10.02.2016. Die Berlinale führt uns dieses Jahr in die High Society Quebecs, in einen Sex-Streik in Chicago, an die Grenze Chinas zu Myanmar, ins swingende Hollywood der 50er, in deutsche Genrefilme der 70er und japanische Independentfilme der 80er. Ein Blick ins Programm und auf einen veritablen Koloss.
Anne Zohra Berrached, Denis Côté, Lav DiazAb morgen abend, wenn die Berlinale mit dem
Coen-Brother-Spektakel "Hail Caesar!" eröffnet, haben Besucher elf Tage lang die Wahl unter rund 430 Filme, die auf inzwischen zwölf Sektionen verteilt sind. Meine Berlinale strukturiere ich diesmal tatsächlich um eine einzige Filmvorführung herum:
"A Lullaby to the Sorrowful Mystery" des philippinischen Regisseurs
Lav Diaz dürfte mit
485 Minuten Laufzeit nicht nur locker der längste Film sein, der jemals im Wettbewerb eines A-Festivals programmiert wurde; auch innerhalb der Filmografie seines Regisseurs könnte es sich um ein Schlüsselwerk handeln. Schließlich geht es um die Hinrichtung des von ehemaligen Mitstreitern verratenen philippinischen
Befreiungskämpfers Andrés Bonifacio - und damit um eine Episode, die für einige Historiker und wohl auch für Diaz eine Art historische Erbsünde darstellt, die der philippinische Nationalstaat bis heute mit sich herumschleppt. Diaz nähert sich diesem Thema charakteristischerweise nicht frontal, sondern über den Umweg der Mutter des Ermordeten, die sich auf die Suche nach
seinem Leichnam begibt.
Ich muss gestehen, dass für mich der Rest des Wettbewerbs neben diesem Koloss fast notwendigerweise verblasst. Dabei gibt es durchaus eine Reihe weiterer Filme, von denen man einiges erwarten darf. Der Französin
Mia Hansen-Love zum Beispiel ist es bisher stets gelungen, auf den ersten Blick (Arthaus-)generische Stoffe mit einer eigensinnigen Sensibilität und vor allem mit einem großartigen Gespür für Schauspielerkörper zu bearbeiten. Ihr neuer Film
"L'avenir" behandelt, wenn man sich an die Inhaltsangabe hält, eine bildungsbürgerliche
Ehekrise. Der oft unterschätzte Autorenkinoveteran
André Techiné bringt dagegen einen Jugendfilm nach Berlin:
"Quand on a 17 ans" handelt von zwei 17-jährigen
Gymnasiasten und spielt in einem abgelegenen Bergdorf.
Mia Hansen-Love, André Techiné, Kiyoshi KurosawaBei vielen anderen Beiträgen kann man kaum vorhersagen, was einen erwartet. Der Iraner
Mani Haghighi hatte zuletzt mit erstaunlichen Filmen wie "Men at Work" oder "Modest Reception" auf sich aufmerksam gemacht. Sein neues Werk
"A Dragon Arrives!" hört sich zumindest ambitioniert an: Es geht um politische Attentate, Erdbeben und Wüstenfriedhöfe. Auch die neuen Arbeiten des Kanadiers
Denis Côté (dessen
"Boris sans Béatrice" in die
High Society Quebecs auseinander nimmt - ein ungewöhnliches Sujet für den sonst eher der working class verpflichteten Regisseur) und des Amerikaners
Jeff Nichols (der sein Science-Fiction-Drama
"Midnight Special" mit Starbesetzung nach Berlin bringt) dürften in jedem Fall einen Blick wert sein.
Daneben stehen unter anderem gleich zwei
Dokumentarfilme im Wettbewerb:
Gianfranco Rosis "Fuocoammare" ist einer von - wenig überraschend - sehr vielen Berlinalefilmen, die sich mit Flüchtlingen (in diesem Fall auf Lampedusa) beschäftigen,
Alex Gibneys "Zero Days" kommt einem Computervirus auf die Spur. Schon vorab darf man freilich leise Zweifel anmelden, ob ein talking-heads-Spezialist wie Gibney im Wettbewerb wirklich richtig aufgehoben ist. Ein großes Fragezeichen stellt
"24 Wochen" von
Anne Zohra Berrached dar, der einzige deutsche Beitrag:
Julia Jentsch spielt eine Kabarettistin, die während ihrer Schwangerschaft in eine Krise gerät.
Ulrike Oettinger, Wang Bing, Mani HaghighiDie anderen Sektionen sind, wie stets, vorab noch schwerer einschätzbar. Außer Konkurrenz, beziehungsweise in der besonders amorphen Reihe
Berlinale Spezial finden sich neue Filme durchaus illustrer Filmemacher wie
Spike Lee und Kiyoshi Kurosawa. Lees in den USA bereits breit diskutierter
"Chi-raq" (hier eine
ausführliche Besprechung in der
LA Review of Books, die viel Lust macht auf den Film) dürfte auch in Berlin von sich reden machen: Es geht um einen
Sex-Streik, mit dem eine Gruppe von Frauen in Chicago einen Bandenkrieg beenden wollen.
Kiyoshi Kurosawa wiederum gehört seit langem zu den interessantesten Regisseuren Japans. Lange hatte er sich auf Horrorfilme spezialisiert, zuletzt war er allerdings in ganz anderen Genres aktiv.
"Creepy" ist nun seine Rückkehr ins
Gruselkino; es geht um einen Detektiv, der sich in einen alten Fall stürzt und die Schrecken der Vergangenheit entfesselt.
In Panorama und Forum wirken die thematischen beziehungsweise regionalen Schwerpunkte (Panorama: Todesstrafe; Forum: arabischer Raum) wieder einmal recht willkürlich, beziehungsweise eher der Nachrichtenkonjunktur als cinephilem Spürsinn geschuldet. Im
Panorama darf man ansonsten zum Beispiel auf
"Remainder" gespannt sein: Der Videokünstler
Omer Fast hat für sein Spielfilmdebüt
Tom McCarthys gleichnamigen theoriegesättigten
Erinnerungsroman adaptiert. Erste Rezensionen stellen einen "cryptic trip into the Twilight Zone" in Aussicht. Zu einem Geheimtipp entwickeln könnte sich
"The Bacchus Lady" von
E-J-yong, einem koreanischen Regisseur mit Sinn für
komödiantische Exzesse der dynamischeren Art. Sein neuer Film dreht sich um ältere Frauen, die Süßgetränke und Sex an ebenfalls ältere Herren verkaufen.
Philip Scheffner, Omer Fast, Spike LeeIm Forum, das wohl auch in diesem Jahr einen Schwerpunkt unserer Berichterstattung bilden wird, springen gleich eine ganze Reihe von Filmen ins Auge, insbesondere auch im nicht-fiktionalen Bereich. Zum Beispiel
"Ta'ang", ein Film
Wang Bings, eines der interessantesten Dokumentaristen der letzten ein, zwei Jahrzehnte. Wangs Filme beschäftigen sich, in unnachahmlichen, minimalistisch-monumentalen Bildern, mit den
Tranformationsprozessen des modernen China. "Ta'ang" führt ihn an die Grenze zu Myanmar, wo Bürgerkriegsflüchtlinge ein behelfsmäßiges Leben führen. Gleich zwei neue Filme hat
Philip Scheffner im Programm:
"And-Ek Ghes" entstand im Anschluss an ein älteres Filmprojekt: Die
rumänische Familie, deren skandalöse Behandlung durch die deutsche Justiz "Revision" thematisiert hatte, lebt inzwischen in Berlin. Scheffner dreht allerdings nicht einfach ein Migrantenportrait, sondern übergibt die Kamera an seine Protagonisten.
"Havarie" dagegen stellt eine Intervention in die visuelle Kodierung der "Flüchtlingskrise" dar. Der Film geht von Amateurfilmaufnahmen eines Schiffsunglücks aus und stellt so etwas wie ein audiovisuelles Pendant zu
Merle Krögers gleichnamigem,
gefeiertem dokumentarischen
Kriminalroman dar.
Auch ansonsten kann man sich an eine Reihe alter Bekannter halten: mit dabei sind unter anderen
Eugene Green und
Guillaume Nicloux, in der Experimentalfilmsparte
Forum Expanded auch
Heinz Emigholz,
Volker Sattel und
Robert Beavers. Ebenfalls bereits Tradition haben die Premieren von
Dominik-Graf-Dokumentarfilmen.
"Verfluchte Liebe deutscher Film" beschäftigt sich, in einer interessanten Dissonanz mit der diesjährigen Retrospektive (siehe unten), mit den "schmutzigeren" Aspekten, sprich den
Genrefilmen der 70er und 80er Jahre des deutschen Films. Und wer es extremer mag, kommt im Forum ohnehin auf seine Kosten:
"Chamissos Schatten", der neue Film von
Ulrike Oettinger, schlägt Lav Diaz um ganze sechs Stunden Laufzeit.
Salomé Lamas, Jeff Nichols, E-J-yongSchließlich die historischen Programme. Das Forum präsentiert eine sehr interessant ausschauende
Reihe zum
japanischen Independentkino der 1980er: punkiges, hoch persönliches, oft aufregend zerfasertes Filmschaffen, damals im absoluten Off einer darbenden Filmindustrie entstanden; heute drehen viele der damaligen Protagonisten kommerzielles Kino auf hohem Produktionsniveau. Die
Hommage ehrt
Michael Ballhaus, die
Retrospektive widmet sich dem
Filmjahr 1966 in West- und Ostdeutschland, konzentriert sich dabei allerdings auf das damals langsam und vorsichtig auf der Bildfläche erscheinende Autorenkino und macht leider einen Bogen um jene Sumpfblumen der Filmgeschichte, denen, siehe oben, Dominik Graf huldigt.
Auch schade: Selbst die der Filmgeschichte gewidmeten Sektionen verabschieden sich langsam aber sicher vom klassischen
Zelluloidmaterial und beschreiten den bequemen Weg der Digitalisierung. Dass dieser Weg, der das Kino unweigerlich von seiner
historischen Materialität abschneidet, keineswegs alternativlos ist, beweisen zahlreiche über ganz Deutschland verteilte Kinematheken und Kinoinititativen tagaus tagein. Inzwischen bekommt man auf komplett fördergeldfreien Off-Kino-Festivals wie den
Hofbauerkongressen in Nürnberg fast mehr "Film als Film" zu sehen als auf millionenschweren A-Festivals - das ist aus meiner Sicht um einiges skandalöser als die Tatsache, dass der neue Almodovar wohl auch diesmal nicht in Berlin, sondern in Cannes Premiere feiern wird.