Außer Atem: Das Berlinale Blog

Dahinplätscherndes Pseudo-Diversity-Getalke - der Berlinale-Freitag im Rückblick

Von Thomas Groh
24.02.2018. Uneins ist sich die Kritk, ob man von Thomas Stubers Großmarkt-Liebesgeschichte "In den Gängen" nun Depressionen kriegt oder ein Kinoglück erlebt. Noch kontroverser diskutiert wird Adina Pintilies "Touch Me Not", der konfrontativ von sexuellen Nöten berichtet: Konkret feministisch oder eher doch keine Kunst? Breiten Zuspuch erntet hingegen Małgorzata Szumowskas polnische Metal-Fabel "Twarz". Dies und mehr: Im Pressespiegel.


Franz Rogowski und Sandra Hüller verlieben sich als Angestellte in einem Großmarkt: Mit Thomas Stubers nach einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer enstandenem Film "In den Gängen" feierte gestern der vierte deutsche Beitrag im Wettbewerb Weltpremiere. Einig ist sich die Kritik über diesen Film allerdings nicht: Fabian Tietke von der taz sah in erster Linie einen "Schauspielerfilm", lobt die tolle "Ensembleleistung" und ist auch ansonsten hellauf begeistert: Dies ist "ein ruhiger Film über Arbeitswelten und die Würde gemeinsamer Arbeit mit Dialogen, denen die Geschwätzigkeit deutscher Drehbücher abgeht. Ein Film, nach dem man eine Weihnachtsfeier mit Schlagermusik mit anderen Augen sieht. Thomas Stubers Film ist ein kleines Meisterwerk." Auch Frank Junghänel von der Berliner Zeitung singt Hymnen auf diesen Film: "Diesen Mut, diese erzählerische Kraft und diese filmische Vision muss man erst mal haben, eine Liebesgeschichte fast ausschließlich in der von kaltem Neonlicht beleuchteten Welt eines Großmarktes anzusiedeln." Dem Film gelinge "etwas, das man auch die Beseelung des Unbeseelbaren nennen könnte", meint Kersten Decker im Tagesspiegel.

Anderen blieb das Glück im Großmarkt indessen verschlossen: "Mit dem Film versinkt auch der Zuschauer in Depressionen", stöhnt Anja Seeliger im Perlentaucher. Auch Andreas Kilb in der FAZ winkt ab: "Solides deutsches Kinokunsthandwerk, sauber konstruiert, makellos gestapelt, mit Liebeszwischenspiel und tragischem Schluss. Und schrecklich brav." Für den Tagesspiegel hat Andreas Busche mit Sandra Hüller gesprochen.



Ziemlich stark findet Barbara Wurm Adina Pintilies zwischen Dokumentar- und Spielfilm changierendes Experiment "Touch Me Not", in dem es sehr konkret um sexuelle Nöte und Verklemmungen geht: "Transgressionsprojekt, das im konkreten Sinn feministisch ist", schreibt sie in der taz, wobei Pintilie es glückt, den Film nie in "Exploitation" abgleiten zu lassen: "Nichts wird karikiert, persifliert. Pintilie verlässt mehrfach den geschützten Machtraum, aus dem heraus operiert wird beim Kino; ihn führt sie vor: Ein echtes Statement im dahinplätschernden Pseudo-Diversity-Getalke der Berlinale. Vertrauen geben ihr die Akteure, die um ihre Imperfektion wissen. Was ihr Begehren nicht ausschließt." Kerstin Decker vom Tagesspiegel fand den Film indessen ziemlich übergriffig - zumindest im Hinblick auf das Publikum: Der Film sei "eine Geiselnahme, die Geisel ist das Publikum. Dieser Film gehört nicht in den Wettbewerb, denn ihm fehlt das Wesentliche der Kunst: Distanz." Auch Perlentaucherin Thekla Dannenberg fand "die ungeheure Nähe dieser Körper ohne jede Sinnlichkeit" schwer erträglich.



Thrash Metal
in der polnischen Provinz, ein Unfall "im Schlund des riesigen Jesus": taz-Kritiker Michael Meyns sieht in Małgorzata Szumowskas Wettbewerbsbeitrag "Twarz" eine Allegorie auf die soziopolitische Gegenwart Polens: "In losen Szenen zeichnet Szumowska eine oberflächliche Gesellschaft, besessen vom ungezügelten Konsumkapitalismus, der ihr so lange verwehrt war, geprägt vom Katholizismus, doch blind für die zunehmende Ausländerfeindlichkeit, die jede beliebige Randgruppe trifft." Für Perlentaucher Thierry Chervel handelt sich hier um einen späten Bärenfavoriten im Festival: "Kirche und Traditionen bedrücken die ganze Landschaft und all ihre Menschen. ... Dieser mit starkem Humor gesalzene, aber im Grunde ernste und intelligente Film ist in großen Passagen in Tilt-Shift-Technik gedreht, einem Miniaturisierungeffekt, der die Welt aussehen lässt wie aus einem Modellbaukasten. Der Effekt schafft die falsche Idylle, die der Film entlarvt. Mehr noch aber ist er eine Fokussierung auf einen, der nicht mehr eins ist mit sich selbst. Natürlich steht er für ein Land, das seinen Wandel nicht verkraftet und seine Selbstliebe bei einem Jesus sucht, der so oder so in die falsche Richtung blickt." Auch bei Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche findet der Film Anklang: Stark findet er, wie Szumowska "den Irrsinn, der sich momentan in Polen abspielt, mit souveräner Beiläufigkeit vorführt."

Julia Dettke resümiert in der FAZ die Perspektive Deutsches Kino, wo sich der hiesige Filmnachwuchs präsentiert: "Die interessantesten der vierzehn Filme verlassen Kinokonventionen und geschlossene Räume, suchen jenseits von streberhafter Ernsthaftigkeit und bemühtem Klamauk nach neuen Geschichten und Erzählweisen und finden sie in der Nähe zum Theater und indem sie vom Ausbrechen und Weggehen erzählen, von der Suche nach Nicht-Zielen, Bewegungen aus dem Zentrum hin zu den Rändern." Insbesondere Philipp Eichholtz' "Rückenwind von vorn" und Julian Pörksen "Whatever happens next" hebt sie positiv hervor.

Weitere Artikel: Viktoria Morasch und Amna Franzke haben für die taz die Berlinale-Debatten über #MeToo besucht. Auf der ersten Seite der FAZ ist sich Verena Lueken sicher, dass diese auch abseits der Berlinale geführten Debatten die Industrie nachhaltig verändern werden. Andreas Busche spricht im Tagesspiegel mit Ursula Meier über deren Film "Shock Waves - Diary of my Mind". Tim Caspar Boehme spricht in der taz mit Babak Jalali über dessen im Panorama gezeigten Film "Land". Wenke Husmann resümiert auf ZeitOnline die Filme über Flucht. Für FR-Kritiker Daniel Kothenschulte war die dem Weimarer Kino gewidmete Retrospektive das "Schönste" an diesem Festival. Ebendort vermisste allerdings Freitag-Kritiker Dirk Alt die dokumentarischen Formen, die kaum repräsentiert waren. Immerhin kann er ankündigen, dass auf diesem Portal am 22. März unter anderem rund 50 dokumentarische Filme aus der Zeit online freigeschaltet werden. Ewald André Duponts 1923 entstandener und auf der Berlinale als Restauration präsentierter Film "Das andere Gesetz" ist im übrigen schon im Stummfilmportal von Arte abrufbar. Susanne Ostwald spricht in der NZZ mit dem Luzerner Animationsfilmer Lorenz Wunderle, dessen Film "Coyote" im Kurzfilmprogramm des Festivals läuft.

Besprochen werden Guy Maddins Hitchcock-Hommage "Green Fog" (Tagesspiegel), Dieudo Hamadis "Kinshasa Makambo" (Tagesspiegel), Ioana Uricarus "Lemonade" (Tagesspiegel), Kazuhiro Sôdas Dokumentarfilm "Minatomachi" (taz), Qaushiq Mukherjees "Garbage" (Tagesspiegel), der Dokumentarfilm "Songwriter" über Popstar Ed Sheeran (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Aminatou Echards "Djamilia" (taz, Perlentaucher) und Serge Bozons "Madame Hyde" mit Isabelle Huppert, der bei der von Filmkritikern veranstalteten Woche der Kritik lief (Tagesspiegel). Deren Debattten sind im übrigen auf Youtube in dieser (noch zu vervollständigenden) Playlist dokumentiert. Hier zum Beispiel sprechen Ekkehard Knörer, Eva Löbau, Serge Bozon und Olivier Godin über Humor und Fragilität: