Außer Atem: Das Berlinale Blog

Wer leidet mehr? Und wer hat die Papiere? Christian Petzolds "Transit" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
17.02.2018.


Wann und warum ist Anna Seghers Roman "Transit" eigentlich in der Versenkung verschwunden? Der Roman, Inbegriff der antifaschistischen Literatur, erzählt von den deutschen Exilanten, die auf der Flucht vor den Nazis in Marseille strandeten. Seghers schrieb ihn nach ihrer eigenen Flucht in den vierziger Jahren im Exil in Mexiko und setzte sich dabei mit der ganzen Souveränität echter Erfahrung über alle Dogmen des realistischen Erzählens hinweg.

Um aus Europa herauszukommen, brauchen die Flüchtenden Einreisevisa, Transit-Visa und Ausreisevisa. Eines ist vom anderen abhängig, und wenn das letzte da ist, wird das erste schon wieder ungültig. Nach Marseille darf nur kommen, wer nicht bleiben will. "Welch einen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben." Woche um Woche, Monat um Monat verschiebt sich ihre Abreise, sie warten auf Konsulaten, in den Bars am Alten Hafen und in den Cafés auf der Canebière. "Alles auf der Flucht war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder gar unser ganzes Leben."

Christian Petzold verfilmt den Roman frei und sehr gerafft, anders könnte es nicht gehen. Er tut es sehr klug. Er aktualisiert den Stoff nicht, er zeigt ihn in den Bildern der Gegenwart. Man spürt das befreiende Moment dieser Entscheidung gleich in den ersten Szene, die einen voll hineinwirft in das Paris von heute, in dem hochgerüstete Einsatzkommandos durch die Straßen jagen, während Georg von einem Kameraden mit einem wichtigen Brief zum Schriftsteller Weidel geschickt wird. Doch im Hotel findet er nur noch die wenigen Habseligkeiten des Dichters. Weidel hat sich umgebracht. Georg nimmt die Papiere des Toten an sich, zwei Visa und eine Schiffspassage nach Mexiko, und reist mit ihnen nach Marseille. Unterwegs stirbt ein weiterer Genosse, Georg bindet sich an dessen Familie, den Jungen Driss und seine taubstumme Mutter. Weniger um Halt oder Trost zu geben als welchen zu bekommen. Frank Rogowski spielt diesen ungreifbaren Mann mit einer hypnotisierenden Unergründlichkeit.



Und dann erscheint Marie. Auf der Straße. Im Café. In der Pizzeria. Ein Leuchten. Ein Versprechen Schönheit, Liebe und Glück. Flüchtig. Sie sucht und findet nicht. Sie sucht ihren Mann, ihr Leben, ihre Zukunft. Sie ist die Frau des toten Schriftstellers Weidel. Sie hat ihn verlassen, lebt jetzt mit dem Kinderarzt Richard und sinkt in die Arme Georgs. Sie will nicht bleiben und nicht gehen. Sie kann ihre Vergangenheit nicht hinter sich lassen und sich nicht für die Zukunft entscheiden. Wer leidet mehr: Wer verlassen hat oder wer verlassen wurde? Mit dem Verlassenen sind das Mitleid und die traurigen Lieder. Und wer hat Papiere?

Nichts ist düster in diesem Film, alles strahlt: die sonnendurchflutete Stadt, die brillanten Bilder in Cinemascope-Format, die uns immer nahen Gesichter, die Körper. Selbst die Momente des Todes, des Abschieds und der Verzweiflung sind voller Licht.

In Seghers Roman ist Georg der ungreifbare Ich-Erzähler mit den unklaren Identitäten und den falschen Papieren. Er findet zu sich durch das solidarische Handeln. Petzold lässt die Geschichte in der dritte Person erzählen, als Voice-Over von Matthias Brandt, dem Wirt der Pizzeria. Marseille ist eine Hafenstadt, die von Geschichten lebt. Dieser Wirt hört zu, wenn die Unglückseligen von ihren Erfolgen auf der Präfektur, ihrem Scheitern auf dem Konsulat erzählen. Die Geschichte kommt dadurch nicht zu einem Ende, sondern wird weitergetragen, über Ort und Zeit hinweg. Bei Petzold kommt Georg nicht an, er bleibt auf ewig im Transit: zwischen dem Gestern und dem Morgen, zwischen zwei Lieben, zwischen dem Ankommen, dem Weiter und dem Zurück. Ein wunderbarer dunkel leuchtender Film, voller Erinnerung und Gegenwart.

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Auf der Pressekonferenz besang Christian Petzold sehr charmant die "unfassbar schöne Traurigkeit" seines Hauptdarsteller Frank Rohowski und verglich ihn mit Jean-Paul Belmondo. Zu Paula Beer, die die Marie spielt, sagte er, dass Anmut von Intelligenz komme. Überhaupt war Petzold bestens aufgelegt. Natürlich sei sein Film ein Kommentar zur heutigen Lage, es gehe doch nicht, dass wir immer dann das Asylrecht beschneiden, wenn Flüchtlinge es nötig haben. Und wenn er auf das Buch von Anna Seghers zurückgreife, dann ist nicht die Frage, was die Geschichte uns heute bedeutet, sondern was wir vor der Historie bedeuten.

Und dann die Sache mit dem Offenen Brief, in dem die berühmten 79 Regisseure eine Entschlackung der Berlinale und eine internationale Findungskommission für die Nachfolge von Dieter Kosslick forderten. Ja, das Festival muss sich weiter öffnen, er denke ja manchmal: "Mann ist das 'ne Ortsgruppe!" Und ja, es muss sich überlegen, was ein Festival sein soll und wie es sich von einem Ramschladen wie Netflix unterscheiden wolle. Denn an schöne Urlaubsorte wie Cannes und Venedig kommen die Leute gern, aber im Februar in Berlin sei es kalt, der Potsdamer Platz Scheiße, da müsse man sich was überlegen. Und nein, das war nicht gegen Kosslick gerichtet: "Dass das immer personifiziert werden muss und auf den Dieter konzentriert - das geht einem auf den Sack."

Transit. Regie: Christian Petzold. Mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Barbara Auer und Matthias Brandt. Deutschland / Frankreich 2018. 101 Minuten (Vorführtermine)