Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 8. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer, Christoph Mayerl
16.02.2006. Isabelle Huppert ist Charmant-Killman in Claude Chabrols "Geheime Staatsaffären". Mordsmäßig elegant: Pang Ho-cheungs Wettbewerbsfilm "Isabella". Pamirkirgisen erklären Ben Hopkins "37 Uses for a Dead Sheep". Der iranische Regisseur Mani Haghighi beobachtet Männer bei der Arbeit und Frauen beim Kettensägen schwingen. Neil Armfields "Candy" zeigt das reizendste Junkie-Paar der Filmgeschichte. George Gittoes Film "Rampage" begleitet drei Rapper in Miamis Brown Sub. Nikias Chrysso führt uns in "Hochhaus" in eine Plattenbausiedlung in Halle.Eine Liste aller besprochenen Berlinalefilme finden Sie hier.
Charmant-Killman: Claude Chabrols "Geheime Staatsaffären - L'Ivresse du Pouvoir" (Wettbewerb)

Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass "Isabella" (siehe unten) auf dem Festival direkt vor "L'Ivresse du pouvoir" läuft. Sicher aber gehört der achte Tag der Berlinale nur einer: Isabelle Huppert. Um sie dreht sich alles in diesem Film, an ihr hängt und an ihr reibt sich jedermann. Danach kommt Odile Barski, die ein Drehbuch abgeliefert hat, dessen Dialoge den Figuren wie eine zweite Haut passen. Auf dem dritten Platz folgt Claude Chabrol, der diese Studie über die Macht und ihre Folgen mit seinem bösen Humor zu einer delikaten Angelegenheit macht.

In diesem Film muss man immer wieder an Champagner denken, obwohl nur ein einziges Mal getrunken wird. Isabelle Huppert spielt die Staatsanwältin Jeanne Charmant-Killman als zartes, feminines Wesen, das mit den Stapel von Aktenordnern auf ihrem Tisch nichts zu tun zu haben scheint. Aber spätestens als sie ihre roten Lederhandschuhe auszieht, sich in ihrem Stuhl niederlässt und den ersten in einer langen Reihe von hochgestellten Verdächtigen aus Politik und Finanzwelt hereinbittet, ihre Eröffnungsfinte spielt und gleich darauf eine psychologische Breitseite folgen lässt, merkt man, wie eiskalt und professionell diese Anwältin mit dem ambivalenten Namen sein kann.

Ein Geheimnis von Isabelle Huppert ist es nun, dass sie es schafft, zugleich todmüde und so geladen zu wirken, dass man in jedem Moment die nächste Volte erwartet. Die langen Arbeitszeiten fordern aber ihren Tribut, mit ihrer Ehe geht es bergab. Gleichzeitig zeigt ihr Neffe, der nur für den Moment lebt und sein Geld unter anderem mit Pokern verdient, dass es im Leben Alternativen gibt. Das Verhältnis zu ihm oszilliert zwischen Kumpelhaftigkeit und Affäre, ohne dabei die Begrenzungen jemals zu berühren.

Es geht also um die Macht, wie ihr Gewinn trunken macht, aber auch wie ihr Verlust verwirrt. Wie schnell das alles gehen kann, zeigt Chabrol am Anfang. Noch sind nicht alle Credits durchgelaufen, da steht der Mann, der vor fünf Minuten noch ein allmächtiger Vorstandsvorsitzender war, vor Gefängnisbeamten und muss sich ausziehen. Als die Hose fällt, sieht man den letzten Schriftzug: "Ein Film von Claude Chabrol". Chabrol gibt ganz offen zu, dass er vom Korruptionsskandal um Elf Aquitaine inspiriert wurde. Der mit dem Staat intim verzahnte Ölkonzern hatte Schmier- und Bestechungsgelder in Millionenhöhe gezahlt. Als Ironie möchte Chabrol folgerichtig die Mitteilung verstanden wissen, dass dieser Film rein fiktiv sei. Zahlreiche Hinweise, vom Namen bis zur entlarvenden Hautkrankheit, weisen aber auf die realen Vorbilder hin. Viel Zeit darüber nachzudenken hat man allerdings nicht, weil man die meiste Zeit mit dem Verfolgen der exquisiten Wortgefechte beschäftigt ist, die sich Jeanne mit ihren windigen Verdächtigen, ihrem Mann oder ihrer Konkurrentin liefert.

Als Jeanne sich schließlich zu den wirklich mächtigen, ENA-geschulten Drahtziehern vorwühlt, stößt sie an eine undurchdringliche Wand. Ihr Chef kündigt auf Befehl von oben an, sie werde wegbefördert. Das verhilft ihr, die sich in zunehmendem Maße an ihrem Einfluss berauscht hat, zu einer gesunden Nüchternheit. Und uns zu einem Satz, der von den schmalen Lippen der Huppert wie ein tödlicher Florettstoß auf ihren Chef niedergeht. "Behalten Sie meinen Bonus", sagt sie mit dieser Drei-Sterne-Eisfach-Stimme, "und kaufen Sie sich ein Paar Eier davon".

Christoph Mayerl

"L'Ivresse du Pouvoir - Geheime Staatsaffären". Regie: Claude Chabrol. Mit Isabelle Huppert, François Berleand, Patrick Bruel, Thomas Chabrol, Yves Verhoeven u.a., Frankreich/Deutschland 2005, 110 Minuten (Wettbewerb)


Mordsmäßig elegant: Pang Ho-cheungs "Isabella" (Wettbewerb)

Der korrupte Cop Ma (Chapman To) ist ein Typ, der wild in der Gegend rumvögelt. Eines Tages kommt was aus der Gegend zurück. Sie heißt Yan (Isabella Leong), sie ist jung, sie ist schön, sie ist seine Tochter, sagt sie, und schlägt ihm eine Bierflasche über den Kopf. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Ort und Zeit der Geschichte eines Vaters, der eine Tochter findet und einer Tochter, die einen Hund namens Isabella verloren hat, sind ein wenig überdeterminiert. Es ist 1999, das Jahr vor der Rückgabe der portugiesischen Kolonie Macao an China. Bei Portugiesen isst man nicht, sagt einer von Mas Spitzeln, es liegen Abschied und Trauer in der Luft. Beinahe unaufhörlich spielt die stark portugiesisch angehauchte Wehmutsmusik dazu. Fado in Macao.

Regisseur Pang Ho-cheung gilt seit seinem virtuosen, wenn auch ein wenig angeberischen Debüt "You Shoot, I Shoot" (2001) als Hoffnung für das Kino Hongkongs. Er ist zudem der Autor eines Roman-Bestsellers, den Johnnie To als "Fulltime Killer" - vor ein paar Jahren auch auf der Berlinale zu sehen - verfilmt hat. Was Pang Ho-cheung alles kann, sieht man seinem Wettbewerbs-Film "Isabella" wohl an. Das rechte Maß für den Einsatz seiner Mittel hat er freilich noch nicht gefunden. So bietet "Isabella" viele schöne Bilder, aber auch viel zu viele zu schöne.

Wunderbar eine Szene, in der Yan und Ma ihre Habe in großen Taschen und rhythmisch synchron durchs Macao bei Nacht transportieren. Auch sonst leuchten die Gassen und Küchen, die Treppen und Wände in pittoreskem Schummer, aber das macht noch keinen Wong Kar-wei. Zudem hat die von Charlie Lam geführte Kamera den unseligen Hang, die effektbewusste Perspektive der effektiven vorzuziehen und filmt aus dem Kühlschrank, aus einem Ofen durch züngelnde Flammen und immer wieder auch von genau da, wo eigentlich die Wand hinterm Sofa sein müsste.

Zwischen Verfolgung von Korruption und Rückblenden in private Vergangenheiten streut Pang in grüner Schrift auf schwarzem Grund einen Countdown zur Übergabe Macaos. Der Zusammenhang zwischen Privatem und Politischen bleibt insgesamt dennoch Behauptung. So ist "Isabella" zwar von Anfang bis Ende sympathisch, bald aber nur noch eine Stilübung in melancholischer Manier. Ein bisschen langweilig, aber gepflegt. Ein bisschen oberflächlich, aber mordsmäßig elegant.

Ekkehard Knörer

"Isabella". Regie: Pang Ho-cheung. Mit Chapman To, Isabella Leong, J. J. Jia, Derek Tsang, Meme Tian u.a., China 2006, 91 Minuten (Wettbewerb)


Pamirkirgisen erklären Ben Hopkins "37 Uses for a Dead Sheep" (Forum)

Es gibt keine 37 Verwendungsmöglichkeiten für ein totes Schaf. Es gibt 36. Im Laufe seiner Dokumentation lässt sich Ben Hopkins von einem der Dorfältesten alle erklären. Das ist lustig, und setzt auch den Ton des Films. Mit großem Humor, aber ohne seine Protagonisten bloßzustellen, schildert Hopkins seine Begegnung mit den Pamirkirgisen. Dabei könnte man die Odysee, die das etwa 2000 Menschen umfassende Volk im 20. Jahrhundert durchmachte, durchaus tragisch nennen. Seit Jahrhunderten lebten sie auf den Hochebenen nahe dem heutigen Afghanistan als Nomaden und Schafzüchter. Nach Gründung der Sowjetunion lag ihr Lebensraum plötzlich innerhalb der sowjetischen Einflusssphäre, sie wichen nach China aus, das dann aber bald ebenfalls kommunistisch wurde, von dort aus zogen sie nach Afghanistan, dann nach Pakistan und schließlich, vor dreißig Jahren, in den Osten der Türkei. Dort leben sie in einem neuerrichteten Dorf, dort hat sie der Filmemacher Ben Hopkins besucht, um mit ihnen Szenen aus ihrer Vergangenheit nachzustellen und sie so zu konservieren.

Es ist ein Panorama-Film daraus geworden. Dokument eines Volkes, dessen Alte den schneebedeckten Gipfeln des Pamir nachtrauern und dessen Junge von Internetcafes in Istanbul träumen. Es liegt wohl an ihrer Isolation, dass besonders unter den Älteren so viele quicklebendige Originale zu finden sind. Ein Greis erzählt, wie man früher mit Bindfäden Zähne zog und zeigt minutenlang kichernd sein letztes verbliebenes Original. Minuten später schlägt er in einer der Filmszenen einem als russischen Soldaten verkleideten Statisten fast den Schädel ein. Der Anführer berichtet von seinen Zweifeln, ob er seinen Vater, den legendären Khan, richtig darstellen wird, um sich dann königlich zu amüsieren, als der angeklebte Bart schief hängt. Auch die historischen Szenen erheitern durch Stummfilmanleihen und dramatische Musik. Die Geschichte erscheint so manchmal als böser Traum und kommt den hundertmal erzählten und in diesem Prozess stilisierten Erinnerungen der Alten näher als die vermeintlich nüchterne Deklamation von Fakten.

Der besondere Dreh dieses Projekts besteht darin, dass die Pamirkirgisen nicht abgefilmt, sondern die filmische Arbeit mit ihnen dokumentiert wird. Hopkins geht es um die Interaktion zweier Welten, um die Verständigung unter Fremden, um die Scheu vor der Kamera und die Losgelassenheit, wenn sie vergessen wird. Anfangs wird im Kino bei den vielen amüsanten Szenen noch verhalten gelacht, weil immer der Verdacht besteht, Hopkins benutze die Natürlichkeit der Figuren nur als Steinbruch für effektheischende Lacher. Doch die humorvolle Herangehensweise ist beidseitig und fungiert darüber hinaus als tragfähige Brücke zwischen Menschen, die sich nicht nur in verschiedenen Welten, sondern auch in verschiedenen Jahrhunderten bewegen. Ein vergnüglicher, saftig lebendiger Dokumentarfilm über Exil, Heimat - und natürlich Schafe. Mehreren tausend hat der Alte schon die Gurgel durchgeschnitten. "Hier im Dorf bin ich ein bekannter Schafmörder", sagt er, und man wüsste auch gerne, wie sich das anfühlt, so ruhig und selbstbewusst, so beneidenswert selbstverständlich hört es sich an.

Christoph Mayerl

"37 Uses for a Dead Sheep". Regie: Ben Hopkins. Mit Arif Kutlu, Alpaslan Kutlu, Süleyman Atanisev, Aysun Ucar u.a., Großbritannien/Türkei 2006, 89 Minuten (Forum)


Haarsträubend: Mani Haghighis "Kargaran mashghool-e karand - Men at work" (Forum)

"Männer bei der Arbeit", so sieht das aus: Sie, das sind vier offenbar eher wohlhabende Männer so um die fünfzig, kommen zurück vom Skifahren, erzählen sich Geschichten von indischen Fahrern, Geschichten vom Pinkeln. Einer entdeckt, im Knie einer Serpentine in den Bergen, einen Felsen, hinter dem sich prima austreten lässt. Er ruft die anderen, der Fels, der einsam und steil in die Luft ragt, fasziniert sie. Was Männer zur Arbeit animiert, so sieht es aus, sind Dinge, die weg müssen. Die vier Männer fassen den Plan, nicht weniger als komplett meschugge, den Felsen gen Tal zu stürzen. Sie packen an, das Ding lässt sich nicht erweichen. Durch ihrer bloßen Körper Kraft nicht und nicht mit Hilfe eines Esels, der auftaucht, auch nicht mit dem Auto. Der Felsen bleibt obstinat.

Und opak. Symbolisch lesbar wird er erfreulicherweise nicht. Der Film "Men et Work" arbeitet keineswegs an seiner metaphorischen Aufladung. Der Steinbrocken widersetzt sich allen Interpretationsversuchen ebenso wie den Bemühungen der Helden um seine Beseitigung. Er ragt und ragt und hat nichts zu sagen. Jedoch wirkt er als absurder Attraktor. Die ganze iranische Gesellschaft nämlich, könnte man etwas übertreibend behaupten, schaut im Laufe des Films mal vorbei. Ein Auto und noch eins, aus einem dringt laute Musik, "California Dreaming". Man kennt sich, mit Realismus hat das, das versteht man recht bald, nicht viel zu tun. Sehr wohl verhandelt wird aber dennoch und gerade in der komischen Verfremdung der haarsträubenden Zufallsbegegnungen der Stand der Dinge im Verhältnis der Geschlechter; die Jungs machen, vorsichtig gesagt, keine gute Figur. Und wann hat man zuletzt im iranischen Kino eine Frau gesehen, die lustvoll eine Kettensäge schwingt?

Einer der Männer wird angesichts des Widerstandsfelsens beinahe verrückt. Ein anderer verletzt sich beim Versuch, ihn zu stürzen, am Knie. Einer muss nebenbei den Streit mit seiner sehr viel jüngeren Frau beilegen. Die Helden kennen einander seit langem. Übers Leben in der besseren iranischen Gesellschaft erfährt man in ihren das Deftige nicht scheuenden Gesprächen ganz nebenbei eine Menge. Die vier erscheinen als wehleidig und infantil. "Men at Work" rückt ihnen zu Leibe und schildert sie in einer Mischung aus Kritik und dann doch Sympathie. Sie sind wie die Kinder, sie wollen nur spielen und zeigen sich dann vom Felsen in ihrer Ehre gekränkt.

Nicht zuletzt ist "Men at Work" eine oft komische Übung in furchtlosem Absurdismus. Das Nirgendwo in den Bergen bleibt ständig geerdet in der entstehenden Kartografie zwischenmenschlicher Beziehungen, die am Felsen am Berg, im Knie der Serpentine, ihren Austrag finden. Das Drehbuch basiert auf einer Idee von Abbas Kiarostami, an dessen Werk man eines im Westen immer schon gern übersah: den Hang zur Komik, die sich der genauesten Beobachtung keineswegs ausschließlich iranischer Absurditäten verdankt.

Ekkehard Knörer

"Kargaran mashghool-e karand - Men at Work". Regie: Mani Haghighi. Mit Attila Pesyani, Mahmoud Kalari, Ahmad Hamed, Omid Rohani, Fatemeh Motamed Arya u.a., Iran 2006, 75 Minuten (Forum)


Plantschen im Schlamm der Freude: Neil Armfields "Candy" (Wettbewerb)

Dan liebt Candy, das Mädchen und den Stoff, der alles zusammenhält. Dan (Heath Ledger) und Candy (Abbie Cornish) sind das wohl reizendste Junkie-Paar, das man je gesehen hat. Sie malt, er liest Gedichte von E.E. Cummings, beide sind freundliche jungen Menschen, die einfach nur wollen, dass sich die Welt ein bisschen schneller dreht. Ein paar Schwindelgefühle.

Es ist keine neue Geschichte, die der australische Regisseur Neil Armfield in seinem Film "Candy" erzählt: Sie kommt über ihn an den Stoff. Schon der erste Schuss, eine Beinahe-Überdosis, bringt Candy ins Schwärmen: "Lass uns mehr nehmen." Exzesse wird es nicht geben, nur Sex, mal einen Schuss in der Badewanne, mal einen in der Autowaschanlage. Natürlich wird es irgendwann immer aufwändiger, das tägliche Kleingeld zusammenzuschnorren. Die Eltern sind schon nicht mehr so blind, wie sie noch tun. Und selbst die guten Freunde halten Moralpredigten: "Solange du kannst, willst Du nicht aufhören, und wenn du es willst, kannst du nicht mehr."

Als auch beim Pfandleiher nichts mehr zu holen ist, nimmt die Karriere nach unten ihren Anfang. Candy fängt an, auf den Strich zu gehen. Aber weil Dan ihr ja trotzdem so verbunden ist, heiraten die beiden, in Schwarz allerdings, man will ja nicht spießig wirken. Als Candy schwanger wird, entschließen sich die beiden aufzuhören. Drei Tage liegen sie im kalten Entzug, heulen und schreien vor Schmerzen, schwitzen und kotzen vor der Glotze, bis Candy eine Fehlgeburt hat. Nun sind die beiden entschieden auf der Erde angekommen.

Es wird die Hölle, alles vorher war dagegen ein "Plantschen im Schlamm der Freude". Candy dreht durch und kommt in die Nervenklinik. Und Dan wird sich lieber neben die Leiche seines Freundes legen, als allein zu sein. Schließlich werden die beiden sich entscheiden müssen: für das Leben oder dagegen.

Bekenntnisliteratur von Ex-Junkies steht gerade hoch im Kurs. Neil Armfield hat aus Luke Davies australischen Erfolgsroman "Candy" einen Film gemacht, der berührt, aber nicht wehtut. Nie, selbst in ihrem tiefsten Elend nicht, wird man Ekel oder Scham empfinden. Der Film folgt Dan und Candy beim Absturz vom High Life in die Gosse, so freundlich und so mitfühlend, gern auch mit Streicherbegleitung oder von Chorälen unterlegt, dass es einem auf dem eigenen Sitz nie unbehaglich wird.

Thekla Dannenberg

"Candy". Regie: Neil Armfield. Mit Heath Ledger, Abbie Cornish, Geoffrey Rush. Australien 2006, 108 Minuten (Wettbewerb)


Athentisch: George Gittoes' "Rampage" (Panorama)

"Man schießt in Miami eher auf uns als in Bagdad", hat Elliott Lovett dem australischen Filmemacher George Gittoes 2004 erzählt, als der den rappenden Soldaten bei den Recherchen für "Soundtrack to War" kennenlernte. Also ist Gittoes im vergangenen Jahr wieder in ein Krisengebiet gefahren, nach Brown Sub, nahe dem Flughafen von Miami. Herausgekommen ist "Rampage", ein Porträt der Lovett-Brüder und ihres Lebens, so authentisch, lebendig und nah dran, dass es ebenso anstrengend wie ungemein lohnenswert ist.

In Brown Sub leben schwarze Familien in flachen Einheitsbungalows, wer wegziehen kann, macht das, kaum einer schafft es. Vom Sunshine State Miami mit seinen Stränden und Promenaden ist nichts zu sehen. Es ist verbotenes Gelände, freiwillig kommt hier keiner her. Als das Filmteam zum ersten Mal in das Viertel hinein fährt, zieht eine Limousine mit finster aussehenden Gestalten gleich auf. Es sind Freunde, von Elliott als Begleitschutz abgestellt für die sichere Passage zum Haus der Familie. Dem ehemaligen Polizisten ist es peinlich, als die Kamera beobachtet, wie er nach dem Interview die Pistole sorgfältig in das Fach neben den Schaltknüppel legt, der Inhaber der örtlichen Videospielhalle zeigt seine von Schrotkugeln durchsiebte Schulter und berichtet, dass in der Nacht zuvor zwei seiner Freunde ermordet wurden. Fast jeder hat eine Waffe in den Baggy Pants stecken, und ja, jeder rappt. Wer also mit dieser Musik gar nichts anfangen kann, sollte damit anfangen. Allein um dieses großartigen Films willen.

In diesem Film geht es auch um Kunst, und aus was sie entsteht. Es dauert eine Weile, bis sich die Augen freigesehen haben und man nicht mehr dauernd denkt, dies sei eine Kulisse für irgendein Musikvideo auf MTV. Dann aber merkt man, dass die drei Brüder - Elliott, der 20-jährige Marcus und der 14-jährige Denzel - einfach talentierte Songwriter sind. Marcus spricht kontinuierlich in Blankversen, die Übergänge von der alltäglichen Unterhaltung zur mit Beats unterlegten Performance sind fließend.

Dann fällt Marcus einem Mordanschlag zum Opfer, die Täter werden nie gefasst. Auch bei der Beerdigung ist Gittoes, filmt das Leid der Mutter und einen traumatisierten Denzel, der mit offenen Mund am Sarg seines Bruders steht und dem das Unfassbare ins Gesicht geschrieben steht.

Das ist ungeheuer beeindruckend und natürlich ungeheuer voyeuristisch. Trotzdem entsteht beim Zuschauer nicht das Gefühl, dass Gittoes die Lovetts ausnutzt. Er reißt alle Grenzen zwischen Beobachter und Beobachtetem ein, filmt nicht nur sich selbst beim Filmen, sondern freundet sich mit den Lovetts an, leidet mit ihnen, berät sie und setzt seine Beziehungen ein, um für Denzel einen Plattenvertrag zu bekommen. Gittoes wird zum Tutor des jüngsten Bruders, lädt ihn zu sich nach Australien ein und begleitet ihn zu den Vorstellungsraps. Denzel ist ein Talent, das sagen alle, doch keiner kann sich vorstellen, wie man einen 14-Jährigen vermarktet, der über Glocks und AK-47 dichtet. Gittoes, der auch Bilder malt und sich Malern wie Beckmann und Grosz verwandt fühlt, scheint mit seiner Kamera verwachsen zu sein. Was er sieht, sieht der Zuschauer.

George Gittoes macht das, was Michael Winterbottom in "Road to Guantanamo" leider versäumt hat. Er lässt die Protagonisten sprechen und schaut ihnen dabei nicht nur auf den Mund, sondern auch ins Gesicht. Gittoes ist engagiert, ohne dass es einem sauer aufstößt. Natürlich verhalten sich die Jugendlichen vor der Kamera anders, spielen immer auch ihre Rolle, wie man in jeder sozialen Interaktion eine Rolle einnimmt. Fest steht: Niemand, der diese Kritik liest, wird jemals näher an Brown Sub herankommen, an diesen gottverlassenen Ort mitten im reichsten Land der Welt, wo Gewalt und Poesie so unverständlich nahe beieinander liegen.

Christoph Mayerl

"Rampage"
. Regie: George Gittoes. Dokumentarfilm, Australien 2005, 118 Minuten (Panorama)


Du bist Deutschland: Nikias Chryssos Plattenbaupanorama "Hochhaus" (Perspektive Deutsches Kino)

Die Macher von "Du bist Deutschland" werden sich diesen kurzen, harten Film "Hochhaus" bestimmt nicht ansehen. Doch auch das ist Deutschland. Eine Plattenbau-Landschaft in Halle, das Musterbeispiel einer schrumpfenden Stadt gilt. Hier wohnen nur noch die, die nicht wegkommen. Der zwölfjährige Daniel zum Beispiel, der mit seinem 17-jährigen Bruder Patrick alleine irgendwo in einem der Wohntürme haust. Patrick ist ein kleiner Gauner, dessen Kreativität sich in wechselnden Geschäftsideen erschöpft. Mit dem Blasrohr fängt er die Haustiere von alten Damen, um sie einzusperren und den Finderlohn zu kassieren. Oder er schickt seinen Bruder mit einer Tasse zum Spendensammeln für Afrika. Wird das langweilig, benutzt er ihn als Zielscheibe für Bierdosen, die er mit seinem Baseballschläger abfeuert. Daniels persönlicher Schatz ist ein Motorrradhelm, den er aufsetzt, wenn ihm alles zuviel wird. Dann stellt er sich auf das Hochhausdach, bastelt sich aus einer umgedrehten Chipstüte silberne Astronautenschuhe und träumt sich weg, in den Himmel. Ein Fixer, den er beim Spendensammeln kennen lernt, wird ein denkbar ungeeigneter Freund, der ihm von Amerika erzählt und der goldenen Postkutsche, die bald kommt und sie alle holt.

Innerhalb der Hochhaussiedlung geht es roh und brutal zu, und bald hat man das Gefühl, dass es hinter der steppenartigen Ödnis rund um die Wohntürme keine Welt mehr gibt. Dass hinter dem Horizont eines der reichsten Länder der Erde liegt, vergisst man. Die Verbindung nach draußen jedoch ist abgebrochen, niemand wird kommen und die vertrocknete Landschaft zum Blühen bringen. Jeder, der hier übrig geblieben ist, ist auf sich allein gestellt. Nikias Chryssos lebt in Ludwigsburg und nicht in Halle, doch glaubt man ihm und seinen Darstellern jeden Fluch, jeden Schlag und jeden Schuss.

Was berührt an diesem kurzen, kleinen Experiment ist die seltsame Vertrautheit der Szenerie. Weil man solche oder ähnliche Siedlungen zumindest aus dem Auto schon einmal gesehen hat, weil sie näher sind als es angenehm wäre, erschrickt man über die Fremdheit, die einem aus den Bildern entgegenschlägt. Wenn Afrika in Sizilien beginnt, dann fängt die postkommunistische Modrigkeit nicht erst in Russland an. Wenn ich das nächste Mal "Du bist Deutschland" höre, werde ich an das pickelige, brutale Gesicht von Patrick denken müssen.

Christoph Mayerl

"Hochhaus". Regie: Nikias Chryssos. Mit Paul Preuss, David Scheller und Daniel Fripan. Deutschland 2005, 40 Minuten (Perspektive Deutsches Kino)