Außer Atem: Das Berlinale Blog

Liebe und Entfremdung in einer Umarmung: Andrew Haighs '45 Years' (Wettbewerb)

Von Andrey Arnold
08.02.2015. Andrew Haigh erzählt in "45 Years" von den Gespenstern der Vergangenheit, die Charlotte Rampling nach 45 Jahren Ehe überfallen.


Im ostenglischen Flachland Norfolks geht es ruhig zu. Hier ist es weder trostlos noch aufregend, die Landschaft weder wild noch zahm, die Menschen freundlich, aber unaufdringlich: Ein idealer Ort, um in trauter Zweisamkeit den Lebensabend zu verbringen. Das Ehepaar Kate (Charlotte Rampling) und Geoff (Tom Courtenay, bekannt als jugendlicher Rebell aus Kernstücken des britischen Kitchen-Sink-Realismus) führt hier in einem lauschigen Häuschen ein bürgerlich behütetes Rentnerdasein, man hat sich gern und fühlt sich wohl. Kurz vor dem 45-jährigen Hochzeitstag (der vierzigste konnte wegen Geoffs Herzoperation nicht gefeiert werden) erreicht die beiden eine Nachricht: Der Leichnam von Geoffs ehemaliger deutscher Freundin Katya, die einst bei einem gemeinsamen Streifzug durch die Schweizer Alpen in einen Gletscherspalt stürzte, wurde gefunden und geborgen. Am Frühstückstisch berichtet der schon sehr zerbrechliche Mann seiner immer noch äußerst rüstigen Gattin von der Mitteilung, er ist sichtlich betroffen - mehr, als er sein sollte. Denn im Grunde wäre das ja eine Botschaft, die man in diesem Alter mit dem Morgenkaffee runterschluckt, oder nicht? Viel zu lange her, viel zu viel dazwischen, viel zu wenig Zeit, um diese noch mit Trauer zu verbringen. Aber die Vergangenheit driftet wie ein Nebelschleier ins Leben, dringt hinter die Wohnungstür, zwischen die Bettlaken, unter die Haut. Vielleicht, denkt sich Kate, war sie immer schon da.

Andrew Haighs dritter Langspielfilm nach "Greek Pete" und seinem (etwas zu) einfühlsamen Durchbruch, der gay romance "Weekend", konsolidiert seinen Status als bedachter Gestalter differenzierter Beziehungsporträts. In "45 Years" hat er zudem zwei hervorragende Schauspieler zur Verfügung, die sich hier in vielsagender Zurückhaltung üben. Sie bewegen sich durch geräumig kadrierte, körnige und relativ geschmacksneutrale Einstellungen, als hätten sie sich schon vor Ewigkeiten darin eingewohnt, und sprechen zueinander mit einer Vertrautheit, deren Ursprung gar nicht mehr auszuloten ist. Doch dieser liebevolle Gleichmut wird von Haigh sukzessive unterwandert, bis sich ein eigentümliches Unbehagen einstellt. Sein Film tritt zwar nie ein ins Reich des Horrorkinos, klopft aber doch an dessen Pforte - und das hallt wider, wie man weiß.

Erst äußert sich Geoffs seelische Malaise nur in charakterlichen Wandlungen: Er fängt wieder zu rauchen an, wird mürrisch und reizbar, bei dem Versuch, seine Leidenschaft für Kate mit Tanz und Wein zu revitalisieren, gehen ihm auf halber Strecke Luft und Lust aus. Doch dann verselbstständigt sich die Bedrückung, greift um sich und sickert durch die Dielen in die Textur des Films. Ständig hört man in irgendwelchen Nebenzimmern leise Klassik säuseln, dann scheint der Alpenwind unmerklich durch den Korridor zu wehen, und auf dem Dachboden findet Kate Dias, die sie in einer tollen Szene auf eine provisorische Leinwand projiziert: Ganz undeutlich ist darauf die tote Freundin zu erkennen, und mit jedem Klicken der Fernbedienung wird sie leibhaftiger, näher, präsenter.

Der Fokus verlagert sich im Laufe der Zeit auf Kate und ihren Umgang mit der immer größer werdenden Distanziertheit ihres Mannes. Immer wieder richtet Haigh die Kamera auf sie für ausgedehnte reaction shots. In der Nacht, wenn sie sich im Ehebett nach einem frustrierenden Gespräch von Geoff abwendet und das Licht ausdreht, erstarrt ihr Gesicht zu einer ahnungsvollen, schimmernden Totenmaske. Und es steht als großes Fragezeichen am Ende der letzten Sequenz, die im schönsten Einsatz der Platters-Nummer "Smoke Gets in Your Eyes" seit Hou Hsiao-Hsiens "Three Times" kulminiert. Das Bild ist keine richtige Pointe, die eine Erkenntnis gelebter Lügen preisgibt, auch wenn es kurz so wirken mag: Stattdessen liegen in ihm Liebe und Entfremdung in niederschmetternd inniger Umarmung.

Ob das Finale einen trifft oder nicht: "45 Years" ist jedenfalls keine billige Parabel über Last-Minute-Trauma-Bewältigung fürs Arthaus-Altersheim, sondern eine Verstörung: Frieden und Eintracht gibt es nur in der sogenannten Wirklichkeit, wo Gespenster keinen Zutritt haben.

Andrey Arnold

Andrew Haigh: "45 Years". Mit Charlotte Rampling, Tom Courtenay, Geraldine James, Dolly Wells, David Sibley, Sam Alexander, Richard Cunningham, Rufus Wright, Hannah Chalmers, Camille Ucan. Großbritannien 2015, 93 Minuten. (Vorführtermine)