Außer Atem: Das Berlinale Blog

"Happy editing!" Ceylan Özgün Özçeliks "Kaygi" (Panorama)

Von Thekla Dannenberg
12.02.2017. Eine Cutterin schaltet das Handy ab und will lieber nicht bei den Nachrichten arbeiten. Ceylan Özçeliks Film ist ein klares Statement gegen das Schwinden der Wahrheit und der Erinnerung.


"Kaygi" ist in diesem Jahr der einzige türkische Film auf der Berlinale. Mit seinem kritischen Blick auf die aktuelle Lage im Land ist es genau der Film, den man sich aus der Türkei erwartet. Das spricht für ihn, aber nicht nur das.

Ceylan Özgün Özçelik erzählt von der jungen Hasret, die bei einem Istanbuler Fernsehsender als Cutterin arbeitet und nicht mehr ganz heimisch sein kann in der neuen Wirklichkeit. Wo gestern noch ein freier Blick herrschte, steht heute schon ein Hochhaus. Bei ihren Freunden eckt sie an, weil sie nichts auf Soziale Medien gibt. Mit ihren Kollegen überwirft sie sich, weil sie die Realität nicht so abbilden will, wie es die Chefredaktion anordnet. Als sie dann auch noch vom Dokumentarfilm in die neuerdings eher fiktive Sparte der Nachrichten versetzt wird, reicht es ihr "Happy editing!" wünscht sie ihren Kollegen nur noch und verabschiedet sich.

Hasret verschanzt sich in der alten Wohnung ihrer Familie, sie schaltet das Handy aus, zieht die Vorhänge zu und macht sich an ihr ganz eigenes Projekt der Montage: Sie will ihre an die Oberfläche drängenden Erinnerungen freilegen, die Fragmente ihres Gedächtnisses zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Woher stammt die vertraute Melodie, die sie im Park auf einmal hört? Wer ist der Hund an ihrer Seite?

Sie hört die alten Musikkassetten, liest die Notizhefte ihres Vaters und sucht auf den Familienfotos Spuren der verschütteten Vergangenheit. "Paranoid", findet das ihr Freund. Wenn sie nicht weiß, wonach sie suchen soll, wie will sie es dann finden? Aber Algi Eke macht mit ihrem feinen Spiel als Hasret klar, dass sie nicht verrückt ist. Ihre Wahrnehmung ist nur geschärft. Sie hört während der nächtlichen Albträume ihren Schweiß ausbrechen.

Ceylan Özçeliks Film ist ein klares Statement gegen das Schwinden der Wahrheit und der Erinnerung. In Istanbul werden ganze Stadtviertel niedergerissen und der Minister verkündet im Fernsehen: "Mit der neuen Mall werden Eure Kinder nicht mehr arbeitslos sein." Aus den Nachrichten-Clips wird der Sinn gekürzt. Und wen kümmern noch die Tweets von vorgestern? Aber gewichtiger noch ist, dass auch die Verbrechen aus dem Gedächtnis ebenso verdrängt werden wie aus den Gerichtsakten. Zum Beispiel die Ermordung von 37 alewitischen Künstlern bei einem Festival in Sivas im Jahr 1993.

Auf der Pressekonferenz sprach Ceylan Özçelik sehr wortreich über die Auslöschung der Wirklichkeit als Phänomen nicht nur in der Türkei, sondern weltweit. Die Schauspielerin Algi Eke hatte aber auch eine feinsinnige Bemerkung für den Festivalbetrieb parat: Sie erzählte von ihren Recherchen bei einem Istanbuler Nachrichtensender: Absolut elektrisierend seien die Energieströme gewesen, in denen sich die Journalisten bewegten. Aber sie könnte so niemals arbeiten, in so einer abgeschotteten Welt, in einer Plaza, ohne Fenster und ohne Blick nach draußen.

"Kaygi". Regie: Ceylan Özgün Özçelik. Mit Algi Eke und Özgür Çevik. Türkei 2017. 94 Minuten. (Alle Termine)