Außer Atem: Das Berlinale Blog

Der Mann mit dem zweiten Gesicht: "Twarz" von Malgorzata Szumowska (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
23.02.2018.


Dass Malgorzata Szumowska am Ende für Jacek kein ganz überzeugendes Bild findet, kann man ihr nicht übel nehmen. Ihr Programm ist ambitioniert, und sehr vieles davon löst sie ein. Vielleicht wäre gerade ein zu zeichenhaftes Bild noch weniger überzeugend. Am Ende steckt Jacek also seinen Kopf in die Jacke und tanzt allein auf einem Feld herum. Von weitem sieht er aus wie ein kopfloser Mann.

Um diesen Kopf geht es in dem Film und um einen zweiten Kopf, an dem er arbeitet, als er den Unfall hat: Das ist der Kopf Jesu, Teil einer grotesken Riesenstatue. Jesus sieht am Ende aus wie ein Verkehrspolizist, der den Verkehr von rechts heranwinken will.

Dieser Jesus, der im Laufe des Films heranwächst, soll der größte Jesus der Welt werden, sagt der Pastor, größer als der Jesus vom Zuckerhut. Von Polen soll auch dereinst die Kunde ausgehen, dass er wiedergekehrt sei, heißt es woanders im Film. Das stehe so in der Schrift. Er soll in Richtung der schwarzen Madonna von Tschenstochau blicken, aber na gut, das ist eine andere Geschichte, die der Bischof später regeln wird.

Jacek ist ein rauer, aber sympathischer Rüpel, Außenseiter in seinem polnischen Dorf, das in landschaftlich reizvoller Waldschratigkeit irgendwo hinter der Fähre liegt. Die Männer in der Familie machen grobe Späße, an denen Jacek übrigens kaum teilnimmt, über die er nur gutmütig lacht. Sein Ding ist Heavy Metal, und es ist interessant, wie Malgorzata Szumowska die kräftig abgehende Musik in Momenten wie ein mächtiges Gegengift in die unbehagliche Idylle spritzt.

Kirche und Traditionen bedrücken die ganze Landschaft und all ihre Menschen. Jacek hätte das Zeug, nach England zu gehen. Seine Schwester würde ihn unterstützen. Aber er schafft es nicht. Die Bindekräfte sind zu groß.

Bei der Arbeit an der Halskrause zum Jesuskopf stützt Jacek vom Gerüst. Sein Gesicht ist ab - das wird übrigens nicht gezeigt, so wenig wie der Mord am Weihnachtsschwein, dessen Panikschreie man hört -, und Jacek wird der erste Pole sein, der per Transplantation ein neues Gesicht erhält.

Burleske Szenen, die zuweilen an Fellini erinnern, zeigen, wie der Mann mit dem zweiten Gesicht zum Medienstar wird, aber auch, wie das Interesse wieder erlahmt: Die Medikamente gegen die Immunabstoßung muss er selber zahlen, und am Ende kommen bei der Solidaritätskollekte in der Dorfkirche gerade mal 20 Zloty zusammen, die sich der ratlose Pastor in die Hosentasche steckt. So übel sieht Jacek nach der OP übrigens gar nicht aus, so ein bisschen wie ein grob gefügter Elvis vom Land. Natürlich ist er nicht mehr der alte Heavy-Metal-Jesus mit wehender Matte, den auch Dagmara, seine Verlobte, so appetitlich fand. Auch artikulieren kann er mit den fremden Lippen nicht mehr so richtig. Ratlos stehen sie sich an der Brücke gegenüber. Sie versteht nicht, was er sagt. Nur ihre Fingernägel fluoreszieren.

Dagmara kann nicht anknüpfen - wer soll es ihr verdenken? Eine Einstellung bei einem Dorffest im Sommer fokussiert zunächst auf ihn, dann auf sie, dann wieder auf ihn, mit seinem alten Gesicht. Sie lächelt ihn an, wie es in diesem Dorf nur Dagmara kann.

Aber es ist ein Trugbild. Dagmara war übrigens zum Priester gegangen, hatte gebeichtet, dass sie kein Verhältnis mehr zu Jacek findet, dass sie auch mit anderen ausgeht. Der Priester, der generell auf die Fragen der Leute nur schematische Antworten liefert, hat nur eine Sorge: "Bist du keusch?"

Jacek bleibt übrigens der sympathische Rüpel, als den man ihn anfangs kennenlernte. Zwei Außenseiter in der Familie, der Großvater und seine großartige Schwester (wenn Agnieszka Podsiadlik nicht den Preis als beste Nebendarstellerin bekommt, stimmt etwas nicht mit dieser Berlinale) unterstützen ihn durch Freundlichkeit und tatkräfige Hilfe, darum ist der Schluss, so unentschieden er wirkt, nicht wehleidig oder bloß pessimistisch.

Dieser mit starkem Humor gesalzene, aber im Grunde ernste und intelligente Film ist in großen Passagen in Tilt-Shift-Technik gedreht, einem Miniaturisierungeffekt, der die Welt aussehen lässt wie aus einem Modellbaukasten. Der Effekt schafft die falsche Idylle, die der Film entlarvt. Mehr noch aber ist er eine Fokussierung auf einen, der nicht mehr eins ist mit sich selbst. Natürlich steht er für ein Land, das seinen Wandel nicht verkraftet und seine Selbstliebe bei einem Jesus sucht, der so oder so in die falsche Richtung blickt.

Twarz. Regie: Małgorzata Szumowska. Mit Mateusz Kościukiewicz, Agnieszka Podsiadlik, Małgorzata Gorol, Roman Gancarczyk u.a. Polen 2018, 91 Minuten. (Vorführtermine)