Außer Atem: Das Berlinale Blog

Kleine Gesten: Indigenes Kino aus Lateinamerika

Von Thekla Dannenberg
09.02.2015. Die Native-Reihe der Berlinale zeigt in diesem Jahr indigenes Kino aus Lateinamerika. Schöne Sache. Aber zwei Filme aus der Reihe hätten auch in den Wettbewerb gepasst.


"Am Anfang war die Dunkelheit, und mit dem Wort kam das Licht", heißt es in der Kosmologie der Guarani-Indianer, zu denen sich der Bolivianer Juan Valdivia in "Yvy Maraey" auf eine filmische Reise begibt. Die Nähe zur biblischen Welterklärung zu erklären, ist frappant. Aber es klingt eigentlich auch nach gutem Kino.

Tatsächlich gehört "Yvy Maraey", der in der diesjährigen Native-Reihe zum indigenen Kino aus Lateinamerika gezeigt wird, zu den aufregendsten und schönsten Filmen des ganzes Festivals, dem Wettbewerbsbeitrag "Ixcanul" (unsere Kritik) etwa ist er intellektuell und künstlerisch weit überlegen. Valdivia gehört zu jenen Bolivianern europäischer Herkunft, die sich selbstkritisch und reflektiert mit der Tatsache konfrontieren, dass es in ihrem Land eigentlich eine indigene Mehrheit gibt, die seit der Präsidentschaft von Evo Morales dem Land ein anderes Selbstverständnis abfordert.

In "Yvy Maraey" begibt sich der Filmemacher André zusammen mit Yari, einem in La Paz lebenden Guarani, in dessen Heimatregion im Amazonasgebiet. Während der mehrere Tage dauernden Fahrt - es müssen gewaltige Höhenunterschiede überwunden werden - lässt sich André Mythen und Legenden und überhaupt das ganze Denken der Guarani erklären, das keinen Unterschied zum Fühlen kennt. André will wissen und verstehen, vor allem aber will er mit Yari diskutieren! Er will, dass sich ihm eine neue Welt öffnet, aber das heißt nicht, dass er seine Welt aufgeben möchte. André macht sich stark für die Schriftkultur, Bücher und Reflexion. Er streitet für eine medizinische Versorgung und erlebt, wie ihm ein Medizinmann einen entzündeten Blinddarm heilt. Wenn er Opernmusik hört, winken die Guarani ab: Musik für Schwule.



Ein weiter hervorragender Film ist Sebastian Depulvedas chilenischer Film "Las Niñas Quispe" von 2013, der auf einem wahren Fall aus den siebziger Jahren beruht. Er erzählt von drei Schwestern, Justa, Lucia und Luciana, die in absoluter Abgeschiedenheit im Hochland von Chile als Ziegenhirtinnen leben. Es sind wunderbar knorrige, herbe, maskuline Frauen in einer rauen, unfruchtbaren und unwirtlichen Gebirgslandschaft. Wenn sie sich mit ihren wettergegerbten Gesichtern und krummen Staturen einwandfrei in die karge Natur einpassen, dann nicht, weil sie sich besonders eins mit ihr fühlen, sondern weil die Kälte und der Wind ihnen im jahrzehntelangen Überlebenskampf jede Sanftheit ausgetrieben haben. Weil die letzten kümmerlichen Reste der Vegetation im Hochland geschützt werden müssen, sollen sie ihre Ziegenherde aufgeben.

Gezwungenermaßen denken sie über ihr Leben nach, ihr bisherige und ein mögliches neues. Der Film offenbart dabei, in Dialogen so karg wie die Landschaft, die ganze Verzweiflung, Einsamkeit und Bitterkeit ihres gelebten Lebens. Auch ihre Scheu vor den Menschen in der Stadt, die Angst verlacht zu werden, und den Schmerz darüber, niemals Liebe erfahren zu haben. Es ist ein unglaublich trauriger Film, der die ganz persönlichen Verletzungen und Beschädigungen der Frauen in ihrer ganzen Bitterkeit zeigt. Und wunderschön zugleich, wenn er die verhaltene Zuneigung und Sorge andeutet, die die Schwestern für sich hegen.



Ein dritter sehr schöner Film ist "Hamaca Paraguaya" von der Filmemacherin Paz Encina, der schon 2006 in Cannes gelaufen ist. Er erzählt von einem älteren Paar bäuerlicher Guarani, die über den Verlust ihres Sohnes hinwegkommen müssen. Der Sohn ist im berühmten "dummen Krieg" um die Ölfelder im Gran Chaco gestorben, in den sich Paraguay und Bolivien von British Petrol und Standard Oil haben treiben lassen. Im Film nun suchen sich die beiden Alten ein schönes schattiges Plätzchen für ihre Hängematte, weit weg vom kläffenden Hund, die Kamera ist schon lange da. Man hört das alltägliche Gemurmel eines alten Ehepaares: Was soll ich noch sagen? Da kann man nichts machen. Ob bald der Regen kommt? Doch die beiden reden nicht wirklich miteinander. Die Zwiesprache findet nur noch im Kopf der beiden statt, auch die mit dem gestorbenen Sohn. Und trotzdem scheint jeder vom anderen zu wissen, wie ihm zumute ist. Kleine Gesten genügen, die kleinen Handreichungen sind seit Jahrzehnten eingespielt. Es ist ein unglaublich zarter, anrührender Film über das Leben, den Regen und die Ehe und den Willen, dem Leben ein bisschen stilles, verhaltenes Glück abzutrotzen.



Ein Film dagegen, der eher unbewusst, jedoch in aller Deutlichkeit zeigt, wie ein filmischer Dialog nicht zustande kommt, ist Tiago Campos Torres" Dokumentation "O Mestre e O Divino". Der "Meister" ist in diesem Fall der Salesianer-Priester Adalbert Heide, der 1957 als Missionar ins brasilianische Amazonasgebiet von Mato Grosso gegangen ist. Mit einer gewissen Passion fürs technische Gerät ausgestattet, filmte der Priester von Anfang an die Xavante-Indianer, wobei ihm zum Teil grandiose Aufnahmen von nie gesehenen Ritualen gelangen, von Jagden und Zeremonien. Divino ist in diesem Fall ein bei den Missionaren aufgewachsener Xavante, der die Leidenschaft fürs Filmen mit seinem einstigen Lehrer teilt. Doch die Begegnung zwischen den beiden ist einfach nur schrecklich. Der Priester ist in seiner Arroganz und geheuchelten Menschenliebe einfach nur unsympathisch, Divino bringt zu wenig Selbstbewusstsein auf, um ihm offen Kritik entgegenzubringen, die er nur in einem kurzen Moment andeutet. Leider zeigt der Film nicht, welches Bild Divino dem Exotismus des Missionars entgegensetzt. Stattdessen ein hässliches Aneinandervorbeireden unter Ungleichen.

Ich kenne mich nicht aus in den Diskursen über indigenes Filmschaffen, über das Schaffen eigenständiger Wahrnehmungsbereiche, Ausgrenzung und Integration, Quoten und Ghettos. Eine eigene Berlinale-Sektion für ein Kino, das von einer kollektiven Weltsicht und einem Community-basierten Ansatz ausgeht, ist konzeptuell bestimmt sinnvoller als das Kulinarische Kino, aber vielleicht stimmt das auch nur theoretisch. Denn so viel kann man sagen: Juan Valdivias "Ivy Maraey" und Sebastian Depulvedas "Las Niñas Quispe" gehören ganz klar zum Besten, was das Festival in diesem Jahr zu bieten hat. Die beiden Filme hätten gut im Wettbewerb laufen können; Jayro Bustamantes dort gezeigtem "Ixcanul" sind sie haushoch überlegen. Aber sie ziehen ihre künstlerische Kraft aus der persönlichen Leistung der Beteiligten und sind immer dann besonders überzeugend, wenn sie einen Dialog ins Werk setzen oder Individuen ins Spannungsverhältnis zu Tradition und Kultur.

Der Kurzfilm "The Fighting Cholitas" zeigt übrigens zur Groteske gesteigert den Inbegriff dessen, was man sich unter "starken Frauen" vorzustellen hat, vor allem in Dieter Kosslicks Berlinale-Traumkombination mit "ethnischen Identitäten". Cholitas werden jene eigentlich ganz reizenden Aymara-Frauen in Bolivien genannt, die zu Petticoats und Stola Ballerinas und Bowlerhut tragen. Die Fighting Cholitas sind Wrestlerinnen, die, wie es sich bei diesem Spektakel gehört, in jede Kamera rufen, wie stark sie sind. Es ist dummes Show-Vergnügen. Dass den Bolivianern dafür nun auch das Geld aus der Tasche gezogen wird, nachdem der Zirkus bereits alle Weltgegenden abgeklappert hat, ist ja wohl eher ein Armutszeugnis denn ein Beispiel gelungener Emanzipation kräftiger Demoiselles. In seiner Treudoofheit gehört der Begriff starke Frauen einfach nur verboten.
Juan Carlos Valdivia: Yvy Maraey. Mit Juan Carlos Valdivia, Elio Ortiz
und Felipe Román. Bolivien/Mexiko/Norwegen 2013, 105 Minuten.
(Vorführtermine)

Sebastián Sepúlveda: Las Niñas Quispe. The Quispe Girls. Mit Digna Quispe, Catalina Saavedra und Francisca Gavilán. Chile/Frankreich/Argentinien 2013, 80 Minuten. (Vorführtermine)

Paz Encina: Hamaca Paraguaya. Mit Ramón Del Río und Georgina Genes. Argentinien/Frankreich/Niederlande/Paraguay/Spanien 2006, 78 Minuten. (Vorführtermine)

Tiago Campos Tôrres: O Mestre e O Divino - The master and Divino. Mit Adalbert Heide und Divino Tserewahú. Brasilien 2013, 85 Minuten. (Vorführtermine)

Mariam Jobrani: The Fighting Cholitas. Mit Yolanda La Amorosa
und Carmen Rosa. USA 2006, 20 Minuten.
(Vorführtermine)