Außer Atem: Das Berlinale Blog

Man ist schließlich Mensch: Thomas Stubers "In den Gängen" (Wettbewerb)

Von Anja Seeliger
23.02.2018.


Das erste Bild ist eine Landstraße, Morgendämmerung, die Laternen sind noch an, ein paar kahle Bäume zeichnen sich am Rand gegen den Himmel ab, hier und da mal ein Auto. Dann setzt die Musik ein und während die Kamera in den Großmarkt fährt und durch die Gänge schwebt, spielt das Orchester den Donauwalzer. Es ist ein wunderbarer Anfang. Die Lichter gehen an, Gabelstapler fahren hin und her. Und das Publikum schwebt mit.

Der neue Tag ist der erste Arbeitstag von Christian, einem schweigsamen jungen Mann mit Hasenscharte, Tattoos und einem nicht allzu schnellen Verstand. Franz Rogowski, der hier, nach Christian Petzolds "Transit", seine zweite Hauptrolle in diesem Wettbewerb spielt, lässt seine Figur ganz wunderbar in der Schwebe. Man weiß nie genau, ob dieser Christian ein bisschen zurückgeblieben ist oder einfach ein ganz Stiller. Zugeteilt wird er Bruno, der für die Getränkekisten zuständig ist. Der scheint erst mal ablehnend, aber das ist nur ein kleiner Scherz. Bruno ist ein Guter, der sich um den Neuen kümmert. Die anderen sind auch Gute, die dem Neuen die Eingewöhnung erleichtern. Selbst der Chef ist nett und gibt praktische Ratschläge. Ein bisschen wie bei Lubitschs Matuschek & Co., nur eben im Leipziger Großmarkt.

Der stille Christian kommt mit allen gut klar, am besten mit der Kollegin Marion (Sandra Hüller), die ihn gern auf den Arm nimmt. Klar verliebt er sich, aber erst mal macht er einen Lehrgang zum Gabelstaplerfahrer. Auch hier ist der Lehrer ein feiner Kerl, der seine Filme über die Risiken beim unsachgemäßen Gabelstaplerfahren mit schönen Splatterszenen aufgemöbelt hat. Da bleibt kein Auge trocken. Bruno übt mit ihm die Kisten von ganz oben zu holen und der Lehrer drückt bei der Abschlussprüfung bei einem kleinen Wackler ein Auge zu. Christian, etwas nervös, weil die ganze Belegschaft zuguckt, schafft die Prüfung und alle klatschen. Alles gut hier.

Regisseur Thomas Stuber unterlegt die Arbeit, das Lernen, die Annäherungen an die Kollegen immer wieder mit Musik, mit Strauß, Bach, einem Blues, da geht viel ohne Worte. Die Kamera lässt einen gelegentlich von oben auf diese neonbeleuchtete Welt blicken, die schachbrettartig durch Gänge und kleine, nach oben offene Büros zerteilt wird. Alles hat seine Ordnung, kleine Regelbrüche inklusive. Man ist schließlich Mensch.

Aber dann ziehen natürlich erste Wolken auf. Marion, die gern mit Christian scherzt, entzieht sie sich ihm plötzlich. Dann tauchen seine Kumpels von früher plötzlich im Großmarkt auf, tätowiert bis unter die Nasenflügel, Kippen und Wodkaflaschen schwenkend. Man kennt das schon, Clemens Meyer schrieb - zusammen mit Thomas Stuber - das Drehbuch. Als Marion krank wird, hört Christian von Bruno, dass sie verheiratet ist, mit dem Mann soll sie es schwer haben. Ob er sie schlägt? Christian macht sich auf, das zu erkunden, wartet, bis der Mann weg ist und schleicht sich dann ins Haus. Das geht gehörig schief, Marion, die in der Badewanne liegt, erschreckt sich nur. Christian macht, dass er weg kommt.

An dieser Stelle, nach einer guten Stunde, endet der Film. Ab hier gehts nicht weiter. Aus Christians Geschichte wird plötzlich die von Bruno. Wiedervereinigung, Abwicklung, Einsamkeit - die ganze Osttristesse, die jede Möglichkeit einer Veränderung nicht einfach ausschließt, sondern gar nicht erst zulässt. Andererseits: Ein Blick in Brunos Wohnzimmer rechtfertigt jede Depression. In dieser geballten Scheußlichkeit muss selbst die Mücken der Schlag treffen.

Mit dem Film versinkt auch der Zuschauer in Depressionen. Die Geschichte von Christian und Marion findet kein Ende, die von Bruno hatte keinen Anfang. Das hat keiner der drei verdient. Wir Zuschauer auch nicht.

In den Gängen. Regie: Thomas Struber. Mit Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth u.a. Deutschland 2018, 125 Minuten. (Vorführtermine)