Koreas, hat vielmehr eine derart kritische Tendenz, dass ein vermutlich von der Zensur erzwungenes Voiceover am Ende die Perspektive - vergeblich natürlich - gerade rücken soll.

Obwohl Im Kwon-taek inmitten der jungen Wilden, die das koreanische Kino in den letzten Jahren zum vielleicht aufregendsten der Welt gemacht haben, wie ein Traditionalist erscheinen muss, wird er in seiner Heimat weithin als Vorbild verehrt. Man darf sich vom Verzicht aufs Reißerische und Brachiale auch nicht täuschen lassen. Im ist ein Regisseur der präzisen Einstellungen, der politische Filme dreht, deren Botschaften eher im Bild als in den geäußerten Dialogen stecken. Anders als viele der gut gemeinten, aber bildpolitisch erschreckend naiven Filme, die sich in den letzten Jahren im Wettbewerb tummeln durften, sind Im Kwon-taeks Werke der seltene Fall, in dem die politische Klugheit sich durch das Zugleich von großer Zurückhaltung in der Explikation und bewundernswerter handwerklichen Genauigkeit einstellt. Mit einem Wort: Sein Werk ist eine echte Entdeckung.

Gilsoddeum

Unterm Vorspann ein Standbild: Ödnis, ein Gerippe, kein Mensch, kein Leben. Dann, leinwandfüllend, ein Fernsehgerät im Split Screen. Darstellungsform fürs geteilte Korea, ein Fernsehsender sammelt einander lang verlorene Verwandte und strahlt die sich in Tränen auflösende Energie in die koreanischen Wohnzimmer. Die nächste Einstellung, gefroren zum wie stets bei Im Kwon-Taek präzisen Bild der Verhältnisse, zeigt ein solches Wohnzimmer. Im schweren Ledermobiliar frontal vor dem Fernsehgerät die Kinder, der Vater im spitzen Winkel zu den Ausstrahlungen, im spitzen Ton auch zur aus dem politischen Material frivol produzierten Emotion. Die Mutter ist erst abwesend, dann aber betritt das Zimmer, beobachtet zögerlich erst, setzt sich dann, wird angerührt, eine Großaufnahme und Tränen. Ihre Geschichte wird der Film erzählen.

Sie beginnt mit einem Aufbruch. Ins Dokumentarmaterial der Zusammenführungsaktion trägt Im Kwon-Taek ihre Suchbewegung ein. Schriftbänder und Tafeln, Klein- und Großanzeigen, Menschen auf der Suche nach ihren durch die Wirren des Krieges, die Teilung in Nord und Süd verlorenen Verwandten. An zwei Nähten operiert der Film: an der zwischen Dokumentation und Spiel und an der zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Mühelos, mit kaum markierten Schnitten, leicht und so unangestrengt, als agiere hier das Gedächtnis selbst, wird zurückgeblendet, nach Gilsoddeum, an den Ort der Kindheit der Frau, wird von der verbotenen Liebe erzählt und dem Geliebten, stellen sich Bilder ein vom Regen, vom Kuss, vom Sex.

Auf den Geliebten von einst trifft die Frau inmitten der Suchtafeln, er spricht sie an, er hat sie nie vergessen. Von seinem Leben im Unglück erzählt er ihr. Vom Verlust ihres Sohnes in politischen Wirrnissen erzählt sie ihm. Den Sohn, erfahren wir, hat sie, vielleicht, im Fernsehen gesehen. Sie treffen sich, reden, er berichtet von der Blinden, die seine Frau ist, die ihm viele Kinder geboren hat, von der Frau, die er nicht liebt, weil er noch immer sie liebt, die Geliebte seiner Jugend, auch von diesen Verhältnissen stellen die Bilder wie unvermerkt sich ein. Sie beschließen, gemeinsam den Sohn aufzusuchen, falls er es ist, die Wahrheit herauszufinden, über ihn, auch über sich, ihre Leben, die von der Erinnerung verwundet geblieben sind bis zu diesem Tag.

Die Frau schweigt, sie lässt sich kaum anmerken, wie es ihr ergeht mit dem Kapitel ihres Lebens, das abgeschlossen schien. Dennoch wird ein Prozess sichtbar, in dem, was sie tut, ohne etwas zu sagen. Oder: Sichtbar, als Prozess, wird er gerade dadurch, dass sie nie erklärt, was sie tut und warum, sichtbar wird er in der Überblendung der Bilder, in der Mühelosigkeit, mit der sie sich einstellen, als Raum, in dem eine Stellung zu beziehen die Frau sich nicht länger weigern kann. Das Ergebnis dieses Prozesses ist, ohne Worte fast, eine Verfehlung. Die Wiederaufnahme des Vergangenen wäre, für sie, ein Fehler. Sie kommt ins Reine mit ihrer Geschichte, ihr einstiger Geliebter dagegen verharrt in der Melancholiestarre seines Unglücks. Der Sohn ist nicht wieder zu gewinnen, sein Leben ist nicht zu retten. Der Leben wegen, die weitergegangen sind, werden die Liebenden von einst sich in der Gegenwart nicht begegnen können: Er sehnt sich zurück, sie ist ihrer Gegenwart gewiss. Der missratene Sohn ist zuletzt nicht mehr als Darstellung der sich kreuzenden und zuletzt verfehlenden Projektionen. Sie wird beide, den Sohn wie den Geliebten, in einem brutalen und endgültigen Akt des Abschieds ein weiteres Mal im Stich lassen.

Im Kwon-Taek wiederum verweigert nicht weniger entschlossen das Melodram und das Sentiment. Die Bilder, in die er das Verfehlen und den Abschied auflöst, sind nüchtern, fast kalt. Er lässt die Figuren mit ihren Verzweiflungen allein, sein Blick ist nicht weniger starr als der seiner Heldin. Die standortlose, nur als diese Standortlosigkeit bestimmbare Haltung des Erzählers Im ist, hier wie in seinen anderen Filmen, die einer fast schon ausgestellten Distanz, der Beobachtung ohne Teilnahme. Die Tränen, die in den Großaufnahmen der Gesichter zu sehen sind, konstatieren Gefühle, ohne, wenn man so sagen kann, selbst zu fühlen oder gar Mitgefühl zu fordern. An der Naht zwischen Dokumentation und dem pathetischen Zugriff auf die Figuren im Bild bezieht Im Kwon-Taek stillschweigend Stellung fürs Dokumentarische, so weit es der Fiktion zugänglich ist.

Chukje

Deutlicher noch wird der dokumentarische Gestus in "Chukje", einem Film, der sich zeitlich den Rahmen einer traditionellen koreanischen Begräbniszeremonie gibt. Schritt für Schritt erklärt er, was geschieht, vom Wattebausch unter der Nase der Leiche, der unbewegt den Tod bezeugt, über das Schneiden der Haare und Nägel, das Einwickeln und Umkleiden bis zu den öffentlichen Trauergesängen und Zeremonien unterschiedlicher Art. So einfach jedoch, so einfach dokumentarisch wie es auf den ersten Blick scheint, geht es gar nicht zu. Markiert wird das schon darin, dass die Tote plötzlich wieder lebt, einen letzten Schnaufer tut, bevor sie wenig später wirklich stirbt und tot ist für immer. Nicht nur sie widersetzt sich dem klaren und eindeutigen Gang der Dinge - und sei es um ein Weniges -, auch die Dokumentation legt Wert eher aufs Synkretistische und Ungeordnete, ja geradezu Entropische der Riten, die doch Klarheit und Ordnung geben sollen.

Hinzu kommt die Multiplikation der Erzählperspektiven, die Multizentralität des Erzählens. Die eine Zentralfigur ist der Sohn der Toten, der erfolgreiche Schriftsteller, der aus der Großstadt aufs Land reist und damit immer zugleich in seine Vergangenheit, in eine vorsäkulare Gesellschaftsordnung, ins Innere der Familienbande, deren Kräfte er offenkundig nicht zuletzt durch literarische Darstellung bannt. Alle kommen sie in seinen Büchern vor, eher schmeichelhaft gezeichnet, wie es scheint. Mit einer Ausnahme: Yongsoon, ein weiteres Zentrum des Films und zwar gerade als exzentrischste der Figuren, die hier zum Familienbild zusammentreten. Das schwarze Schaf, die Nichte des Autors, Geld, heißt es, hat sie mitgehen lassen, die guten Sitten verfehlt sie immer um ein kleines, gerade darum umso merklicheres Stück. Zu den Beerdigungsriten trägt sie ein Fest-, kein Trauerkleid. Ans Grab bringt sie dem Vater und der Großtante Pringles-Chips und allerlei dem Anlass nicht angemessenes Naschwerk. Sie ist es, die mit der Wiederaufnahme in die Familie ein Happy-End erleben wird.

Und ein drittes Zentrum. Mit der Stimme der Tochter des Schriftstellers werden kleine, artifizielle Inserts erzählt und von Im Kwon-Taek im Bruch mit dem Realismus des Rests vor Augen gestellt, vom Älterwerden der Großmutter, das sich als Prozess der Infantilisierung erweist. In Studiokulisse vor gemalten Hintergründen verjüngt sich die Greisin, wird symbolisch die Ablösung der Generationen dargestellt. Es werden sich diese Szenen zuletzt als Beispiel der narrativen Familienverarbeitung des Schriftstellers erweisen und damit etwas allzu nahtlos vielleicht in die elegante Anordnung dieses zuletzt Kreise lieber schließenden als offen haltenden Films eingebunden.

Bleibt aber ein viertes Zentrum. Eine Freundin, Kollegin des berühmten Autors, wie er aus der Großstadt, Journalistin, sie verfasst ein Porträt, des Schriftstellers, seiner Familie, anlässlich der Begräbniszeremonie, die alle zusammenführt. Am ehesten ist sie die Vertreterin des Regisseurs, emsig Informationen sammelnd, unbeteiligt beteiligt, Freunde wie Neider befragend, beobachtend, ohne teilzunehmen, ethnografisch geradezu. Aus der Distanz, die der Film mit ihr zum Geschehen hält, gelingen jene leicht satirischen Zuspitzungen, die den Ton des Ganzen prägen.

Ekkehard Knörer

Alle Filme von Im Kwon-taek auf der Berlinale:

Berlinale Special:
Chunhyang Dyeon (2000)

Forum:
Jokbo (The Genealogy, 1978)
Gilsoddeum (1985)
Chukje (Festival, 1996)

Panorama:
Mandala (1981)

Retrospektive:
Wangshibri (A Bygone Romance, 1976 )
Seopyeonje (1993)

Außerdem zeigt das Kino Arsenal ab 21. Februar eine Im-Kwon-taek-Retrospektive mit 20 Filmen. Mehr hier und hier.