Außer Atem: Das Berlinale Blog

Bleibt ein Unvollendeter: George Sluizers 'Dark Blood' (Wettbewerb)

Von Nikolaus Perneczky
15.02.2013. George Sluizers "Dark Blood" blickt auf eine bewegte Produktionsgeschichte zurück. Zehn Tage vor Drehschluss starb Hauptdarsteller River Phoenix an einem drogeninduzierten Herzinfarkt; das abgedrehte Material wurde von der Versicherungsgesellschaft in Verwahrung genommen. Das war im Oktober 1993. 2012 gelang es Sluizer, der vor einige Jahren ein Aneurysma erlitten hatte, die existenten Aufnahmen zu sichern und "Dark Blood" doch noch fertigzustellen – allerdings ohne den Film zu vollenden: Die Lücken, die Phoenix’ Tod ins Narrativ gerissen hat, sind nicht trickreich kaschiert, sondern mit einem voice-over markiert. Sluizer verliest mit unmerklichem Akzent (er ist gebürtiger Niederländer) und fast ohne Emphase die nicht realisierten Drehbuchpassagen, manchmal über eine ausklingende Spielfilmszene gelegt, manchmal über ein Still gesprochen. Ganz zu Beginn erläutert er dieses Konstruktionsprinzip. Das Bild dazu zeigt ihn Arm in Arm mit einem verkniffen dreinblickenden River Phoenix. "Dark Blood" ist – und bleibt – Sluizers Unvollendeter.


George Sluizers "Dark Blood" blickt auf eine bewegte Produktionsgeschichte zurück. Zehn Tage vor Drehschluss starb Hauptdarsteller River Phoenix an einem drogeninduzierten Herzinfarkt; das abgedrehte Material wurde von der Versicherungsgesellschaft in Verwahrung genommen. Das war im Oktober 1993. 2012 gelang es Sluizer, der vor einige Jahren ein Aneurysma erlitten hatte, die existenten Aufnahmen zu sichern und "Dark Blood" doch noch fertigzustellen – allerdings ohne den Film zu vollenden: Die Lücken, die Phoenix’ Tod ins Narrativ gerissen hat, sind nicht trickreich kaschiert, sondern mit einem voice-over markiert. Sluizer verliest mit unmerklichem Akzent (er ist gebürtiger Niederländer) und fast ohne Emphase die nicht realisierten Drehbuchpassagen, manchmal über eine ausklingende Spielfilmszene gelegt, manchmal über ein Still gesprochen. Ganz zu Beginn erläutert er dieses Konstruktionsprinzip. Das Bild dazu zeigt ihn Arm in Arm mit einem verkniffen dreinblickenden River Phoenix. "Dark Blood" ist – und bleibt – Sluizers Unvollendeter.

Buffy (Judy Davis) und Harry (Jonathan Pryce), zwei verheiratete Hollywoodmenschen mittleren Alters, durchqueren in einem alten Bentley die Wüste von Arizona. Der Wagen macht auf halber Strecke schlapp. Erst sind sie verzweifelt, dann aber ist in der Ferne ein flackerndes Licht auszumachen. Hier haust Boy (River Phoenix), ein verwitweter Einsiedler mit Navajo-Ahnschaft, der sich sofort erbötig macht, den beiden Gestrandeten zu helfen. Es dauert nicht lange bevor wir begreifen, dass Boy andere Absichten verfolgt. Phoenix spielt ihn als kindlich-unberechenbaren Außenseiter, vor dem man sich auch später, wenn die Lage weiter eskaliert ist, nur bedingt fürchten kann, zu verletzlich wirken noch seine – durchaus glaubwürdigen – Drohgebärden.

"Dark Blood" gehört zu jenen Spätwestern, in denen die historische Schuld am Aussterben der Stammeskulturen zu einer schmerzvollen Sekundärbearbeitung drängt. Schauplatz des Films ist neben Boys Hütte ein mit indigenen Devotionalien vollgestellter, höhlenartiger Bunker, den er in Erwartung der bevorstehenden Weltendämmerung errichtet hat. Später verschlägt es Harry und Buffy in eine verlassene Indianersiedlung. In der Wüste von Arizona und anderswo wurden in den 1950er Jahren Atombombentest durchgeführt, infolgedessen große Gebiete radioaktiv verstrahlt sind. Auch Boys Frau – sie starb an Krebs – war den Strahlen zum Opfer gefallen. "Dark Blood" moduliert das Genre des Western fürs postnukleare Zeitalter.



Was an dem Film in der vorliegenden Form fehlt, sind nicht nur Kleinigkeiten, sondern viele Schlüsselszenen. Bisweilen bezieht "Dark Blood" aus seinen Auslassungen eine große Suggestivkraft, oft aber fällt er an diesen Bruchstellen auch regelrecht auseinander. In einer solchen Szene finden sich Buffy und Boy alleine im Bunker wieder. Boy malt ihr seine Untergangsphantasie aus und beschwört sie, bei ihm im Bunker zu bleiben, um ein Weiterleben der Menschheit – lies: des Stammes – zu gewährleisten. Vernunftmäßig kann sie an diesem Antrag freilich nur den Wahn erkennen, aber das ändert nichts an ihrer aufrechten Rührung – und an ihrem seit der ersten Begegnung mit Boy (auch die eine klaffende Lücke) tobenden Begehren. Für die vielschichte Bearbeitung des zentralen Schuldzusammenhangs hängt sehr viel an dieser Szene, worin die Empathie der weißen Frau den Wahn des anteilig indigenen Mannes wie flüchtig auch immer als jene nicht direkt benennbare Wahrheit erkennt, von der "Dark Blood" eigentlich handelt. In Sluizers unbeteiligtem Vortrag, der an anderer Stelle genau richtig ist, teilt sich von diesem erschütternden Moment nur die gedankliche Abstraktion mit. So ist aus "Dark Blood" eine Filmsehnsucht eher als ein ästhetisches Ganzes geworden: ein Film, der fehlt.

Nikolaus Perneczky


"Dark Blood". Regie: George Sluizer. Mit River Phoenix, Judy Davis, Jonathan Pryce, Karen Black, George Aguilar u.a., Niederlande 2012, 86 Minuten (alle Vorführtermine)