Außer Atem: Das Berlinale Blog

Hemmungslose Hagiografie: Die Berlinale-Presseschau vom 15.02.2017

15.02.2017. Endlich ein Favorit: Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" fliegen sämtliche Kritikerherzen zu. Bei Andres Veiels "Beuys"-Porträt herrscht unterdessen schon wieder Skepsis. Die Presseschau zum Mittwoch.


Da ist er ja, der große Bärenfavorit des Festivals: Mit seiner auf klassischem Filmmaterial gedrehten und gezeigten Flüchlingsgeschichte "Die andere Seite der Hoffung" erobert Aki Kaurismäki die Herzen der Kritiker im Sturm. "Der Entmenschlichung von Geflüchten durch die Rhetorik der Rechten, dem Betroffenheitskitsch der Linken setzt Kaurismäki einen schlichten, aber wirkungsvollen Humanismus entgegen", schreibt Thomas Groh im Perlentaucher. "Es zählt der einzelne Mensch und dessen Erfahrungen. In 'Die andere Seite der Hoffnung' blicken wir ihm auf Augenhöhe ins Gesicht." Lukas Stern von critic.de sieht in Kaurismäkis Film einen "Aufruf zur Deplatzierung". Dominik Kamalzadeh vom Standard bezeugt "einen der stärksten Berlinale-Wettbewerbsbeiträge bisher". Auch taz-Kritiker Andreas Fanizadeh schwärmt: Das "ist der richtige Film zur richtigen Zeit." Und Barbara Möller von der Welt findet ihn "richtig großartig". Weitere Besprechungen auf Kinozeit, im Tagesspiegel und in der FAZ.

Ein Goldener Bär für Kaurismäki also? Mitnichten, glossiert dazu Jens Balzer in der Berliner Zeitung, der seinen aus langjähriger Festivalerfahrung gewonnenen Berlinale-Algorithmus über den Wettbewerb laufen lässt und dabei zu dem Ergebnis kommt, dass sich schon jetzt Hong Sang-Soo fürs Siegertreppchen warmlaufen darf. Dessen "On the Beach at Night Alone" läuft morgen. Wir werden sehen!



Andres Veiels
aus Archivmaterial montierter Dokumentarfilm über Joseph Beuys ist "hemmungslose Hagiografie", schreibt Diederich Diederichsen sanft angewidert in der taz: "Beuys wird hier eher nostalgisch von der provinziellen Öffentlichkeit der alten BRD her konstruiert, nicht von einer globalen Kunst. ... Was ganz fehlt, ist der 'hässliche Beuys': der Anthroposoph, Esoteriker, Spitzenkandidat der AUD und Erfinder seiner biografischen Legenden. Dabei wäre eine kritische Würdigung genau das, was einer zwischen religiöser Verehrung, Dämonisierung und komplettem Desinteresse in falschen Alternativen festgefahrenen Beuys-Rezeption gut täte." Besser fand den Film Philipp Schwarz von critic.de: Veiel komme dem Künstler "ganz nah - indem er ihn selbst wie eine formbare Plastik behandelt." In der Welt würdigt Marcus Woeller immerhin die athletische Leistung des Regisseurs, aus Tausenden Fotos und mehreren hundert Stunden Videomaterial diese Collage erstellt zu haben. Veiel habe den Film "mit radikaler Entschiedenheit komponiert", schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel: "Das Arrangement der Ausschnitte und ihre formale Montage aber sprühen vor Intelligenz." Und Anke Westphal von der Berliner Zeitung wird sehr wehmütig: "Was für ein Feuer loderte damals doch in den ästhetischen und politischen Debatten!" Im Perlentaucher hätte sich Anja Seeliger gewünscht, Veiel hätte die politischen Theorien von Beuys zur Konkretisierung einfach mal mit dem heutigen Urheberrecht kurzgeschlossen. Für den Tagesspiegel hat sich Christiane Peitz mit Veiel unterhalten.


Selbstkritisch: Julian Radlmaier als bürgerlicher Hund

Weiteres: Für die taz spricht Barbara Wurm mit Julian Radlmaier, dessen "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" - eigener Aussage nach "vielleicht ein burlesker Essayfilm" - in der Perspektive Deutsches Kino läuft. Claudia Schwartz hat für die NZZ die Filme "Insyriated" und den einzigen türkischen Festivalbeitrag "Kaygi" gesehen. Susanne Ostwald verteidigt in der NZZ das Unterhaltsame vor seinen Kritikern. Für die Welt sichtet Carla Baum Filme aus der Perspektive Deutsches Kino. Rüdiger Suchsland liest auf Artechock währenddessen viel lieber Heike-Melba Fendels Berlinale-Roman "Zehn Tage im Februar" (hier äußert sich die Autorin dazu).

Außerdem besprochen werden unter anderem aus dem Wettbewerb Sabus "Mr Long" (taz, Tagesspiegel, unsere Kritik), aus dem Forum Nicolas Wackerbarths "Casting" (taz, kino-zeit.de, unsere Kritik hier) und aus dem Panorama der spanische Podemos-Film "(Política, manual de instrucciones" (FAZ-Blog). Weiteres und mehr über den Tag verteilt in den Berlinale-Schwerpunkten der berichterstattenden Zeitungen und Magazine, namentlich FAZ, taz,Tagesspiegel, critic.de, kino-zeit.de, Jugend ohne Film, epdFilm, Filmdienst, Artechock und Negativ. Unverzichtbar für schnelle Updates: Der Kritikerspiegel von critic.de und die SMS der Cargo-Kritiker. Unser Berlinaleblog mit zahlreichen weiteren Kritiken und Updates finden Sie hier.

Bei der "Woche der Kritik" gibt es unterdessen einen Mitschnitt von Frédéric Jaegers Keynote und Nino Klinglers Vortrag zur Mini-Konferenz "Lost in Politics":