Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 5. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer, Anja Seeliger
14.02.2005. Politisch ist Yash Chopras indisch-pakistanischer Liebesfilm "Veer-Zaara". Nicht politisch ist Hany Abu-Assads Wettbewerbsbeitrag "Paradise Now" über zwei Selbstmordattentäter. Schlecht politisch ist Robert Guediguians Film über Mitterrand. Eine Lichtgestalt: Julia Jentsch in Marc Rothemunds Wettbewerbsfilm "Sophie Scholl". Geniestreich einer Unbekannten - Liu Jiayin hat mit "Niu pi" einen Film über sich, ihre Eltern und die Katze gedreht. Paul Weitz zeigt im Wettbewerbsbeitrag "In Good Company" das Drama eines Teenagerbosses. Falsche Versöhnung mit der DDR findet nicht statt in Robert Thalheims "Netto". Tania Detkina erhängt in "Pakostnik" Teddybären.Eine Liste aller besprochenen Berlinalefilme finden Sie hier.
Geschönt: Francois Mitterand in Robert Guediguians "Le Promeneur du Champ de Mars" (Wettbewerb)

Robert Guediguian ist ein linker Filmemacher. Vielleicht scheint es ihm schon deshalb evident, dass man sich heute noch für Francois Mitterand interessieren sollte. Mitterand war der letzte Linke alter Prägung unter den europäischen Staatsoberhäuptern. Ein Linker zugleich, der als Rechter angefangen und als zynischer Monarch aufgehört hat. Ein belesener Linker, der es an Größenwahn und Starrsinn in seinen letzten Jahren nicht fehlen ließ. Es kommt schon ein bisschen überraschend, dass Guediguians Porträt der letzten Monate des Präsidenten (dargestellt von Michel Bouquet) angesichts dieser Umstände mehr oder minder unkritisch ausfällt.

Gewiss möchte sein Biograf, der junge Autor Antoine Moreau (Jalil Lespert), über die Sache damals in Vichy, die Freundschaft mit dem Rechten Bousquet, die Wahrheit herausfinden. Er beißt da aber bis zuletzt auf Granit. Den Rest der Zeit ist "Le Promeneur du champ de Mars" freilich damit beschäftigt, den sterbenden Präsidenten als weisen alten und seinen Biografen als etwas orientierungslosen jungen Mann darzustellen. Sie sitzen beieinander und reden. Sie gehen spazieren und reden. Sie fahren Auto und reden. Will sagen: Meistens redet Mitterand. Unschlagbar seine Tipps, was die Frauen angeht, das erfährt Antoine am eigenen Leib. Es gibt Zitate großer und mittlerer Denker, es gibt Lebensweisheiten der zum Glück nicht ganz trivialen Sorte, aber eigentlich gibt es keinen Grund für diesen Film.

Kaum vorstellbar scheint, dass sich angesichts dieser von Bousquet immer an der Grenze zur Charge dargestellten Figur bei anderen als fanatischen Anhängern Mitterands so etwas wie Faszination einstellt - und doch scheint es darauf hinaus zu wollen. Der bloßen Lebenserzählungen wird das halbwegs unglückliche Liebesleben des Biografen auf mehr als unglückliche Weise zur Seite gestellt. Der Film behauptet die Strahlkraft seines Helden und vertraut ihr selbst nicht. Wirklichen Ambivalenzen weicht er immer wieder aus, Mitterand behält durchweg das letzte Wort. "Le Promeneur du champ de Mars" macht von Beginn an den Eindruck einer einigermaßen kompetent ausgeführten Auftragsarbeit. Warum sie aber über den einen oder anderen Arte-Zuschauer hinaus irgendjemanden interessieren sollte, das ist die eine Frage, die sich so leicht nicht beantworten lässt.

Ekkehard Knörer

"Le promeneur du Champ de Mars - Der späte Mitterrand". Regie: Robert Guediguian. Mit Michel Bouquet, Jalil Lespert, Philippe Fretun, Anne Cantineau, Sarah Grappin, Catherine Salviat. Frankreich 2004, 116 Minuten. (Wettbewerb)


Hilflos: Hany Abu-Assads "Paradise Now" (Wettbewerb)

Was soll man noch sagen? Soll man es noch einmal sagen? Dass ein Film, der seinen Figuren politische Thesen in den Mund legt und um die Münder herum Darsteller castet und um die Darsteller herum Bilder baut, indem er Kameras in Palästina aufstellt und hinter seinen Darstellern mit den Mündern, aus denen politische Thesen sprechen, mit der Kamera herläuft durch die Straßen der West Bank, dass ein solcher Film das Gegenteil eines politischen Films ist? Dass er, schlimmer noch, auch das Gegenteil von Kino ist und man seinen Machern raten würde, doch einen Zeitungsartikel zu schreiben, wenn, ja wenn sie überhaupt irgend etwas Interessantes mitzuteilen hätten.

Soll man es noch einmal sagen und immer wieder sagen und irgendwann einfach nichts mehr sagen, den Wettbewerb abhaken und hoffen, dass die Ära Kosslick möglichst bald vorüber geht, damit man Filme wie "Paradise Now" nicht mehr im Mittelpunkt eines der großen Festivals der Welt ertragen muss? Was soll man sagen? Soll man es noch einmal sagen: Dass das Gegenteil von gut noch stets gut gemeint war und das Gegenteil von Kunst das sozialdemokratische Verständnis davon?

Also, fürs Protokoll. Erzählt wird die Geschichte zweier palästinensischer Selbstmordattentäter, Khaled und Said, der Film zeigt sie am letzten Tag vor dem geplanten Anschlag und am Tag des Anschlags selbst. Ein kurzes Video wird gedreht, in dem sie zum Abschied ihre revolutionären Sprüche aufsagen. Später wird sich die Frau, aus deren Mund der Pazifismus hängt wie in einem mittelalterlichen Gemälde die Erläuterungen auf weißen Bändern aus den Mündern der Figuren hängen, darüber empören, dass man diese Videos in palästinensischen Läden kaufen kann. Der Anschlag wird scheitern, einer der beiden, Said, wird durch die Straßen irren auf der Suche nach der Botschaft des Ganzen, die der Film am Ende salomonisch entzwei teilen wird.

Es wäre schon falsch zu sagen, "Paradise Now" sei ein schlechter Film. Eigentlich ist er, wie gesagt, gar kein Film, sondern der hilflose Versuch, die verteufelte Lage im Nahen Osten irgendwie in Szene zu setzen. Die politische wie die ästhetische Naivität, mit der das geschieht, ist so offenkundig, dass es schon übertriebener Aufwand wäre, sich dem Ganzen ideologiekritisch zu nähern. Wie wenig man komplexen politischen Situationen durch Personalisierung gerecht werden kann, wie peinlich es ist, solche Vereinfachungen durch die obligatorische Liebesgeschichte auch noch in den Kitsch zu treiben, wie albern es ist, aus dem Nichts mal so eben, ohne irgendeinen Grund, eine Abendmahlszene zu inszenieren, muss man das noch sagen? Noch einmal, immer wieder? Ach.

Ekkehard Knörer

"Paradise Now". Regie: Hany Abu-Assad. Mit Kais Nashef, Ali Suliman, Lubna Azabal, Amer Hlehel, Hiam Abbass u.a., Niederlande, Frankreich, Deutschland 2005, 90 Minuten (Wettbewerb)


Liebe und Rührung, Trauer und Beseligung: Yash Copras "Veer-Zaara" (Forum)

"Veer-Zaara" ist klassisches Bollywood-Kino in Vollendung. Kaum einer versteht sich darauf so gut wie Regisseur Yash Chopra, der als Produzent mit seiner Familienfirma Yash Raj Film eine der großen Legenden der Bollywood-Geschichte ist. Sein Sohn Aditya Chopra schreibt seit einigen Jahren die Drehbücher zu vielen der Yash-Raj-Filme, teils verfilmt er sie auch höchst erfolgreich selbst. Aditya Chopra hat die Muster, die Klischees und die Plotvariationen, die es im kommerziellen indischen Kino in durchaus überschaubarer Anzahl gibt, offenkundig nicht nur verinnerlicht, sondern versteht sich auf die eigentliche und große Kunst des Systems: Sie in jedem gelungenen neuen Film wieder frisch aussehen zu lassen.

Das Budget wie das Handwerk aller Beteiligten kommen ihm bei "Veer-Zaara" zu Hilfe. Es stecken in dem Film Jahrzehnte der angewandten Publikumsforschung, er ist deshalb ein wirklich ausgereiftes Modell, das spürt man Einstellung für Einstellung. Was er auch zeigt, ist die gelegentlich etwas überraschende Tatsache, dass man mit der denkbar wirklichkeitsfernen Form des Bollywood-Films in denkbar wirklichkeitsferner Darstellung und zugleich großer Direktheit politisch werden kann, ohne dass das ins Verlogene kippen würde. Genauer gesagt ist es dabei sogar so, dass es gerade wegen der Wirklichkeitsferne und Direktheit - und natürlich nur im besten Falle - nicht verlogen ist.

Bar jeden Realismus ist etwa der Dialog, in dem die Pakistanerin Zaara den vom Feminismus unbeleckten, sonst aber aufs Patriarchalischste liberalen Vater ihres (noch nicht offiziell) Geliebten Veer darauf aufmerksam macht, dass nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter des Dorfes schulischer Bildung teilhaftig werden sollten. Ein paar Einstellungen und einen Tanz später verkündet der Vater seinen neuesten Plan: Die Errichtung einer Mädchenschule. Natürlich ist das, nach Maßgabe realistischer Personen- und Wirklichkeitsdarstellung, geradezu horrender Unfug. In Wahrheit ist es aber nichts anderes als so nonchalant wie konkret formulierte Utopie, vorgetragen von Amitabh Bachchan, dem größten Star des indischen Kinos und damit dem wahrscheinlich berühmtesten Schauspieler der Welt. Frauen sollten gleichberechtigt sein. Frauen sind genauso klug und genauso fähig wie Männer.

Keineswegs ist das die Hauptsache des Films, der die Herzen rühren und die Zuschauer bewegen will. Auch die pakistanisch-indische Versöhnungsbotschaft, auf die alles hinausläuft, ist Hauptsache nur nach Art des Nebenbei, mit dem sich die Wiedervereinigung der Liebenden ganz wie von selbst auch als Versöhnung der geteilten Nation lesen lässt. Selbstverständlich aber bleiben die Liebe und die Rührung, die Trauer und die Beseligung das eigentliche Anliegen von "Veer-Zaara". Im gelungenen Fall wird in Bollywood der schiere Kitsch zum reinen, unverlogenen Medium des Gefühls wie der Utopie. Verdankt ist das einzig der Künstlichkeit, in die das Eigentliche sich auf ganz vertrackte Art eintragen lässt. Wie aus der Künstlichkeit des Kitsches Gefühle ohne Falsch hervorgehen, das ist das Geheimnis und das Wandlungswunder von Bollywood, das sich in "Veer-Zaara" durchaus auch erleben lässt.

Der Film ist, wie gesagt, Bollywood in Vollendung. In dieser, wenn man so will: altmeisterlichen Vollendung aber stößt dieses Kino inzwischen an seine eigene Grenze. Diese Grenze als eine, die ein Meister wie Yash Chopra in Richtung ungezügelterer Darstellungen nicht überschreiten will und kann, wird in "Veer-Zaara" dann doch ein wenig spürbar. Der Film bewegt und entzückt, reißt aber kaum einmal hin. Seine Überraschungen sind wohl dosiert, manche der sogenannten Picturizations (also Verbildlichungen der Songs, so heißt der Song-and-Dance sehr zutreffend im Fachjargon) wunderschön und auch klug in der imaginären Darstellung von Wünschen und Ängsten. Das gewisse Etwas an Exzess und Widersinn und Wagemut, das die ganz großen indischen Filme auszeichnet, das fehlt aber.

Ekkehard Knörer
"Veer-Zaara". Regie: Yash Chopra. Mit Shahrukh Khan, Rani Mukerji, Preity Zinta, Kirron Kher, Divya Dutta, Boman Irani u.a., Indien 2004, 192 Minuten. (Forum)


Lichtgestalt: Julia Jentsch als "Sophie Scholl" (Wettbewerb)

"A star is born" hatte Dieter Kosslick trompetet, um Julia Jentsch den ganz großen Auftritt zu sichern. Also Mundwinkel runter, Skepsis geschultert und nichts wie rein in "Sophie Scholl"! Und man kann es nicht anders sagen: Julia Jentsch ist toll. Wenn sie um ihr Leben lügt, um ihr Leben weint und es schließlich aufgibt, um Höheres zu verteidigen, dann wird sie nie theatralisch, bleibt ganz zurückhaltend, ein junges Mädchen von 21 Jahren, dessen heiliger Ernst einem das Herz zuschnürt.

Und noch einen Star hat der Film: das Drehbuch - oder besser gesagt: die sechzig Seiten Verhörprotokolle der Gestapo, die lange Zeit unzugänglich in DDR-Archiven lagen. Sie liefern den Text für den Film, der ungefähr da beginnt, wo Michael Verhoevens "Weiße Rose" aufgehört hatte. Mit der letzten Flugblatt-Aktion. Sophie, ihr Bruder Hans (Fabian Hinrichs) und Christoph Probst (Florian Stetter) werden verhaftet und verhört. Vier Tage lang, insgesamt 25 Stunden. Der Film bleibt bei Sophie Scholl und dem Gestapo-Mann Robert Mohr (Alexander Held), einem Mann, der es "unter den Demokraten nur zum Schneider" gebracht hatte und der jetzt unter den Nazis als Verhör-Spezialist im Wittelsbacher Palais residieren darf. Sophie Scholl wird leugnen, gestehen, schützen, aber nicht verraten. Nicht andere, und nicht ihr Gewissen.

Regisseur Marc Rothemund und Drehbuchautor Fred Breinersdorf beteuern, allein nach Faktenlage gedreht zu haben. Trotzdem zeigt der Film so, wie er allein auf Sophie Scholl, zugeschnitten ist, natürlich eine Lichtgestalt. Nie zögert sie, Angst kennt sie nicht und schließlich tröstet sie beim Abschied ihre Mutter. Das Angebot, sich selbst als bloße Mittäterin rauszuwinden, schlägt sie ohne zu zögern ab: "Ich will keine geringere Strafe als mein Bruder!" Dass einem das nicht zu viel wird, liegt auch an der Gestalt des Christoph Probst, den der Film wie auch Hans Scholl nur kurz zeigt. In dem Todestheater, das der eigens aus Berlin angereiste Roland Freisler veranstaltet, zeigt er, dass es etwas Schwierigeres gibt, als seinem Richter aufrecht ins Gesicht zu sehen: Probst, Vater dreier Kinder, bittet um sein Leben. Es wird ihm nicht nützen. Auch er stirbt unter dem Fallbeil.

Nachtrag: Von ihrer Zelle erlebt Sophie Scholl einen alliierten Fliegerangriff auf München. Verzückt blickt sie in den hell erleuchteten Himmel und flüstert: "Es dauert nicht mehr lange, und wir sind frei." Später werden britische Flieger das letzte Flugblatt der "Weißen Rose" millionenfach über Deutschland abwerfen.

Thekla Dannenberg

"Sophie Scholl". Regie: Marc Rothemund. Mit Julia Jentzsch, Robert Mohr, Fabian Hinirchs, Johanna Gastdorf, Andre Hennicke u.a. Deutschland 2005, 120 Minuten . (Wettbewerb)


Liu Jiayin: "Niu pi - Oxhide" (Forum)

Das schönste Erlebnis, das man auf einem Filmfestival haben kann, ist es, im Kino zu sitzen, nichts zu erwarten, den Film eines völlig unbekannten Regisseurs zu sehen und nach wenigen Minuten zu begreifen, dass man es mit einem Geniestreich zu tun hat. Leider ist das nicht nur das schönste Festivalerlebnis, das sich vorstellen lässt, es ist auch eines der seltensten. Gestern aber ist mir genau das passiert, aus heiterem Himmel, natürlich im "Forum des Internationalen Films", wo sonst.

Liu Jiayin ist eine Regisseurin aus Peking, 22 Jahre alt. Sie hat gerade erst mit dem Studium an der Filmhochschule ihrer Heimatstadt begonnen, "Oxhide" ist ihr Debüt. Hergestellt ist es mit den einfachsten Mitteln: Eine Digitalkamera, zwei Mikrofone, die sie sich geliehen hat, ein gutes, sagt sie später, ein schlechtes, daher die Unterschiede im Ton. Für zwei gute Mikrofone war kein Geld da. Es gibt keine Schauspieler, genauer gesagt: Es spielen Liu Jiayin selbst und ihre Eltern (und die Katze). Sie spielen sich selbst. Gedreht ist der Film in der 40 Quadratmeter großen Wohnung, die für keine Einstellung verlassen wird. Die Eltern und die Tochter spielen sich selbst und ihr Leben in der eigenen Wohnung.

Große Kunst wird daraus durch die Form, in der die Regisseurin diese nahe liegende Idee umsetzt. Der Film besteht aus 23 Einstellungen, die mit unbewegter Kamera gedreht sind. So radikal wie umwerfend sind die Ausschnitte kadriert. Nie erhält man einen Überblick über die Wohnung, nie bekommt man eine der Personen ganz in den Blick. "Oxhide" ist ein Film, dessen Intelligenz in der Art liegt, in der das Gezeigte und das Nicht-Gezeigte zugleich im Spiel sind. Ein Film, der die platte Abbildung vermeidet, indem er mit großer Bewusstheit und atemberaubender Entschlossenheit den Raum der Familie für die Kamera arrangiert. Nur für den oberflächlichsten Blick kann das kunstlos wirken.

Eine der ersten Einstellungen schon macht einem klar, wie präzise Liu Jiayin ihre 23 Kapitel inszeniert. Ins Bild kommen, wie es zunächst scheint, sinnlos zusammengestellte Gegenstände. In der Mitte der Teppich, links ein Foto, rechts etwas, das wie ein Sessel aussieht. Man kann das alles nicht genau erkennen, das Bild wirkt amateurhaft. Im Off unterhalten sich ein Mann und eine Frau. Es geht um Schriftzeichen, um Typografie, die Rede ist auch von einem Discount, man versteht nicht recht, was das soll. Das geht ein paar Minuten so, die Einstellung bleibt unverändert. Dann kommt ein bisher nicht gehörtes Geräusch hinzu, ein rotes Blatt schiebt sich aus dem Sessel, der, wie man nun begreift, ein Drucker ist. Die Stimmen haben über den Laden gesprochen, Zettel, die einen 50prozentigen Rabatt versprechen. Damit ist, aus dem Off, aus dem Drucker, der ein Sessel schien, eines der Leitmotive des Films entworfen. Jede Einstellung des Films ist, wenn auch nicht immer mit einem Verblüffungseffekt, von einer formalen Konzentration, die man in der Sprache als gebundene Rede bezeichnen würde.

"Oxhide" ist ein Film über eine Familie. Diese Familie, die die Familie der Regisseurin ist. Es geht um den Vater, der Ledertaschen produziert und verkauft, seit Jahren gehen die Geschäfte schlecht, seit Jahren sind sie verschuldet. Man sieht die Familie beim Essen, beim Arbeiten, beim scheinbaren Nichtstun. Der Vater klagt sich an für seinen Misserfolg, er verachtet die Verkaufsmethode, die dem Kunden einen Discount vorgaukelt. Man spricht über die Zeitungsverkäuferin, die plötzlich gestorben ist, Mutter und Tochter beraten, wie man den Geburtstag des Vaters feiern kann. Jede dieser Szenen wirkt, wie man so sagt, ganz wie aus dem Leben gegriffen.

Und natürlich sind diese Szenen aus dem Leben gegriffen. Alles, was sie zeigt, wird die Regisseurin erklären, hat sich so oder ähnlich ereignet. Dennoch ist "Oxhide" kein Dokumentarfilm. Liu Jiayin hat ein genau ausgearbeitetes Drehbuch geschrieben, die Szenen lange mit ihren Eltern geprobt, Improvisation gibt es kaum. Die Eltern und die Regisseurin stellen sich selbst und ihr Leben dar, aber als Darsteller ihrer selbst. Die Einstellungen verknappen den Raum und reformulieren in der gebundenen Rede einer hier auf Anhieb fast schon in Vollendung gesprochenen Filmsprache die Wirklichkeit. In keinem der aktuellen Filme der Berlinale habe ich dergleichen gesehen, im Forum nicht und schon gar nicht im Wettbewerb. "Oxhide" ist eines der Wunder, die es ganz selten gibt. Es ist bisher der eine Film, den man unbedingt sehen sollte.

Ekkehard Knörer

"Niu pi - Oxhide". Regie: Liu Jiayin. Mit Liu Zaiping, Jia Huifen, Liu Jiayin. China 2005, 110 Minuten. (Forum)


Paul Weitz: "In Good Company" (Wettbewerb)

Paul Weitz erzählt in seinem Wettbewerbsbeitrag "In Good Company" eine Geschichte aus dem Arbeitsleben. Immer interessant sowas. Dan Foreman (Denis Quaid), 51-jähriger Anzeigenleiter einer Sportzeitschrift bekommt einen neuen Boss. Es ist Carter Duryea, 26 Jahre alt. Foreman wird künftig die zweite Geige spielen. Wie das passieren konnte? Die Zeitschrift wurde verkauft, der neue Besitzer installiert seine Leute auf den leitenden Posten. Das übliche halt. Aber für den, den es trifft, ist es natürlich so, als passierte es das erste Mal. Foreman guckt in dieses Teenagergesicht und kann es nicht fassen.

Wir Zuschauer sind schon weiter. Wir durften vorher schon mal hinter die smarte Yuppiefresse sehen. Im Fahrstuhl stand Duryea (Topher Grace) neben Foremans Tochter Alex (Scarlett Johansson), die ihren Vater zum Tennis abholen wollte. Ein 26-Jähriger kann eine 18-Jährige nicht als Boss beeindrucken. Duryea hat die Hosen voll und sagt es ihr auch, einfach so. Später steht er vor den Angestellten, von denen er viele entlassen wird, und erklärt ihnen, wie das Anzeigengeschäft um 20 Prozent gesteigert werden kann: Synergie ist das Zauberwort. Wie der Schauspieler Topher Grace in dieser Szene seine Nervosität überwindet und sich in eine fast religöse Anfeuerungsrede steigert - das ist wirklich sehr gut. Der Rest des Films ist deprimierend banal. Duryea, Kind liebloser Hippieeltern, lädt sich bei Foreman zum Essen ein und kommt dort Tochter Alex näher. Der junge Mann sucht eine Familie. Foreman kann dem Jungen aber auch im Berufsleben noch zeigen, was eine Harke ist. Was für ein Märchen!

Dass der Film es schafft, in der ersten Hälfte interessant zu bleiben, liegt an Topher Grace, der hier eine Art dreifacher Rittberger hinlegt: smarter Yuppie im Büro, verliebter Teenager bei Alex, verlorener Sohn bei Foreman - alles in einer Person. Grace erinnert - nicht nur äußerlich - an den wunderbaren Tobey Maguire. Weshalb man bei Verlassen des Kinos doch ins Grübeln gerät. Was der 29 Jahre alte Maguire wohl empfindet, wenn er diesen Film sieht? Mit einem drei Jahre jüngeren Nachfolger, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Ach, das Leben ist viel grausamer, als dieser Film.

Anja Seeliger

"In Good Company - Reine Chefsache". Regie: Paul Weitz. Mit Dennis Quaid, Topher Grace, Scarlett Johansson, Selma Blair u.a., USA 2004, 109 Minuten. (Wettbewerb)


Falsche Versöhnungen finden nicht statt in Robert Thalheims "Netto" (Perspektive Deutsches Kino)

Robert Thalheim, der sein Studium an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf noch nicht beendet hat, hat für seinen Film "Netto", der noch nicht einmal sein Abschlussfilm ist, bereits viel Lob erhalten. Ab Mai wird er gar in deutschen Kinos zu sehen sein, der Regisseur wird landauf, landab als großes Talent gepriesen.

Man sollte die Kirche im Prenzlauer Berg lassen. Hier ist kein großer Meister vom Himmel gefallen. Die Begeisterung sagt mehr über die Konjunkturen bestimmter Themen und Herangehensweisen an die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeiten als über den Film. Erzählt wird in "Netto" die Geschichte eines Ostdeutschen, der den Fall der Mauer als Beglückung erfahren hat. Die Frau, die er liebte, hat ihm einen Sohn geboren, die Zukunft war rosig. Dann ging es bergab und zwar ganz furchtbar. Der Film erzählt in der Gegenwart, wie sein Sohn nach zwei Jahren der Abwesenheit zu ihm zurückkehrt. Die Ehe ist zerbrochen, die Frau ist schwanger, von einem Wessi. Der Sohn flieht, vom neuen Einfamilienhaus in die Bruchbude im Prenzlauer Berg in Berlin, in der sein Vater haust. Der ist eine so traurige wie unglücklicherweise auch unerträgliche Gestalt, sehr ähnlich übrigens bis in manche Details dem Gunnar aus der "Dritten Heimat". Große Klappe, Selbstmitleid, ständiges Genörgel über die Ungerechtigkeit der Welt und nichts dahinter. Der Sohn hält es kaum aus, hilft ihm bei einer Bewerbung, aus der nichts wird, haut ab, kehrt zurück, verleugnet ihn.

Es gibt peinliche Szenen, es gibt lustige Szenen, wie überhaupt das Buch bemüht ist, den kitchensink-Realismus immer wieder aufs Komödiantische hin abzufedern. Eine Liebesgeschichte des Sohnes kommt hinzu, Star Wars, der Mauerpark und vor allem Peter Tschernig, der Johnny Cash der DDR, geben Lokal- und Generationenkolorit. (Ich habe, nebenbei gesagt, nicht gewusst, dass es Peter Tschernig gab, in dessen Gestalt die DDR das Grauen, das den Namen Truck Stop trägt, überholte, ohne es einzuholen. Trotzdem ist es sehr schön, wie der Film mit Tschernig umgeht und darauf verzichtet, ihn zu denunzieren.) Vieles bleibt ungelenk, wie von einem solchen Erstling nicht anders zu erwarten. Wirklich schön, fast schon großartig sind zwei Szenen, in denen die Kamera dem Helden folgt, wie er durch Berlin radelt, in der Nacht. Man hört die Geräusche des Dahingleitens durch die Dunkelheit, fast möchte man sagen: die Geräusche der Dunkelheit. Rabiat geht es dann immer wieder ins Klischee zurück. Aber es gilt auch: Falsche Versöhnungen finden nicht statt. Kein unsympathischer Film.

Ekkehard Knörer

"Netto". Regie: Robert Thalheim. Mit Milan Peschel, Sebastian Butz, Christina Grosse, Stephanie Charlotta Koetz u.a., Deutschland 2004, 86 Minuten. (Perspektive Deutsches Kino)


Nass: Tania Detkinas "Pakostnik" (Forum)


Was für ein grandioser Anfang! In einer Kamerafahrt. Und die geht so: Ein Wald, es regnet, mitten auf dem Weg ein kaputter Bagger, ein langbeiniges Mädchen mit einer seltsamen Tätowierung auf der Wange geht daran vorbei, zwei Männer mit hochgeschobenen Schweißermasken kommen ihr entgegen, man würdigt sich keines Blickes (offenbar ist es im russischen Wald nicht ungewöhnlich, Männern mit Schweißermasken zu begegnen). Die Kamera folgt den Männern auf ihrem Weg durch den Wald, bis sie zu einem Gerüst kommen, auf dem sie hochklettern und ihrer Arbeit nachgehen. Die Kamera fährt nach oben, das Gerüst gehört zu einer Brücke, und da oben begegnen wir dem Mädchen wieder, dass sich mit einem jungen Mann streitet und den Inhalt seines Rucksacks wütend auf die Erde wirft. Den Streit hören wir nicht, nur das Geprassel des Regens. Schnitt.

Wir sind in einem Zimmer, der junge Mann schläft, hat einen bösen Traum. Als er aufwacht und sich aufsetzt, denkt man: Ist der hässlich. Ein dürrer Typ mit krummem Rücken, Brille und Pickeln. Mit der Zeit wächst er einem ans Herz. Paschka ist Nachtwächter in einer Villa, deren siebziger-Jahre-Tapetenmuster den Zuschauer ganz schwindelig machen, obwohl der Film in Schwarz-Weiß gedreht ist. Der Hausbesitzer entlässt Paschka. Der packt seine haarlose alte Katze ein und verlässt das Haus, nicht ohne jedoch vorher eine Bombe in einen Teddybär eingenäht und die Überwachungskamera im Klo installiert zu haben.

Die Familie zieht wieder ein und erlebt ihr blaues Wunder. Überall Teddybären! Eine ganze Bande davon hat sich im Schuppen erhängt! Ein Angestellter wird beobachtet, wie er sich im Klo den Hintern mit dem Handtuch abwischt. Und die ganze Zeit regnet es. Man riecht die Nässe förmlich (kein Wunder, der ganze Kinosaal ist voller nasser Jacken), während Paschka durch den Schlamm stapft und sein Rachefeldzug den vorhersehbaren Lauf nimmt.

Am Ende ist der Eindruck wie bei so vielen Filmen auf dieser Berlinale: wunderbare einzelne Bilder, aber abgesehen von der Skurrilität eines Einzelnen - was ist die Geschichte?

Anja Seeliger

"Pakostnik". Regie: Tania Detkina. Mit Darsteller: Maxim Roganow, Anton Priwalow, Swetlana Malischewa, Alexandra Ilienko u.a., Russland 2005, 82 Minuten. (Forum)