Außer Atem: Das Berlinale Blog

Wo der Strom herkommt: Zur Shibuya-Minoru-Retrospektive

Von Thomas Groh
10.02.2011.


Ganz heimlich, still und leise schleicht sich der elektrische Strom in die japanischen Haushalte - zwar kommt er auch hier aus der Steckdose, doch die ist, wie man in "Righteousness" (1957) von Shibuya Minoru sehen kann, Bestandteil der von der Decke hängenden Lampe. Und wenn die nicht leuchtet, kriegt man auch keinen Saft auf den allseits etwas beäugten elektrischen Rasierapparat, den die Schwarzmarkthändlerin Okyo (Miyoshi Eiko) arg aufdringlich ausgerechnet an ihre Nachbarinnen verhökern will. Eine findet ihn als Massagegerät wohl brauchbar, die andere rasiert sich zum Test den Nacken aus - abnehmen will ihn der ansonsten sehr geschäftigen Händlerin indessen keiner.

Es fehlt schlicht am Geld - die Leute leben, zwölf Jahre nach der Kriegsniederlage, bescheiden und in traditionellen Wohneinrichtungen, in denen der Strom eben von der Decke kommt. Weder bescheiden noch traditionell lebt die Familie in der bitterbösen Komödie "The Days of Evil Women", den Shibuya Minoru ein Jahr später, im Gegensatz zu "Righteousness", in Cinemascope und sattem Technicolor dreht: Wenn Shibuya mit der Kamera zwei Schritte zurück geht von seinen Figuren, drohen der Patriarch Yashiro (Tono Eijiro) und seine Frau, eine ehemalige Geisha (Yamada Isuzu), in einer vollgestellten Wohlstandswelt regelrecht zu ertrinken. Die eingerollten Schlafmatratzen, die Sitzkissen und wadenhohen Tische aus "Righteousness" und anderen traditionellen japanischen Filmen sucht man hier vergebens: Die Familie lebt europäisch-westlich orientiert, Jugendliche, die später ins Filmgeschehen rücken, feiern Rock'n'Roll. Nicht der Strom, das Gas kommt hier auf ungewöhnliche Weise ins Haus: Über ofenartige Gebilde in jedem Zimmer, die sich so auch ganz vortrefflich für Mordabsichten eignen. Als ein Arzt dem Gatten allerbeste Gesundheit attestiert und ein langes Leben in Aussicht stellt, greift die Gattin zu allen Mitteln - und zum Gas als erstes -, um den verhassten, aber reichen, nur ihr gegenüber leider Gottes doch sehr geizigen Ehemann endlich gewinnbringend aus ihrem Leben zu streichen.



Es endet grotesk: Am Ende hetzen alle Beteiligten quer durch japanisches Hinterland einem weißen Ballon hinterher, an dem eine Schatulle mit - man weiß es nicht genau - echten oder falschen Diamanten hängt, alle vergessen sich darüber und finden nur den sicheren Tod. Ob in der Technicolor-Komödie oder im schwarzweißen Sozialdrama: Shibuya Minorus Blick auf seine Figuren, auf die Mechanik, die sie antreibt, sie zueinander ins Verhältnis setzt und ins Verderben führt, dieser Blick also kennt keine falsche Sentimentalität, er ist präzise, vor allem aber unnachgiebig. In "Drunkard's Paradise" (1962) lässt er den aus Yasujiro Ozus Filmen bekannten Ryu Chishu unter haarsträubenden Bedingungen sich direkt in die biografische Katastrophe saufen: Sohn tot, Knast wegen versuchten Mordes. Dabei verkörpert Ryu Chishu keineswegs einen sozialen Außenseiter: Vielmehr steht der Büroangestellte mitten in einer Gesellschaft, die aber blödsinnig dem Alkohol verfallen ist und sich in Richtung Elend säuft.

Der übersteigerte japanische Nationalismus, die Kriegsbegeisterung nicht geringer Teile der Bevölkerung liegt zum Zeitpunkt dieser Filme noch keine 20 Jahre zurück. Zwar wird Shibuya an keiner Stelle explizit, doch ist das latente Misstrauen, mit dem der Regisseur in seinen mal absurden, mal sozialrealistischen Familien- und Milieustudien seinen Landsleuten begegnet, stets spürbar. Bizarr wird es etwa, wenn in "The Days of Evil Women" eine Gruppe Motorradrocker den Unfalltod von zwei der ihren singend am Straßenrand feiert, weil die beiden, ein Liebespaar, in inniglich küssender Umarmung verunfallt sind. In allen drei genannten Filmen bricht eine der Hauptfiguren grotesk grimassierend in Tränen aus - nicht weil ihnen etwas nahe geht, sondern weil sie sich handfest im Nachteil befinden. Die Tränen, die hier kullern, sind die von unreifen Kindern. Wenn am Ende von "Righteousness" die Katastrophe wie ein Damoklesschwert über Okyo baumelt, sie aber fast schon märchenhaft mit dem Schrecken davon kommt, ertönt im Hintergrund eine Art Nebelhorn, wie zur Warnung. Und immer dreht sich alles ungut ums Geld.



Acht Filme aus Shibuya Minorus Werk zeigt das Forum, eine Auswahl aus einer größeren Retrospektive, die im Herbst 2010 in Tokio stattfand, und setzt damit eine mittlerweile fast schon traditionelle Reihe von Spotlights auf bislang unbekannte japanische Regisseure der klassischen Ära - und das heißt: auf Regisseure bei der Shochiku - fort (im letzten Jahr etwas Yasujiro Shimazu, siehe hier). Wie viele andere Filmemacher aus dieser Zeit begann auch Shibuya Minoru als Assistent bei der bis heute aktiven, ältesten Filmproduktionsgesellschaft Japans. Dort ging er bei anerkannten Meistern in die Lehre, vor allem bei Mikio Naruse, später auch bei Yasujiro Ozu, von dem er mit "The Raddish and the Carrot" 1964, ein Jahr nach dessen Tod, eine Geschichte verfilmte (hier ein Ausschnitt). Soweit die markantesten Eckdaten, sehr viel mehr über ihn ist auch bei ausgewiesenen Experten des japanischen Films nicht in Erfahrung zu bringen. Donald Ritchie etwa zieht ihn in seinem filmhistorischen Überblick "A Hundred Years of Japanese Cinema" lediglich zur Illustration allgemeiner Tendenzen im japanischen Kino heran - und auch dies nur höchstselten.



Dies ist wohl bezeichnend für die Arbeitsverhältnisse bei der Shochiku, diesbezüglich dem klassischen Hollywood durchaus ähnlich. Wer für sie Filme drehte, war in erster Linie Angestellter mit Day-Job-Routine - dies gilt für die zahlreichen Regisseure, die schlicht den enormen, aber meist wertig erstellten Output des Studios bewerkstelligten, oder auch die im westlichen Ausland als singulär gefeierten Meister wie Ozu, Naruse, Kurosawa oder den noch immer zu entdeckenden Keisuke Kinoshita. Man kann nur mutmaßen, wie viele weitere großartige oder zumindest interessante Regisseure in den Backkatalogen des Studios zu entdecken sind: Ein Großteil der Filme, die Shochiku in seiner über hundertjährigen Geschichte produzierte, waren streng auf den eigenen Binnenmarkt ausgerichtet. Doch zeigt sich schon am Beispiel von Shibuya Minoru, dass eine aus Gründen cineastischer Besitzstandswahrung aufrecht erhaltene Trennung zwischen Meister und Routinier unter den Produktionsbedingungen bei Shochiku kaum aufrecht zu erhalten ist.

So mögen in dieser Reihe von Versuchen, das klassische Kino jenseits der altehrwürdigen Namen dem Ausland zu erschließen und nahezubringen, die genauen Milieubeobachtungen von Shibuya Minoru nicht zu den ganz großen Hebungen dieser Art zählen; wertvoll sind sie aber schon mindestens deshalb, weil sie helfen, den Blick auf das große Ganze, als das man die Geschichte der Shochiku begreifen muss, um eine Facette zu bereichern. Ein Puzzlespiel, so steht zu erwarten, mit Fortsetzung im nächsten Jahr.

Shibuya-Minoru-Retrospektive im Forum. (Vorführtermine)